Demokratieabbau — nach der Wahl!

Für die Bundestagswahl am kommenden 24. September ist den Bürgerinnen und Bürgern von allen Parteien mit Aussicht auf Mandate vielleicht nicht zu viel, jedoch sicher nicht zu wenig versprochen worden. Wohlergehen der Bürger und das „Gemeinwohl“ werden von künftigen Abgeordneten des Bundestags (MdB) beschworen: Denn „der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.“ *1)

Aufmerksam beobachtende Bürger ahnen es jedoch spätestens seit 2013: Der Demokratieabbau ist beschlossene Sache bei den Fraktionen im Deutschen Bundestag.

Ja, um Demokratieabbau, um weniger Demokratie handelt es sich. Denn die Wahlperiode für den Bundestag soll von vier auf fünf Jahre ausgedehnt werden. *2)

Wenn junge Bürgerinnen und Bürger etwa über einen Zeitraum von 60 Jahren wählen, dann wird ihr politisches Bürgerrecht künftig nicht mehr 15 Mal, sondern nur noch 12 Mal ausgeübt werden können. Eine politische Enteignung um drei Wahlen, um 20 Prozent. Noch schlimmer trifft die Enteignung natürlich die politischen Rechte älterer Wählerinnen und Wähler.

Über viele Jahre habe ich für die Förderung von Demokratie gearbeitet — im Inland und im Ausland. Deshalb musste ich gegen diese Dreistigkeit der MdBs, geführt von Bundestagspräsident Norbert Lammert, über SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann und CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer, mehrfach protestieren. *3)

Da richtet sich die Hoffnung auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (tagesschau.de):

  • „Für die Demokratie streiten“,
  • „parteiisch für die Sache der Demokratie“ eintreten!
  • „All die Mutigen, all die, die Partei ergreifen für die Demokratie, werden jedenfalls den Bundespräsidenten dabei an ihrer Seite wissen.“

Diese Akzente der Antrittsrede unseres Staatsoberhauptes vom 22. März 2017 könnten Widerstand gegen das “Weniger-Demokratie-Projekt“ der Bundestagsfraktionen ermutigen.

Dennoch bleibt die Frage an die älteste demokratische Partei unseres Landes: Wohin ist es mit der SPD unter Fraktionschef Oppermann gekommen, dass sie sich so von Willy Brandts Politik des „Mehr Demokratie wagen!“ abgewendet hat?

Haben wir den zentralen Wahlslogan der SPD „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ missverstanden? Bedeutet er im Hinblick auf die von Oppermann geforderte Verlängerung der Wahlperiode in Wirklichkeit „Mehr Zeit für Gerechtigkeit“? Damit die MdBs fünf Jahre statt nur vier Jahre Zeit im Bundestag haben.

Geht es um mehr Amtszeit (sogenanntes „office seeking“ oder auch “rent seeking“) oder um mehr Politik für Gerechtigkeit („policy seeking“)? Jedenfalls wird den Bürgerinnen und Bürgern das demokratische Recht auf Wahl stark beschnitten. Und das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun?

Bedeutende Vertreter des öffentlichen Lebens haben gegenüber dem Ansinnen der fünf-jährigen Wahlperiode Position bezogen.

  • „Weniger wählen bedeutet weniger Demokratie“, schrieb der Jurist und Journalist Heribert Prantl im Dezember 2013. *4)
  • Der Staats- und Verwaltungsrechtler, Professor Dr. Christoph Degenhart: „Es entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe: Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung werden über Monate hinausgezögert — dann folgt die Erkenntnis, dass die Legislaturperiode an sich zu kurz sei und deshalb auf fünf Jahre verlängert werden müsse“. *5)
  • Diese Debatte schien nach einem Bericht der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags beendet: Sowohl in den Schlussberichten der „Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat“ wie der „Enquete-Kommission Verfassungsreform“ werde eine Verlängerung der Wahlperiode abgelehnt. Eine „weitere Verminderung der effektiven politischen Einflussrechte der Bürger sei nicht hinnehmbar. Es bestanden außerdem Zweifel, ob die Verlängerung der Wahlperiode wirklich zu einer Verbesserung der Arbeitseffizienz und Entscheidungsfähigkeit des Bundestages führen werde.“ *6)
  • Mehr Volksabstimmungen als Ausgleich für die Beschneidung des Wahlrechts bei der Bundestagswahl, wie die Grünen zunächst gefordert hatten? Solchen „Verlustausgleich“ dürften politisch Informierte nach den europaweit sattsam bekannten Chaos-Ergebnissen von Referenden ohnehin ablehnen. Der Politikwissenschaftler Michael Edinger stellt überdies fest, dass „die soziale Schieflage bei der Beteiligung an Referenden größer ist als bei Wahlen.“ *7)
  • Ein mit dem politischen Geschäft vertrauter Insider, der stellvertretende Chefredakteur des SPD-Vorwärts, Kai Doering, hat sich gegen die Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre ausgesprochen, weil „damit für die Bürgerinnen und Bürger das zentrale Instrument der Demokratie beschnitten würde: die Möglichkeit, ihren Vertretern ein Zeugnis über ihre Leistung auszustellen und ihr Mandat ggf. zu verlängern.“ *8) Diese einsame Contra-Stimme Kai Doerings ehrt den Vorwärts!
  • Der Politikwissenschaftler Edinger warnt: „Zu den Gefahren der Berufspolitik gehört, dass sich das office-seeking gegenüber dem policy-seeking verselbstständigt. Es geht dann nur noch um Machtgewinn beziehungsweise Machterhalt. Wenn sich dieses Verhaltensmuster parteiübergreifend etablieren würde, entstünde eine abgeschottete, allein auf die Wahrung eigener Interessen bedachte politische Klasse.“ *7)

Hat sich Erdingers Warnung schon bestätigt? Stehen die Bürger bereits einer „abgeschotteten politischen Klasse“ gegenüber? In der Berliner Republik?

Nach schwersten Jahren des Wiederaufbaus nach dem Krieg, nach RAF-Terrorzeiten, nach erfolgreich bewältigter Wiedervereinigung — was hätte die Bonner Republik zu dem Ansinnen gesagt, uns weniger Demokratie zu gewähren?

Unisono auf Straßen und Plätzen, im Karneval und vor den Wahlen: „Leck mir an de Söck!“

Trotz aller Bedenken der „Leute“, der Warnungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Kurz vor dem Ende des 18. Bundestages scheinen die MdBs einig. Wichtig ist vor allem die Amtsdauer („office-seeking“), den Bürgern sei deshalb das Wahlrecht zu kürzen. Im Durchschnitt zwei- oder dreimal wiedergewählt — das bringt 15 bis 20 Jahre im Bundestag nach der „Reform“ für die Fünf-Jahre-Wahlperiode! Wäscht so eine Hand die andere, dann flutschen auch die Koalitionsverhandlungen.

Was sollen wir Bürger von der “politischen Klasse“ (Edinger) halten, die uns gutes Leben, gute Arbeit, Gemeinwohl, Gerechtigkeit und gute Zukunft verspricht? Also doch nur unser Bestes will?

Halten wir es beim Urteil über unsere MdBs mit Friedrich Schiller: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“? Oder glauben wir mit Klaus Klages, einem der heutigen Zeit näheren Philosophen: „Der brave Mann denkt an sich. Selbst zuletzt.“? *9) Selbst noch zehn Tage vor der Wahl.

Politische Enteignung, weniger Demokratie — wagt es nicht!

*1) Friedrich Schiller, Wilhelm Tell I. 1. Szene, 1. Akt.

*2) Vertreter aller derzeit im Bundestag vertretenen Parteien haben sich für eine Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre ausgesprochen. DTS-Meldung vom 14.09.2017. Abgeordnete für Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre.

*3) In den Blogbeiträgen: Politische Enteignung … AM 28. DEZEMBER 2013. Und: Oppermann: Weniger Demokratie! AM 17. OKTOBER 2016. Die mit Förderung der Demokratie beauftragten parteinahen politischen Stiftungen schweigen zu diesem weniger-Demokratie-Projekt …

*4) Politik. 29. Dezember 2013. Mögliche Verlängerung der Legislaturperiode. Wahltage sind Festtage.

Die große Koalition möchte die Wahlperiode des Bundestags von vier auf fünf Jahre verlängern. Doch weniger wählen bedeutet weniger Demokratie. Der Plan von Union und SPD wäre nur unter einer Bedingung akzeptabel – wenn die Beteiligung der Bürger an anderer Stelle gestärkt wird. Ein Kommentar von Heribert Prantl; www.sueddeutsche.de.

*5) Verlängerung der Wahlperiode: Bundesregierung für ein halbes Jahrzehnt? Von Prof. Dr. Christoph Degenhart. 03.01.2014; http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/wahlperiode-fuenf-jahre-bundesregierung-lammert/.

*6) Wissenschaftliche Dienste. Deutscher Bundestag. Aktueller Begriff. Dauer der Wahlperiode. Nr. 03/14 (20. Januar 2014). Verfasser: Regierungsrat Dr. Dierk Wahlen, Rechtsreferendarin Claudia Broß – Fachbereich WD 3, Verfassung und Verwaltung; https://www.bundestag.de/blob/195024/76590f45dd25dfb4c5610c470863e8bd/dauer_wahlperiode-data.pdf.

*7) Neue Politiker braucht das Land? Attraktivität und Besetzung politischer Ämter. 31.3.2017. Michael Edinger;

http://www.bpb.de/apuz/245586/neue-politiker-braucht-das-land-attraktivitaet-und-besetzung-politischer-aemter? (Hervorhebung RS).

*8) Pro & Contra. Bundestag: Warum vier Jahre reichen – oder eben nicht.

Robert Kiesel. Kai Doering. 03. August 2015;

https://www.vorwaerts.de/artikel/bundestag-vier-jahre-reichen-eben.

Alles geregelt: Für eine Verlängerung der Bundestagslegislatur müsste Artikel 39 des Grundgesetzes geändert werden. Bundestagspräsident Norbert Lammert will, dass der Bundestag künftig nur noch alle fünf Jahre gewählt wird. „Die Forderung ist berechtigt“, meint vorwärts-Redakteur Robert Kiesel. „Für die Bürger würde das zentrale Instrument der Demokratie beschnitten“, entgegnet Kai Doering. Ein Pro und Contra.

Im einzelnen argumentiert Doering gegen Lammerts Position, dass die ständigen Wahlkämpfe die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestags „faktisch erkennbar“ einschränkten:

„Einarbeitungs- und Vorwahlkampfzeit abgerechnet hat Lammert eine Netto-Arbeitszeit des Parlaments von gerade mal zweieinhalb Jahren errechnet. Das scheint nach Handlungsbedarf zu schreien. Doch bei einem genaueren Blick zeigt sich: Es ist alles halb so schlimm.

  • Selten ziehen derart viele neue Abgeordnete in den Bundestag ein wie nach der vergangenen Wahl 2013. Die meisten arbeiten einfach weiter als kämen sie aus den Sommerferien.
  • Hinzu kommt, dass Regierungen durchaus nicht nach jeder Wahl wechseln, die Zeit der Koalitionsverhandlungen und der damit verbundene Stillstand im Parlament auch recht kurz sein können.
  • Und dass eine neue Regierung selbst nach 16 Jahren Opposition im ersten halben Jahr eine Menge auf den Weg bringen kann, hat Rot-Grün 1998 eindrucksvoll gezeigt.
  • Auch das letzte Jahr vor der nächsten Wahl muss nicht zwangsläufig dem Wahlkampf geopfert werden. Da ist es an den Politikern selbst, diszipliniert weiterzuarbeiten und das zu tun, wofür sie für vier Jahre gewählt wurden: Gesetze auszuarbeiten, sie zu debattieren und zu beschließen.“

(Hervorhebungen der Argumente Doerings durch Spiegelpunkte RS)

*9) Klaus Klages. Das Schlimmste für den Humor ist der Ernstfall; https://www.aphorismen.de/zitat/138552.