Fahrlässige SPD-Führung?

„Fahrlässigerweise abserviert“? Sigmar Gabriel? Richtig gelesen? Ja, genau das wirft ein angesehener Politik-Professor der SPD vor. *1)

Gewiss hat Gabriel in Regierungsämtern bedeutende Leistungen vorzuweisen: Joachim Gauck und Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsidenten durchgesetzt. Als Wirtschaftsminister und im Außenamt betrieb er mutige Förderung der transatlantischen Beziehungen und Realpolitik gegenüber Russland und der Türkei.

Prof. Wolfgang Merkel begründet seinen Vorwurf der „Fahrlässigkeit“ an die SPD jedoch nicht mit Gabriels Leistungen in der Bundesregierung.

Prof. Merkels Vorwurf zielt darauf, dass Gabriel von der SPD-Führung „abserviert“ und seine „beachtliche Fähigkeit in der Kommunikation mit den Bürgern .. fahrlässigerweise“ nicht angemessen gewürdigt wurde.

Selbst wer diese Fähigkeit Gabriels nicht bestreitet, wird fragen müssen, mit welchen Resultaten Gabriel seine „beachtliche Fähigkeit in der Kommunikation mit den Bürgern“ für die SPD eingesetzt hat.

  • 2003 bei der Landtagswahl in Niedersachsen verlor der amtierende Ministerpräsident Sigmar Gabriel gegen Christian Wulff (CDU): „Die SPD von Sigmar Gabriel erlitt … ein Wahldesaster.“ *2)
  • Der SPD-Vorsitzende Gabriel schreckte 2013 davor zurück, als Kanzlerkandidat der SPD anzutreten. Statt dessen wurde Peer Steinbrück dazu ernannt. Und der bekam von seiner Partei weder programmatischen Spielraum, noch eine überzeugende Wahlkampagne, und obendrein Kritik von SPD-Chef Gabriel.
  • 2017 verzichtete Vizekanzler und Außenminister Gabriel erneut auf die Kanzlerkandidatur. Der nach Meinung der meisten Politikbeobachter wegen Fehlens jeglicher Regierungserfahrung ungeeignete Martin Schulz sollte es richten. Dazu wurde er auch noch SPD-Vorsitzender ab März 2017. Martin Schulz blieb weder eine verfehlte Wahlkampagne erspart, noch richtig fiese Kritik seines Vorgängers als SPD-Chef, Sigmar Gabriel.

Wahldesaster pflasterten offensichtlich Gabriels Weg an der SPD-Spitze. Um darin Belege für „beachtliche Fähigkeiten in der Kommunikation mit den Bürgern“ zu sehen, muss man wohl Wissenschaftler sein.

Einflussreiche SPD-Verantwortliche beurteilten dies jedenfalls anders. Sie warfen Gabriel übereinstimmend vor, er habe selbst das in hohen Ämtern erarbeitete politische Vertrauenskapital „immer wieder .. verzockt — nicht zuletzt, indem er sich als sprunghaft und unzuverlässig präsentierte … Jetzt ist das Spiel aus. SPD-Fraktionschefin und der künftige Vize-Kanzler Olaf Scholz wollen Gabriel nicht im nächsten Kabinett haben.“ *3)

So wundert nicht, dass Prof. Merkel nunmehr den für Gabriels Abgang verantwortlich gemachten Vize-Kanzler und Finanzminister Olaf Scholz kritisiert und dessen Glaubwürdigkeit bezweifelt: „Ein und dieselbe Finanzpolitik, die etwa bei einem konservativen Politiker wie Wolfgang Schäuble glaubwürdig wirkte, muss dies nicht unbedingt bei einem Sozialdemokraten tun.“ *1)

Auch hier verbindet Prof. Merkel einen schweren Vorwurf mit fahrlässiger Analyse.

Man muss kein Finanzexperte sein, um zu wissen, dass der Bundeshaushalt nicht gerade als Beispiel für hohe Gestaltungsfreiheit herhalten kann: Mehr als 50 % der Ausgaben sind für unabweisbare Verpflichtungen in den Feldern Arbeit und Soziales (40.51 % Ausgabenanteil 2018) sowie Verteidigung (11.21 %) gebunden. Bei den übrigen Ausgabenfeldern liegen die Anteile deutlich im einstelligen Bereich. Auf der Einnahmenseite engt die internationale Standortkonkurrenz durch Steuersenkungen die staatlichen Politik-Spielräume ein. Auch neue Schulden stehen für Ideen über zusätzliche Ausgaben nicht mehr zur Verfügung (Schuldenbremse im Grundgesetz).

Prof. Wolfgang Streeck folgert daher: „Die Politik hat immer weniger Möglichkeit, gestaltend aktiv zu werden. Das hängt damit zusammen, dass der frei verfügbare Anteil an den öffentlichen Haushalten immer kleiner wird.“ *4)

Wer dann die Haushalte von Finanzminister Wolfgang Schäuble (z.B. 2012) und Olaf Scholz (z.B. 2018) vergleichen möchte, kann die Akzentverschiebungen (hier: prozentuale Änderung 2018 gegen 2012) durch unterschiedlich vereinbarte Prioritäten nicht übersehen: Verteidigung + 9.6 %; Bildung und Forschung: +23.6 %; Internationale Entwicklungszusammenarbeit: + 34.1 %. *5)

Prof. Merkels Behauptung, der Vergleich zwischen den Bundeshaushalten von Schäuble und Scholz ergebe „ein und dieselbe Finanzpolitik“ und wirke für den Sozialdemokraten Scholz „nicht unbedingt glaubwürdig“, trifft nicht Finanzminister Scholz, sondern Prof. Merkel selbst.

Zu der von Prof. Merkel behaupteten „Fahrlässigkeit“ der SPD-Führung wegen Trennung von Gabriel lässt sich daher abschließend sagen:

„Fahrlässig“ erscheinen Prof. Merkels Vorwürfe.

*1) Volksparteien in der Krise. „Ohne Merkel hat Union ein Riesenproblem“. Sonntag, 07. Oktober 2018; n-tv.de.

*2) Wahl in Niedersachsen. Gabriels Desaster. Sonntag, 02.02.2003; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wahl-in-niedersachsen-gabriels-desaster-a-233445.html

*3) Abgang eines Pokerspielers. Sigmar Gabriel muss von der großen politischen Bühne abtreten. Diesen Einschnitt hat er selbst zu verantworten. Von Tobias Peter. 08.03.2018; http://www.fr.de/politik/bundestagswahl/spd-abgang-eines-pokerspielers-a-1463322

*4) „Der Staat hat immer weniger Handlungsspielraum“. Dem Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Politik und kapitalistischer Wirtschaft widmet sich Wolfgang Streeck in seiner Forschung als Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Hier spricht er über die Folgen fiskalpolitischer Entscheidungen wie etwa der Einrichtung einer Schuldenbremse, der daher notwendigen Kürzungen und der gemeinsamen Haftung für Schulden im Euroraum. INTERVIEW RALF GRÖTKER. MaxPlanckForschung 3/2012; https://www.mpg.de/6609511/F003_Fokus_034-039.pdf.

*5) https://www.bundeshaushalt.de/#/2018/soll/ausgaben/einzelplan.html. Dort auch Angaben zu Bundeshaushalt 2012. (Click auf 2018).