Anstand: Theorie — Praxis.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bleibende Worte an Deutschland gerichtet: für Anstand in der „Debattenkultur“. *1)

Damit hat unser Staatsoberhaupt eindringlich an die Grundlagen unserer liberalen Demokratie erinnert: Für „Zivilität“, für „Offenheit“, für „Maß“ im Dialog mit Andersdenkenden. Gegen „Verrohung und Enthemmung“, „Hass und Gewaltausbrüche“, gegen eine „Dauerempörung, eine sozialmoralische Rage, mit der Gruppen regelrecht gegeneinander in den Kulturkampf ziehen.“

Zugleich hat der Bundespräsident Deutschland gewarnt, sich von unserem gemeinsamen Europäischen Leitbild zu entfernen: „Unser Land ist derzeit nicht in Vielfalt vereint“. *1)

Diese Botschaft des Bundespräsidenten sollte alle Bürgerinnen und Bürgern als Maßstab und Vorgabe leiten, sozusagen als eine Theorie des Anstands für unser Kommunikationsverhalten bei den notwendigen Debatten über Konflikte in unserer Demokratie.

Und der Bundespräsident weiß: „Natürlich, Kommunikation mit Andersdenkenden ist anstrengend. Aber ihre Verweigerung ist das Ende der Kompromissfähigkeit.“ *1)

Gerade wegen der oft bewiesenen persönlichen Glaubwürdigkeit unseres Staatsoberhauptes sollten wir die von Frank-Walter Steinmeier aufgezeigte Verantwortung annehmen. Auch im Bewusstsein, dass zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Wollen und Gelingen immer wieder der Schatten fällt. Ein ewiges Dilemma für den Menschen in seinem Widerspruch von Wollen und Wirken, das dem Denken der führenden Repräsentanten in der liberalen Demokratie nicht fremd sein kann. *2)

Der Bundespräsident würdigte mit seinem Appell für einen zivilisierten Dialog mit Andersdenkenden DIE ZEIT, die mit der Veranstaltung „Deutschland spricht“ einen herausragenden Beitrag zu modernen Formen politischer Bildung leistet. „Mehr als 20.000 Menschen nehmen an der Aktion „Deutschland spricht“ von ZEIT ONLINE teil, bei der je zwei Menschen unter vier Augen sprechen, deren politische Ansichten sich stark unterscheiden.“ *1)

Steinmeier hat die Aktion der ZEIT als Schirmherr ermutigt: „Dieses Format mag für einige von Ihnen ein Vergnügen sein. Für viele ist es aber bestimmt auch ein Wagnis — ein echtes Experiment, für ein paar Stunden die Klischees und Komfortzonen, denen wir alle auf unterschiedliche Art und Weise anhängen, hinter uns zu lassen.“ *1)

Welches Wagnis für unsere Debattenkultur die Konfrontation mit Andersdenkenden darstellt, mögen die letzten Wochen gezeigt haben, in denen wir den Umgang unserer Regierungs- und Parteispitzen mit Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen erleben mussten.

Maaßen, wie auch der Ministerpräsident des Landes Sachsen, Michael Kretschmer (CDU), hatte vielleicht im Interesse dieses weltweit erfolgreichen Exportlandes den Eindruck infrage gestellt, in der Großstadt Chemnitz hätte es „Hetzjagden“ und „Pogrome“ gegen vermeintliche Migranten gegeben.

Dies war von Medien vor allem mit dem „Videobeweis“ einer Gruppe namens Antifa-Zeckenbiss behauptet worden. Ausgerechnet die Bundeskanzlerin Merkel (CDU) hatte solche Wahrnehmungen sofort als zutreffend beurteilt und zum Kern der von ihr wohl beanspruchten Deutungshoheit über die Ereignisse in Chemnitz erhoben. War diese von der Bundeskanzlerin und den Parteispitzen von LINKEN, SPD und Grünen propagierte „herrschende Meinung“ zumindest voreilig?

DIE ZEIT hatte schon vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zum Literaturpreis für T. S. Eliot (1948) über dessen Warnung vor Deutungshoheiten der Realität geschrieben: „Die Welt, die wir uns zurecht gemacht haben, ist nicht die wahre — sie gleicht eher einer unreal city —, einer unwirklichen Stadt, und die Menschen, die sie bewohnen, sind hollow men —, leere Menschen.“ *3)

Die aus solcher Sicht stets möglichen Widersprüche zwischen angemaßter Deutungshoheit und der Video-Wirklichkeit, wurden von den Regierungs- und Parteispitzen in der Sache Maaßen/Chemnitz offensichtlich ignoriert.

Ebenso ignorierte man Bedenken von Sicherheitsfachleuten und eben auch von Verfassungsschutz-Präsident Maaßen. *4) Bedenken von Fachleuten, deren tägliche Arbeit das Ermitteln sicherheitspolitisch gefährlicher Sachverhalte ist. Denen wir verdanken, dass die Sorge vor Terror in diesem Jahr zu den Ängsten der Deutschen gehört, die am stärksten gesunken sind: minus 12 Prozent gegenüber 2017! *5)

Ihre Forderungen an die Politik in der Sache Maaßen verdienen öffentliches Gehör: „Die Bundeskanzlerin selbst sollte sich als Regierungschefin in Fragen der inneren Sicherheit künftig vielleicht mehr auf die sachlich orientierte Expertenmeinung der Chefs ihrer Sicherheitsbehörden verlassen, statt vorrangig auf Parteistrategen und Umfragen zu setzen.“ (Ernst G. Walter, Vorsitzender der Gewerkschaft der Bundespolizei). *4)

Julian Reichelt, Chefredakteur von BILD, hat die Stimmen aus den Sicherheitsbehörden aufgegriffen: „Maaßen hat unter SPD- und CDU-geführten Regierungen dafür gearbeitet, dass die Menschen in Deutschland von Terror verschont bleiben. Er hat Otto Schily so loyal gedient wie Horst Seehofer.“ *6)

Es mag ja sein, dass die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes über die Vorgänge in Chemnitz unterschiedlich beurteilt werden können.

Aber — so fragt Julian Reichelt mit Recht — wiegt das schwerer als Maaßens „Lebensleistung und sein jahrzehntelanger Einsatz für Deutschlands Sicherheit“? *6)

In Politik und Medien, so Reichelt, wurde Maaßen „zu einem Sympathisanten von Rechtsradikalen, zu einer Gefahr fürs Land gemacht. In Zeitungsartikeln wurde er mit Angehörigen des NS-Regimes verglichen. Er ist verunglimpft und bepöbelt worden, auch von Mitgliedern der Bundesregierung, die gegenüber ihren Beamten eine Fürsorgepflicht haben. … Man hat ihn vernichtet, ohne ein Wort über seine Leistungen zu verlieren. Die Maaßen-Affäre … hat auch offengelegt, wie in der Politik im Kampf um Macht und Machterhalt alle Hemmungen fallen. Die Bundesregierung hat gezeigt, was die Ehre eines Staatsdieners wert ist, wenn es um den eigenen Kopf geht: nichts. Rein gar nichts.“ *6)

Reichelts Vorwürfe betreffen genau jene Punkte, die für Bundespräsident Steinmeier die demokratische Debattenkultur prägen: „Zivilität“, „Offenheit“, „Maß“ im Umgang mit Andersdenkenden. Gegen „Enthemmung“ und „eine sozialmoralische Rage“. *1)

Für eine “sozialmoralisch“-heuchlerische Denkweise steht das heutige, in den Medien verbreitete „Schuld-Bekenntnis“ der Bundeskanzlerin: Bei Maaßens Ernennung zum Staatssekretär habe man „zu wenig an das gedacht, was die Menschen bewegt“. Dies soll wohl so verstanden werden: Wir haben Maaßen leider viel zu gut behandelt.

Und das ist Reichelts bitteres Urteil *6) über das Verhalten der Bundeskanzlerin und des Spitzenpersonals der staatstragenden Parteien gegenüber dem Verfassungsschutz-Präsidenten Maaßen: „auf geradezu abstoßende Weise unanständig“!

*1) Frank-Walter Steinmeier. „Wir entscheiden, wie Deutschland heute spricht“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Aktion „Deutschland spricht“ von ZEIT ONLINE eröffnet und zum Dialog der Andersdenkenden aufgerufen. Das Redemanuskript. Von Frank-Walter Steinmeier. 23. September 2018; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-09/frank-walter-steinmeier-deutschland-spricht/komplettansicht.

*2) Thomas Stearn Eliot (1888 – 1965), 1948 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. The Hollow Men. 1925. „… Between the idea/ And the reality/ Between the motion/ And the act/ Falls the Shadow/ For Thine is the Kingdom/ Between the conception/ And the creation / Between the emotion/ And the response/ Falls the Shadow/ Life is very long …“.

*3) Nobelpreisträger T.S. Eliot. 11. November 1948, 7:00 Uhr Aktualisiert am 22. November 2012, 11:15 Uhr; https://www.zeit.de/1948/46/nobelpreistraeger-ts-eliot.

Dort heißt es über Thomas Stearn Eliot: „Ihm, der zutiefst Christ ist, geht es in seinen Dramen und Kritiken, in seiner Lyrik und in den Essays nicht nur um eine Erneuerung des Christentums: es geht ihm um das Sein, um die Welt, wie sie wirklich ist und nicht um ihre abendländische Konzeption. Denn die Welt, die wir uns zurecht gemacht haben, ist nicht die wahre — sie gleicht eher einer unreal city —, einer unwirklichen Stadt, und die Menschen, die sie bewohnen, sind hollow men —, leere Menschen.“

*4) Die Polizeigewerkschaften haben vor den Folgen des Streits über Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen für die innere Sicherheit gewarnt. Polizeigewerkschaften sehen Maaßen-Debatte als Sicherheitsrisiko. DTS-Meldung vom 14.09.2018, 13:50 Uhr.

*5) Siehe: Politische Probleme dominieren die Ängste der Deutschen. Berlin, 6. September 2018; https://www.ruv.de/static-files/ruvde/Content/presse/die-aengste-der-deutschen/aengste-presseinfo/ruv-aengste-der-deutschen-ergebnisse.pdf.

Alle Texte und Grafiken der o.a. Studie finden sich auf: www.die-aengste-der-deutschen.de.

*6) KOMMENTAR. Ohne Anstand. Artikel von: JULIAN REICHELT, veröffentlicht am 23.09.2018 – 23:22 Uhr; bild.de.