Besucherdiplomatie: Präsident Erdogan.

Außer Spesen, waren ja nur rund 10 Mio. Euro, nichts gewesen? So der Blick durch deutsche Zeitungen: „Staatsbesuch der Schande“, „falsches Signal“, „hat nichts gebracht“. Warum dann der Staatsbesuch?

Wem die deutsche Presse bei der Antwort auf diese Frage nicht weiterhilft, der mag sich sein Urteil selbst bilden.

Der einflussreiche Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), meint, der Verlauf des Staatsbesuches habe gezeigt, dass dessen Zeitpunkt „deutlich zu früh“ angesetzt war. *1) Ist für Röttgen ein Staatsbesuche dann zeitlich passend, wenn man sich vor lauter Einverständnis nur auf die Schulter klopft?

Bei allem Respekt, ich meine, dass es im Gegenteil höchste Zeit war, Staatspräsident Erdogan zu einem ersten Staatsbesuch einzuladen. Bundespräsident Steinmeier hat damit klug und im Interesse Deutschlands gehandelt. Gerade wegen der fundamentalen wechselseitigen Meinungsverschiedenheiten! Dafür lassen sich verschiedene Gründe denken.

Staatsbesuch Erdogans — spätes Zeichen von Solidarität nach dem Putsch.

Recep Tayyip Erdogan, seit 2003 Ministerpräsident und seit 2014 Staatspräsident der Republik Türkei, erscheint in einem traditionell autokratisch regierten Land gleichwohl durch Wahlsiege mit der von ihm geführten AKP-Partei legitimiert. Zumal es in der Türkei trotz regierungsseitig unfair durchgeführter Wahlen bisher noch starken Wettbewerb der Parteien gibt.

Erdogan hat von Beginn seiner Regierungszeit harte Kämpfe um die Macht im türkischen Staat geführt. Vereinfacht und kurz zusammengefasst: Zunächst begann Erdogan, gemeinsam mit der religiös-sozialen Gülen-Bewegung (geführt von dem islamischen Geistlichen Fetullah Gülen), die säkular orientierten kemalistischen Militärs und Beamten zu entmachten. Denen warf Erdogan vor, innerhalb der Türkei einen „tiefen Staat“ zu kontrollieren, der Regierungsführung durch gewählte Politiker entgegenwirke. (*2), S. 2).

Als Erdogan glaubte, dieses Ziel erreicht zu haben, wandte er sich ab 2011 zunehmend gegen den Einfluss der Gülen-Anhänger in Staat und Gesellschaft. Im Mai 2016 wurde die Gülen-Bewegung von der AKP-Regierung als terroristisch eingestuft und das Militär angewiesen, bei der für August 2016 fälligen Personal-Rotation Gülen-Anhänger aus führenden Posten zu entfernen.

Daraufhin erfolgte am 15. Juli 2016 der Putsch: Mindestens 265 Tote, weit über Tausend Verletzte, schwere Zerstörungen an Parlament und anderen öffentlichen Gebäuden durch Bombardierung. Präsident Erdogan konnte dem Anschlag auf sein Leben entkommen. (*2, S. 3 f.).

Sehr schnell hatten die politischen Parteien der Türkei gemeinsam den Putsch verurteilt. Türkei-Beobachter stellten fest: Auch wenn einige Generäle am Putsch mitwirkten, die der Gülen-Bewegung fernstehen, so zweifle niemand in der Türkei an der Beteiligung von Anhängern Gülens. Es gebe auch konkrete Hinweise auf bedrohte Stabilität des Landes, die von Gülen-Anhängern ausgehe, die in staatlichen Institutionen — insbesondere in Militär, Justiz, und Polizei — Macht ausüben. (*2, S. 3 f.).

Der ehemalige Premier Schwedens, Carl Bildt, kritisierte scharf, dass die EU und führende Repräsentanten ihrer Mitgliedsländer nicht sofort und eindeutig den Militärputsch auch durch Reise in die Türkei verdammt hätten: *3)

  • In der Nacht des Putsches am 15. Juli 2016 gegen die gewählte Regierung der Türkei habe es einige Zeit gedauert, bevor seitens der EU die Ereignisse verurteilt wurden.
  • Kein hochrangiger EU-Vertreter sei schnellstmöglich zum EU-Beitrittskandidaten Türkei gereist, um vor Ort gegen die bisher brutalste Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung aufzutreten.
  • Stattdessen hätten führende Repräsentanten Europas sofort Anstoß genommen an zunächst vollständig gerechtfertigten Maßnahmen der türkischen Regierung, die Unterstützer des Putsches gegen die staatliche Ordnung, auch die mutmaßlich beteiligten Anhänger der Gülen-Bewegung, aus staatlichen Positionen zu entfernen.
  • Als die Erdogan-Regierung ersuchte — wie übrigens auch Frankreich nach den Terroranschlägen — im Rahmen des verhängten Ausnahmezustands Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention einzuschränken, hätten führende EU-Repräsentaten „vor Missbilligung aufgeheult“ (Bildt).
  • Die EU stünde heute gegenüber der Türkei glaubwürdiger da, wenn führende Vertreter sofort in die Türkei gereist wären, um die Anschläge und den Militärcoup auf das schärfste zu verurteilen.

Bildt hält den EU-Regierungen insbesondere vor, dass es in der Türkei zu einem blutigen Bürgerkrieg mit Massenflucht nach Europa gekommen wäre, hätte nicht beherztes Einschreiten der AKP-Anhänger Erdogans und vieler empörter türkischer Bürger den Putsch scheitern lassen.

Gerade Deutschland mit vier Millionen türkeistämmigen Einwohnern hätte deshalb Grund genug, die von Bundespräsident Steinmeier ausgesprochene Einladung zum Staatsbesuch an den Präsidenten Erdogan als dringend und wichtig zu bewerten. Auch als Anerkennung für den tapferen Widerstand gegen den verbrecherischen Putsch! Keinesfalls also wäre aus dieser Sicht die Einladung an Präsident Erdogan „deutlich zu früh“ erfolgt, wie Norbert Röttgen meint. Sondern sie wäre ein überfälliger Ausdruck von Solidarität mit der gewählten Regierung eines besonders eng verbundenen Partnerlandes nach blutigem Militärcoup.

Übersehen wir nicht: Die Türkei hat gegenüber der EU seit 1999 den Status eines Beitrittskandidaten und ist EU-Partner im Rahmen von bereits laufenden Verhandlungen, die 2004 vom Europäischen Rat (Staats- und Regierungschefs der EU) beschlossen und mit großer Mehrheit vom Europäischen Parlament gebilligt wurden. *4)

Vorrang für stabile demokratische Ordnung in der Türkei — dies sollte derzeit den Blick auf unser NATO- Partnerland Türkei bestimmen. Allzu schwer kann dies nicht fallen, da auch hierzulande immer wieder über den „Spagat“ zwischen „Sicherheit“ und „Freiheit“ diskutiert wird.

Solche diplomatische Sensibilität — bei Treffen mit den Herrschern Chinas und Russlands routiniert zelebriert — erscheint zuallererst als Verpflichtung des Gastgebers.

Staatsoberhaupt, Bundesregierung und Bundestag werden sich daher gefragt haben, welche Erwartungen der hohe Gast mit seinem Staatsbesuch verband. Sollte bzw. konnte seinen Erwartungen entsprochen werden?

Was Erdogan von Deutschland erwartet, hatte er selbst vorab übermittelt. *5) Die wesentlichen Punkte erscheinen aus partnerschaftlicher Sicht vernünftig:

  • Die Türkei hege den Wunsch, „ihre Beziehungen zu Deutschland, ebenso wie mit anderen Staaten, auf Augenhöhe und auf Grundlage gegenseitigen Respekts weiterzuentwickeln.“
  • Im Konflikt mit der Handels- und Sanktionspolitik der USA suche Erdogan einen Ausgleich mit Deutschland und der EU, v.a. durch wirtschaftliche Zusammenarbeit.
  • Im Interesse der türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland fordere er eine wirkungsvolle Auseinandersetzung mit Islamfeindlichkeit.
  • Erdogan suche außenpolitische Zusammenarbeit zur Reform des UN-Sicherheitsrats („Die Welt ist größer als Fünf“): Für dessen Unfähigkeit, den Terror und die Flüchtlingsströme, die durch den syrischen Bürgerkrieg entstanden sind, zu verhindern, zahlten — so Präsident Erdogan — die Nachbarstaaten Syriens und im Anschluss die europäischen Staaten einen zu hohen Preis.

Den Hinweis auf „Augenhöhe“ und „gegenseitigen Respekt“ im Austausch über Meinungsverschiedenheiten unterstrich Erdogan noch durch den Appell, „mit einem Höchstmaß an Empathie (zu) versuchen, unsere gegenseitigen Befindlichkeiten zu verstehen.“ *5)

Aus diesen Wünschen/Ansagen des Staatspräsidenten Erdogan im Vorfeld seines Staatsbesuchs wird deutlich, welche Interessen/Befindlichkeiten/Empfindlichkeiten Erdogans für den Gastgeber in Deutschland zu berücksichtigen waren.

  • Gerade einmal sechs Wochen vor dem Putsch im Juli 2016 hatte der Deutsche Bundestag sich auf dem „moral highground“ platziert und in einer Resolution den Massenmord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915 bis 1917 als Völkermord bezeichnet. Gegen den Wunsch des Außenministers Steinmeier und weiterer Spitzen der Bundesregierung, die auch als Abgeordnete der Abstimmung fernblieben. Weil diese Resolution nationalistische Kräfte in der Türkei provoziere? Und weil diese Kräfte die Resolution als diplomatische Niederlage der Erdogan-Regierung propagandistisch nutzen?
  • Präsident Erdogan hat in der Türkei gegen wirkmächtige nationalistische Widerstände erste Zeichen des Gedenkens an den osmanischen Völkermord gesetzt. *6) Nachdem er noch 2011 eine Skulptur abreißen ließ, die der Künstler Mehmet Aksoy 2006 für türkisch-armenische Versöhnung schuf. Das Deutsche Kaiserreich beschränkte sich im Ersten Weltkrieg bekanntlich darauf, dem osmanischen Verbündeten beim Genozid zuzusehen. Ein Vierteljahrhundert danach beging NAZI-Deutschland den grausigsten Völkermord — sechs Millionen vernichtete jüdische Menschen … Hier mögen die Gründe für Wutausbrüche Erdogans mit Nazi-Wörtern gegen Deutschland gesucht werden, über die im hoch-moralischen Deutschland so empört räsoniert wird. Obwohl die Neo-Nazis schon wieder auf Straßen und Plätzen deutscher Städte randalieren.
  • Wer je im TV oder auf Deutschlands Straßen Demonstrationen von Kurden beobachtete, wird kaum die großen Portraits von Abdullah Öcalan und die Fahnen der kurdischen Terrororganisation PKK übersehen haben. Ebenfalls ein permanentes Ärgernis für die türkische Staatsführung.
  • Auch von den nach dem gescheiterten Putsch Geflüchteten werden nicht wenige Zuflucht in Deutschland gesucht haben. Im sicheren Wissen, dass der deutsche Rechtsstaat selbst gegenüber noch so plausiblen Beschuldigungen und Auslieferungsbegehren der türkischen Regierung höchste Hürden der Beweislast errichtet.
  • Schließlich weiß der deutsche Gastgeber, dass bis November 2019 in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anstehen. Gerade in den Großstädten des Landes und bei zunehmender Geldentwertung sowie schwacher Wirtschaftslage wird dies die AKP-Partei und Präsident Erdogan in einen harten Wahlkampf zwingen.
  • Staatspräsident Erdogan wird daher seinen Staatsbesuch beim wichtigsten Handels- und Investitionspartner der Türkei als Erfolg darstellen müssen. Und seiner gerade auch in Deutschland starken Wählerbasis bereits jetzt Botschaften vermitteln: AKP und Erdogan als Hüter der islamischen Werte und Religion, als Schutzmacht der türkischen Nation, als Garant wirtschaftlicher Entwicklung. So sehr einige Vorgänge beim Ablauf des Staatsbesuchs missfallen mochten, die starken religiös-nationalen Botschaften Präsident Erdogans konnten nicht wirklich überraschen.
  • Auch die absehbaren Wahltermine bis November 2019 in der Türkei sprechen für den gewählten Zeitpunkt der Einladung des Bundespräsidenten zum Staatsbesuch — und gegen die Wertung Röttgens als „deutlich zu früh“. Denn gerade durch die kommenden Wahlen verfügt die Bundesregierung über wirtschaftliche Hebel für den politischen Dialog über Demokratie und Rechtsstaat mit der Türkei …

Nun ist unbestreitbar, dass die Glaubwürdigkeit der AKP und des Präsidenten Erdogan als Hüter von türkischer Demokratie, Pressefreiheit und von Menschenrechten durch das exzessive Ausmaß der Vergeltung nach dem Putsch gegen Null geht.

Dies war sicher Gegenstand „stiller Diplomatie“ in den Gesprächen mit Bundespräsident und Bundesregierung. Es war kaum zu übersehen, dass diese Gespräche „offen“, das heißt in kühler, wenn nicht eisiger Atmosphäre, geführt wurden.

„Lautstarker Diplomatie“ rühmten sich dagegen VertreterInnen der LINKEN und auch ein bereits vorschnell als geeigneter Außenminister der GRÜNEN gehandelter Vertreter unseres Bundestags, Cem Özdemir. Der brüstet sich in Medien und Talk-Shows, wie er beim Staatsempfang dem Präsidenten Erdogan, der neben dem Bundespräsidenten stand, die türkische Politik verrissen habe.

Leider dominierte solch lautstarke Begleitmusik den Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdogan, bis hin zu maßloser Wortwahl in der BILD: „Staatsbesuch der Schande“.

Zu befürchten ist, dass derartige Reaktionen trotz kluger Besucherdiplomatie des Bundespräsidenten wenig zur Verständigung zwischen Deutschen und Türken beitragen. Viele Anhänger des Staatspräsidenten Erdogan werden sagen: „Gastgeber der Schande!“

*1) Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, hat eine negative Bilanz des Staatsbesuchs des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Deutschland gezogen. DTS-Meldung vom 29.09.2018, 12:27 Uhr. Röttgen: Erdogan-Besuch hat nichts gebracht.

*2) Amanda Sloat. The West’s Turkey Conundrum. February 2018;

https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2018/02 fp_20180212_west_turkey_conundrum.pdf.

*3) OPINION. Europe, stand up for Erdoğan. Coups have no place in a region built on democratic values. By CARL BILDT 8/2/16, 5:21 PM CET. Updated 8/11/16, 6:22 PM CET. (Übertragung, RS);

https://www.politico.eu/article/europe-stand-up-for-erdogan-brussels-greece-coup-european-union/.

*4) https://de.wikipedia.org/wiki/Beitrittskandidaten_der_Europäischen_Union.

*5) Erwartungen an Deutschland. VON RECEP TAYYIP ERDOGAN, STAATSPRÄSIDENT DER TÜRKEI. F.A.Z. EXKLUSIV. AKTUALISIERT AM 26.09.2018-19:27 Uhr; faz.net.

*6) Armenia and Turkey: From normalization to reconciliation. Fiona Hill, Kemal Kirişci, and Andrew Moffatt. Tuesday, February 24, 2015; https://www.brookings.edu/articles/armenia-and-turkey-from-normalization-to-reconciliation/