Der Verlust.

Brexit, das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (UK) aus der Europäischen Union (EU): Nach aller Kritik an UK-Politikern — ich sehe nur noch den Verlust.

Nicht der wirtschaftliche Verlust ist gemeint, der jetzt auch für Deutschland erwartet wird: „Der direkte Effekt einer Brexit-Entscheidung könnte das Wachstum der deutschen Exporte dämpfen — den DIW-Berechnungen zufolge im kommenden Jahr um einen Prozentpunkt oder knapp 15 Milliarden Euro. Dies würde für sich genommen das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 0,5 Prozentpunkte im kommenden Jahr (2017) und um 0,1 Prozentpunkte in diesem Jahr senken.“ *1)

Es ist vor allem der weltweite „Ansehensverlust“ (Tilman Mayer) *2), der die Europäische Union beschädigt und der den engagierten EU-Bürger trifft. Mehr als 17 Millionen Briten wollen trotz massivster Warnungen vor wirtschaftlichen Nachteilen die EU verlassen. Das ist ein Protest, den die ganze Welt debattiert.

Haben Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, und Sigmar Gabriel, Vizekanzler Deutschlands und SPD-Chef *3) — beide sind Protagonisten der „Vereinigten Staaten von Europa“, der „echten europäischen Regierung“ — je britische Sichtweisen respektiert? Haben sie im Sinne des Grundsatzes der Europäischen Union „In Vielfalt geeint“ je die besondere Mentalität der britischen „Insulaner“ anerkannt?

Ich fürchte, sie haben UK-Premierminister David Camerons „Vision der Flexibilität und der Zusammenarbeit“ in der EU ignoriert oder abgelehnt. *4)

Cameron hatte in einer bedeutenden Rede Anfang 2013 dafür plädiert, die europäische Vielfalt zu begrüßen — „Let´s welcome that diversity“. *4)

Camerons Credo: „Wir glauben an eine flexible Union freier Mitgliedsstaaten mit gemeinsamen Verträgen, Institutionen und dem gemeinsamen Ideal der Zusammenarbeit. Damit die Werte der europäischen Zivilisation in der Welt repräsentiert und gefördert werden. Damit wir unsere gemeinsamen Interessen stärken, indem wir unsere gemeinschaftliche Stärke nutzen, um Märkte zu öffnen. Und eine starke wirtschaftliche Grundlage im gesamten Europa schaffen. Und wir glauben an die Zusammenarbeit unserer Nationen, um die Sicherheit und Vielfalt unseres Energieangebots zu schützen. Dem Klimawandel und der globalen Armut entgegen zu arbeiten. Zusammen zu arbeiten gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität. Und weiterhin neue Länder in der EU willkommen zu heißen.“ *4)

Wenn Schulz und Gabriel schon die EU-Ziele des Konservativen David Cameron ignorierten — aber der in der SPD vor der Brexit-Kampagne beliebten Politikerin Gisela Stuart, Abgeordnete der sozialdemokratischen Labour-Party im britischen House of Commons, hätten sie zuhören sollen!

Gisela Stuart, Leiterin der britischen Kampagne zum EU-Austritt „Vote Leave“, hatte deutlich gewarnt: „Es sind die Unfähigkeit und der Unwille zur Veränderung, die mich bei der EU verdrießen. Und jetzt, wo ich gefragt werde, ob ich da noch zugehören will, sage ich: Nein. Wenn ihr euch nicht ändert, dann gehen wir. Keine andere Institution – von den UN bis zum Commonwealth – stellt sich über ihre Mitglieder. Die EU fordert das – ohne dass es checks and balances gibt.“ *5)

Schulz und Gabriel haben den Briten wohl nicht zugehört. Nach dem Brexit-Ergebnis des britischen Referendums vom 23. Juni 2016 forderten beide: „Europa neu gründen“. *6) Neben vielen bedenkenswerten Erinnerungen an die europäische Gründerzeit, neben viel wahltaktischem „Europa muss, muss, muss …“ gegen „Populisten“ ist der Kern der Forderungen, die Schulz und Gabriel erheben, altbekannt.

Es ist die in der EU der noch 28 Mitgliedstaaten schon surreal anmutende Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“:

„Wir müssen nun weiter daran arbeiten, dass die Europäische Kommission künftig zu einer wahren europäischen Regierung umgebaut wird, einer Regierung, die parlamentarisch durch das Europaparlament und eine 2. Kammer der Mitgliedsstaaten kontrolliert wird. Nur dadurch bekommen wir eine klare Struktur, die die Menschen auch aus ihren Heimatländern kennen, und machen überdies politische Verantwortlichkeiten transparent. Wer zukünftig mit der EU unzufrieden ist, muss sie dann nicht mehr grundsätzlich in Frage stellen, sondern kann durch Wahlen eine europäische Regierung durch eine andere ersetzen, so wie wir das aus unseren nationalen Demokratien kennen.“ *6)

Damit bestätigen Schulz und Gabriel die Befürchtungen vieler Europäer, nicht zuletzt in den östlichen Mitgliedsländern der EU, vor dem, was Gisela Stuart als „Blockmentalität der EU“ bezeichnet:

„Die EU ist im 20. Jahrhundert stehengeblieben. Da gab es den westlichen Block, den Ostblock, und in den siebziger und achtziger Jahren wollten die Europäer auch einen eigenen Block bilden. Heute müssen die Dinge aber auf globaler Ebene entschieden werden. Die EU ist da oft eine Bremse .. Nehmen Sie die Welthandelsorganisation WTO. Da können wir als Briten nur im Rahmen der EU abstimmen. Wenn wir etwas durchsetzen wollen, was für uns von besonderer Bedeutung ist, wird dies mit immer mehr Mitgliedstaaten immer schwieriger. Das Gleiche gilt für das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen. Wir sind in einem Block, in dem unsere Stimme immer unwichtiger wird.“ *5)

Gabriel und Schulz — „Blockmentalität“ gegen das EU-Motto „In Vielfalt geeint“? Dieser Vorwurf klingt für Sozialdemokraten fast beleidigend.

Nun wurde der etwas pompöse Aufruf „Europa neu gründen“ von Sigmar Gabriel und Martin Schulz und seine teils wahltaktische Motivation auch hierzulande durchschaut: Die „Stellungnahme einer Regierungspartei zu dem Großereignis des Brexits, die aus sachlichen Gründen jeden brennend interessieren müsste, (wird) aus einer – wie Hegel gesagt hätte – Kammerdienerperspektive auf die nächste Bundestagswahl und das persönliche Verhältnis zwischen Herrn Gabriel und Herrn Schulz zurückgestutzt.“ *7)

Wer wollte mit Habermas rechten, ob der Ausdruck „Kammerdienerperspektive“ für Presse-Urteile über den europapolitischen Aufruf von Martin Schulz und Sigmar Gabriel angemessen ist?

Könnte man sich nicht auf das Wort „Kammerjägerperspektive“ verständigen, um den Vorgang zu beschreiben?

SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, übrigens mit britischem Pass gesegnet, beginnt schon im Auftrag der Parteiführung damit, den EU-„Block“, das “Europäische Haus“, auszuräuchern: „Wer raus geht, ist raus, da müssen wir auch hart sein.“ *8)

Martin Schulz terminierte in gleicher „Hausherren“-Art sofort nach dem Brexit-Ergebnis des Referendums vom 23.06.2016: Vorlage der britischen Austrittserklärung bis Dienstag, 28.06.2016. Damit endete die Schäbigkeit von EU-Größen gegen das Vereinigte Königreich (UK) keineswegs.

Jean-Claude Juncker, Präsident der EU-Kommission, und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz leisteten sich die Kurzsichtigkeit, die nach dem Brexit zu ihnen geeilte Nicola Sturgeon, First Minister of Scotland, Vorsitzende der eher separatistischen Scottish National Party, zu empfangen. „Den Roten Teppich ausgerollt“, tobte Fraktionsvorsitzender Syed Kamall, britischer Konservativer, im EU-Parlament. Bekanntlich streben Sturgeon und die Scottish National Party die Unabhängigkeit Schottlands vom UK an. Schon gar nicht wollen sie auf die reichlich dorthin fließenden EU-Mittel verzichten.

Ein skandalöses Verhalten von Schulz und Juncker, das in Katalonien oder im Baskenland als Signal missverstanden werden kann, die EU beteilige sich am Zerfall von Mitgliedsstaaten. Zu würdigen ist jedoch, dass der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, das europapolitische Feingefühl zeigte, der schottischen Politikerin Nicola Sturgeon den Empfang zu verweigern.

Leider wird wohl die Kammerjägerperspektive der EU mit Blick auf das UK vorherrschen. Ausmerzen der lästigen britischen Insulanermentalität:

• Raus mit dem unbezähmbaren Freiheitsdrang, der tief sitzenden Abneigung gegen Bevormundung, gegen bürokratischen Zentralismus aus Brüssel;

• raus mit der „neoliberalen“ Ablehnung des zuteilenden Steuer- und Abgaben-Staates, raus mit dem Drang nach freier Marktwirtschaft und laissez-faire;

• raus mit dem ur-britischen „common sense“, der ja für Linke nur Zynismus ist. Weil jener „common sense“ diffusen Begriffen wie „Gemeinwohl“ und „Solidarität“ misstraut, auf die Linke in anmaßender Weise den Anspruch auf Alleinvertretung erheben;

• raus mit der globalen transatlantischen Sicht und Suche nach weltweiter Zusammenarbeit; raus mit der Freundschaft zu Amerika, das ohnehin „seit 1953 im Nahen Osten alles falsch gemacht hat“ (Gabriel, SPD-Programmkonferenz); zurück in die „EU-Blockmentalität“ (Gisela Stuart).

Wenn sich diese „Kammerjägerperspektive“ in der Rest-EU-27 durchsetzt, ist der Weg frei geräuchert für das große „Linke Projekt“ und seine wahre europäische Regierung (Martin Schulz, Sigmar Gabriel *6)): Ende des „Kaputtsparens“, für eine Schuldenunion, Transferunion und schließlich eine Inflationsunion.

„Meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge“ (Arthur Schopenhauer). Europas Bürger werden diese Warnung Schopenhauers noch erfassen. Sie werden den Verlust der „checks and balances“ spüren, wenn mit dem Vereinigten Königreich das Gegengewicht zum linken EU-Zentralismus fehlt.

*1) DIW Berlin. Pressemitteilung vom 15.06.2016. Deutsche Wirtschaft wächst stabil – Brexit würde Wachstum kosten.

Bei der DIW-Schätzung des Verlustes an wirtschaftlichem Wachstum in Deutschland „ist zu beachten, dass es sich nur um die direkten Effekte handelt, die sich in den deutschen Exporten nach Großbritannien widerspiegeln. Indirekte Effekte wie Finanzmarktverwerfungen, sinkende Direktinvestitionen und Preiseffekte sind kaum präzise zu schätzen und daher in den Berechnungen nicht berücksichtigt.“ Siehe: https://www.diw.de/de/diw_01.c.536453.de/themen_nachrichten.

*2) Professor Tilman Mayer im Gespräch mit Thomas Bade. Vor Ort: Zum Ausgang des EU-Referendums in Großbritannien. Phönix TV, 25.06.2016.

*3) EU-Reformpläne von Martin Schulz. Will er König von Europa werden? Von Ulrich Schulte, 04.07.2016, http://www.taz.de/!5315552/. Ulrich Schulte erläutert: Martin Schulz fordere, „die Europäische Kommission müsse in eine echte europäische Regierung umgebaut werden. Sie solle der Kontrolle des Europaparlaments und einer zweiten Kammer – bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten – unterworfen werden. Dieser Vorschlag stand auch in einem Zehn-Punkte-Plan (s. *6) RS), den Schulz kurz nach dem britischen Votum mit SPD-Chef Sigmar Gabriel veröffentlicht hatte. Es wäre eine Kräfteverschiebung: weg von Merkel und den EU-Regierungschefs, hin zu EU-Parlament und Kommission.“

*4) David Cameron´s EU speech in full, telegraph.co.uk/news/23 Jan 2013, (Übersetzung RS). Mein Blog „EU: Vision und Common Sense. AM 13. FEBRUAR 2013.“ hat Camerons Rede gewürdigt.

*5) Drohender EU-Ausstieg. „Für den Brexit einzutreten bedeutet nicht, dass man ein Spinner ist“.

Gisela Stuart ist deutschstämmige Politikerin der Labour Party und Leiterin der britischen Kampagne zum EU-Austritt „Vote Leave“. Ein Gespräch über die Vorteile eines Brexits, die EU und ihr Verhältnis zu Deutschland.

13.04.2016, von Jochen Buchsteiner, faz.net.

*6) Europa neu gründen. Von Sigmar Gabriel und Martin Schulz. Ohne Datum; https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Sonstiges…et…_/PK_Europa_Paper.pdf (Hervorhebung RS). RS: Hinweis 12.07.2016: „Der 2010 verstorbene britische Historiker Tony Judt warnte schon vor zwanzig Jahren in seinem Buch Große Illusion Europa: ´Ein wahrhaft geeintes Europa ist in einem Maße unwahrscheinlich, dass es unklug und unsinnig wäre, weiter darauf zu bestehen.`“ Hass und Ignoranz. KOLUMNE PAUL LENDVAI. 11. Juli 2016, http://derstandard.at/2000040861647/.

*7) KULTUR. JÜRGEN HABERMAS. Die Spieler treten ab. Kerneuropa als Rettung: Ein Gespräch mit Jürgen Habermas über den Brexit und die EU-Krise. Von Thomas Assheuer, DIE ZEIT, 09. Juli 2016. (Hervorhebung RS).

*8) SPD. SPD-Generalsekretärin Barley warnt nach Brexit-Votum vor Domino-Effekt. 25.06.16; http://www.welt.de/156558426.