Deutsche Einheit: eine Lüge?

Der renommierte Journalist Heribert Prantl erweckt den Eindruck, dass die Deutsche Einheit „eine Schwindelei“ sei. Prantl wendet die Worte „Fehlbezeichnung“, „schriftliche Lüge“ gegen die Präambel unseres Grundgesetzes. Und obendrein will er wissen, dass der Weg zur Deutschen Einheit ein „Fehler“ gewesen sei. *1) Welche Selbstgewissheit!

Thesen Prantls zu erörtern ist immer lehrreich. Versuchen wir es hier.

Deutsche Einheit: eine Lüge?

Unser Grundgesetz hält in der Präambel fest: „Die Deutschen in den Ländern *2) … haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“

Ist dies „ein grenzenlos selbstzufriedener, fast lügnerischer Satz“? Prantl begründet sein Urteil mit einem Vergleich: „In der ehemaligen DDR blieb kein Stein auf dem anderen … Für die Westdeutschen änderten sich vorerst nur die Postleitzahlen.“ Reichte für Prantl der Verstand der Westdeutschen nur bis zur Kenntnis der Postleitzahlen? Dabei gab es bereits 1989 Schätzungen der Vereinigungskosten — teils zu optimistisch, teils zu schwarzseherisch. Insgesamt äußerst beunruhigend, da die Einheit mit Wahlkampfzeiten verbunden war. Ergebnis: große Zustimmung für Politik der Einheit. Und tätige Solidarität …

Professor Ritter kalkulierte, gestützt auf Berechnungen der Deutschen Bundesbank, die zwischen 1991 und 1996 aufgelaufenen Vereinigungskosten auf 615 Milliarden DM Netto: Das heißt Kosten der „Leistungen des Bundes, der westdeutschen Länder und Gemeinden, des Fonds Deutsche Einheit, der Bundesanstalt für Arbeit und der Gesetzlichen Rentenversicherung (insgesamt 812 Milliarden DM), von denen Steuer- und Verwaltungseinnahmen in Ostdeutschland (insgesamt 197 Milliarden DM) abgezogen werden. Fast ein Viertel der Kosten sind demnach durch die Solidargemeinschaften der Versicherten der Arbeitslosen- und Rentenversicherung getragen worden. Die Einheit habe daher laut Ritter die Probleme des Sozialstaats und allen voran des Rentensystems verschärft.“ *3) Dies hat westdeutsche Rentner-Haushalte wahrscheinlich härter getroffen als ostdeutsche, bei denen die Frauen leichter erwerbstätig sein konnten, und die deshalb häufig höhere Renten pro Haushalt haben. Auch ein Beispiel solidarischen Teilens für die Deutsche Einheit. **7)

Sicher „ist die Deutsche Einheit noch harte Arbeit“ (Prantl). Jedoch ist offenkundig, dass die Zeiten der härtesten wirtschaftlichen Belastungen durch den Prozess der Wiedervereinigung längst überwunden sind. Dies zeigen schon die Forderungen, den Solidaritätszuschlag („Soli“) abzuschaffen, die Ergänzungsabgabe von 5.5 % zur Einkommen- und Körperschaftsteuer. Mit dem „Soli“ sollen die Kosten der Deutschen Einheit finanziert werden; 2017 brachte er rd. 18 Mrd. Euro für den Bundeshaushalt, tätige Solidarität seit 1991.

Marktwirtschaftsmaschinerie: Demütigung der DDR-Bevölkerung.

Prantl: „Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung erlebte die Einheits- und Marktwirtschaftsmaschinerie mit der Treuhand an der Spitze als systematische Demütigung. Diese Maschinerie fraß, was die Menschen im Osten hatten: das bisherige Leben, ihre Erfahrungen, ihre Selbstachtung“. *1)

Weiterhin beklagt Prantl den nach dem Mauerfall 1989 eingeschlagenen Weg zur Wiedervereinigung: „Die Einheit war die Erweiterung Westdeutschlands, nicht die Vereinigung gleichwertiger Staaten. Und die DDR-Bürgerinnen und Bürger wollten es damals auch so. Ein Fehler war es trotzdem.“ *1)

Statt der Einheit nach Artikel 23 Grundgesetz, also durch Beitritt der neugegründeten Bundesländer der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland, hätte sich der zeitlich wohl wesentlich längere Weg nach Artikel 146 Grundgesetz angeboten. „Man hätte dann miteinander, auf der Basis des Grundgesetzes, eine neue gemeinsame Verfassung geschrieben — und darüber in ganz Deutschland abgestimmt“, meint Prantl.

„Es sei nicht die Zeit für so etwas, sagten 1990 Kohl, Schäuble und Co.“ — diese Weigerung, so Prantl, „war schade, das ist bitter.“ *1) Der Klage Prantls stehen die Fachurteile bedeutender Wissenschaftler entgegen.

These: Notwendigkeit schlagartigen Systemwechsels in der DDR.

Professor Hans K. Schneider argumentierte, die „angestrebte schnelle politische Vereinigung wäre mit einer schrittweise erfolgenden Transformation des Wirtschaftssystems nicht vereinbar gewesen.“ *4) Rasche Klarheit über unumkehrbar neue wirtschaftliche Rahmenbedingungen war für die Kalkulation von Investoren, Unternehmen und ArbeitnehmerInnen notwendig. Professor Wolfgang Franz (*4) S. 270) unterstreicht diese Auffassung: „Wenn es aus politischen Gründen geboten war, den Vereinigungsprozess so rasch zu vollenden — und der Putschversuch in der UdSSR im August 1991 lässt dies als richtige politische Entscheidung erscheinen —, dann ist es müßig, darüber zu diskutieren, wie graduelle Übergänge zu bewerkstelligen gewesen wären.“ *4)

Die wirtschaftliche Lage der meisten DDR-Unternehmen war katastrophal: Der Bestand an Sachkapital veraltet. Die gesamtdeutsche Binnennachfrage nach Erzeugnissen ostdeutscher Betriebe fiel weg. Ebenso brach der Export in die traditionellen Märkte des ehemaligen Ostblocks (RGW-Länder) zusammen. Überdies hatten die westdeutschen Gewerkschaften aus Sorge vor Abwanderung nach Westdeutschland und dort resultierende Lohnkonkurrenz die Tariflöhne in Ostdeutschland zu hoch getrieben. Dies brachte durch Lohnkostendruck für die dortigen Betriebe Rückschläge bei der Beschäftigung und eine zusätzlich steigende Arbeitslosigkeit (*4) Franz, S. 252 ff.).

Rasche Übernahme großer DDR-Unternehmen durch westdeutsche Marktführer.

Für das, was Prantl als „Marktwirtschaftsmaschinerie“ etikettiert, hatte der Bundeskanzler der Einheit, Helmut Kohl (CDU), eine weitblickende Zielvorgabe für die Wirtschaft Ostdeutschlands formuliert: „Damit die Restrukturierung gelingen kann, ist neben Kapital und Technologie ein qualifiziertes Management unbedingt notwendig. Jeder weiß, dass der schwierigste Engpass auf diesem Gebiet liegt.“ *5)

Das von Bundeskanzler Kohl angesprochene Engpass-Problem besteht bei rd. 14 Tausend größeren Betrieben unter Treuhand-Verwaltung offensichtlich im Bedarf an erfahrenen Führungskräften für den Umbau der Produktionstechnik, der Kostenkontrolle und der Absatzmethoden für neue Märkte. Da sind mindestens 30-40 Tausend Personen für diese Management-Aufgaben zu suchen. Soll die Rekrutierungsaufgabe staatlichen Stellen oder durch Privatisierung der DDR-Betriebe westlichen Käufer-Firmen übertragen werden, die sich durch Erfolg auf Märkten ausgewiesen haben?

Hier kann nicht näher auf die höchst informative Sicht “von außen“, die Problem-Analyse des USA-Professors Dyck, eingegangen werden. Dennoch erscheinen gerade wegen des hohen Ansehens Prantls als Meinungsführer in Deutschland einige Bemerkungen zu Dycks Untersuchung *5) notwendig, um noch heute die Privatisierungspolitik der Treuhand zu verstehen. (S. auch *4).

  • Im wirtschaftlichen Prozess des Wandels von der Plan- zur Marktwirtschaft habe die Treuhand schnelle Privatisierung bevorzugt, statt ihre durchaus verfügbaren Finanzmittel für staatlich gelenkte Käufe neuer Anlagen und Dienstleistungen von Managern einzusetzen.
  • Im Zuge der Treuhand-Privatisierung wurden die rd. 14 Tausend ostdeutschen Mittel- und Großbetriebe vorzugsweise an westliche marktführende Unternehmen verkauft, kaum an ostdeutsche Unternehmen.
  • Wesentlich für die Verkaufszuschläge durch die Treuhand seien die nachgewiesene Marktleistung und Zusagen für Weiterführung der Betriebe und die Beschäftigung der MitarbeiterInnen gewesen. „Zusagen“ änderten nichts am Problem der planwirtschaftlichen, fast autarkistisch geprägten Überindustrialisierung der DDR-Wirtschaft. Für viele Betriebe gab es keine Zukunft; massenhafte Arbeitslosigkeit (bis zu 20 % Arbeitslosenquote in Ostdeutschland) war die Folge. (Siehe auch *4)).
  • Im Vergleich mit den bisherigen ostdeutschen Unternehmensleitungen war aus damaliger Sicht der Treuhand die Kenntnis der neuen Absatzmärkte und die Managementerfahrung des Führungspersonals vor allem westdeutscher Unternehmen vorzuziehen.
  • Außerdem seien die als Käufer ostdeutscher Betriebe bevorzugten westdeutschen Firmen aus eigener Personalerfahrung eher in der Lage als staatliche Stellen, um geeignete Manager für den Umbau der DDR-Unternehmen zu finden. Gerade wegen der Knappheit qualifizierten Führungspersonals an den Arbeitsmärkten und trotz der Gefahr von Auswahlfehlern habe sich die Treuhand auf die Urteilsfähigkeit westdeutscher Unternehmen verlassen müssen.
  • Dyck zitiert einen Personalleiter der Treuhand, der für die Einstellung von Managern für Treuhand-Betriebe verantwortlich war: „Wegen des hohen Bedarfs an Personal für Leitungspositionen zwischen Herbst 1990 und Sommer 1991 war uns klar, dass die Kandidaten für Management-Positionen zweitklassig waren. Aber die Unternehmen waren in so schlechter Lage, dass wir uns bewusst für zweitbeste Bewerbungen entschieden haben. Immerhin konnten sie uns helfen, damit die Firmen nicht zusammenbrachen und sofort aufgelöst werden mussten.“ (*5), S. 587).

Innerhalb von vier Jahren war der Privatisierungsprozess durch die Treuhand abgeschlossen. Fehlentscheidungen und Ungerechtigkeiten bei der Ablösung von Leitungs-Personal nach DDR-Anforderungen durch Management-Personal nach Urteil westlicher Erwerber von Treuhand-Firmen sind nicht zu bestreiten.

Aber die Gesamtleistung in der Transformation der ostdeutschen Wirtschaft ist gerade im Licht des bis heute von den Menschen Ostdeutschlands unter schweren persönlichen Opfern Erreichten hoch zu würdigen.

  • Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland hat sich „zwischen 2005 und 2016 von 18,7 auf 8,5 Prozent mehr als halbiert und dem geringeren West-Niveau angenähert.“ *6) 2017 war sie auf 7.6 % gesunken.
  • Immerhin erreicht trotz zu weniger wachstumsträchtiger Großunternehmen in ostdeutschen Ländern deren Wirtschaftskraft pro Einwohner im Durchschnitt gut 70 % des westdeutschen Wertes.
  • Die in den 1990er Jahren „fast totale“ Abhängigkeit der ostdeutschen Wirtschaft von Transferzahlungen aus Westdeutschland ist längst überwunden und kontinuierlicher Erholung des verarbeitenden Gewerbes gewichen (s. Paqué, *3)).

Prantl sollte widersprochen werden, wenn er am 3. Oktober 2018 die Deutsche Einheit mit folgenden Urteilen bilanziert: „systematische Demütigung der Ostdeutschen“, „Deutsche Einheit eine schriftliche Lüge“, „Einheits- und Marktwirtschaftsmaschinerie fraß ostdeutsche Selbstachtung“.

Prantls schriftliche Lügen zur Deutschen Einheit?

*1) Politik. Wiedervereinigung. Warum die Deutsche Einheit eine schriftliche Lüge ist. 3. Oktober 2018. Kommentar von Heribert Prantl; https://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/deutsche-einheit-unvollendet-1.4152191.

*2) Es folgen alphabetisch unsere 16 Bundesländer: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. Siehe: https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_00/245200.

*3) „Der Sozialhistoriker Gerhard Ritter zog bereits 2006 in seiner Studie ´Der Preis der Einheit` eine Bilanz der Wiedervereinigungskosten für die Jahre 1991 bis 1995. Unter Verweis auf Berechnungen der Deutschen Bundesbank beziffert er die Kosten für die ´heiße Phase` der Wiedervereinigung auf 615 Milliarden DM Netto.“ Der Ökonom und ehemalige Finanzminister Sachsen-Anhalts, Karl-Heinz Paqué analysiert: „Von der fast totalen Transferabhängigkeit der 1990er Jahre habe sich die ostdeutsche Wirtschaft längst gelöst, insbesondere dank der kontinuierlichen Erholung des verarbeitenden Gewerbes.“ Paqué schätzt, „dass sich die vereinigungsbedingten Kosten zwischen 1990 und 2009 auf knapp 2 Billionen Euro brutto summiert haben. Nach Abzug von Rückflüssen wie Steuern und Sozialbeiträgen lägen die Nettokosten bei ca. 1,6 Billionen Euro (RS: Etwa die Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands 2017).“

Die Frage nach den Kosten der Wiedervereinigung. 28.9.2015; http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/zahlen-und-fakten-zur-deutschen-einheit/212659/die-frage-nach-den-kosten-der-wiedervereinigung.

*4) Hans K. Schneider. Tempo und Schrittfolge des Transformationsprozesses. In: Von der Plan- zur Marktwirtschaft. Eine Zwischenbilanz. Hrsg.: Bernhard Gahlen, Helmut Hesse und HansJürgen Ramser. Tübingen 1992. S. 10.

Wolfgang Franz. Im Jahr danach — Bestandsaufnahme und Analyse der Arbeitsmarktentwicklung in Ostdeutschland. A.a.O. S. 270. Die Professoren der Ökonomie, Hans K. Schneider und Wolfgang Franz, hatten beide das Amt des Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wahrgenommen.

*5) Privatization in Eastern Germany: Management Selection and Economic Transition. By I. J. Alexander Dyck; Graduate School of Business Administration, Harvard University, Boston, MA. The American Economic Review. September 1997, Volume 87, Number 4; S. 565ff. (Das Kohl-Zitat hat Dyck einer Rede vom 16. Januar 1992 entnommen. Zitate zurück ins Deutsche übertragen, RS).

*6) Deutsche Einheit. Die Ost-West-Lücke schließt sich nicht. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gleichen sich immer langsamer an. Ein Regierungsbericht warnt vor den gesellschaftlichen Folgen. 5. September 2017; https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-09/deutsche-einheit-wirtschaft-ost-west-wirtschaftsleistung.

**7) Nachtrag 27.10.2018. „Ostdeutsche gehen nach einer Untersuchung des Dresdner Ifo Instituts früher in Rente als Westdeutsche … ´In der DDR war es üblich, frühzeitig ins Erwerbsleben zu starten`, erklärte Ifo-Forscher Joachim Ragnitz. Damit wiesen im Osten mehr Personen die Voraussetzungen für die Rente ab 63 auf. Ein weiterer Grund seien die höheren Rentenansprüche von Frauen im Osten. Da hier Frauen stärker in das Erwerbsleben eingebunden waren als im Westen, könnten nun mehr Haushalte die Rente mit Abschlägen in Kauf nehmen — wenn nämlich zwei Rentenbezieher mit hohen Bezügen in einem Haushalt leben.“ Siehe: Ifo-Institut. Ostdeutsche gehen früher in Rente; https://www.mdr.de/nachrichten/wirtschaft/inland/ostdeutsche-frueher-rente-als-westdeutsche-100.html, 26. Oktober 2018.