Die 25 Prozent Hürde.

Als die SPD im Mai bei der Europawahl 27 Prozent erreichte, sahen Optimisten die Hürde schon überwunden.

Im Juni blicken Sozialdemokraten auf den ernüchternden INSA-Meinungstrend *1): Union rd. 40 %, SPD 25 %. Was hält die SPD unten?

Mit einem Ergebnis bei der Bundestagswahl 2013 von rd. 26 % hatte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel seine Partei in die Regierung, in die Große Koalition (GroKo) geführt. Er hat die Chance erarbeitet, dass die Mitte der Wählerschaft wieder Vertrauen in die Sozialdemokratie gewinnt. Durch überzeugende Leistungen in der Bundesregierung.

Als ein „Stabilitätsanker der Koalition“ sieht sich auch der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann. In Regierung und Fraktion, weniger in der Partei, befindet sich jetzt das Zentrum bundespolitischer Arbeit der SPD.

Auf Zielvorgaben, wie sie Thomas Oppermann leistet, hat die sozialdemokratische „Mitte“ – etwas ungeduldig bereits – gewartet. *2) Die Edathy-Affaire hatte zu viel Zeit und politisches Kapital vergeudet – endlich vorbei und in der GroKo bereinigt!

„Wir müssen bei der nächsten Bundestagswahl auch wieder um die politische Mitte kämpfen. Das haben wir bei der letzten Wahl vernachlässigt.“

„Wenn die SPD neben den Kompetenzen bei sozialer Gerechtigkeit, Bildung und Umwelt ein ausgeprägtes Wirtschaftsprofil zeigt, hat sie große Chancen, wieder über 30 Prozent zu kommen.“

Diese Vorgaben Oppermanns – hin zur „Mitte“ durch Nachweis wirtschaftspolitischer Kompetenz – sollten positive Resonanz bei der Zielgruppe „politische Mitte“ finden. Zumal Sigmar Gabriel durch seine Wirtschafts- und Energiepolitik viel für die Sicherheit der Arbeitsplätze am Standort Deutschland leistet.

Dieser Erwartung stehen allerdings Thesen und Forderungen profilierter SPD-Linker entgegen, die in der „politischen Mitte“ auf Misstrauen stoßen.

Erstens: Das beginnt schon bei der Diagnose gesellschaftlicher Probleme. Vom stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner wird seit Jahren die immer weiter klaffende „Schere zwischen Arm und Reich“ beschworen.

Damit wird eine Debatte um Gerechtigkeit und Umverteilung – nicht wenige nennen es Neid-Debatte – geführt, die den sozialen Zusammenhalt gefährden kann. Die Wähler ließen sich von dieser Kampagne bei der Bundestagswahl 2013 offenbar nicht beeindrucken.

Zu Recht! Denn die Diskussion um die Verteilung der Einkommen oder Vermögen in einer Gesellschaft sollte nicht mit Schere und Holzhammer geführt werden. Schon gar nicht von der Partei der Aufklärung, der Sozialdemokratie. Verteilungsfragen sollten auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützt werden, wie sie z.B. vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW *3) vorgelegt werden.

In der Wirtschaft tätigen Bürgern leuchtet ein, dass mehr nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung auch einen sozialen Ausgleich fördern und deshalb politische Priorität haben sollten.

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten bleiben Löhne und Gehälter weitgehend stabil, während Gewinne und – wegen niedriger Zinsen – Einkommen aus Geldvermögen sinken. Das heißt, die „Schere“ schließt sich dann eher. Und wenn Konjunktur, Gewinne und Beschäftigung sich bestens entwickeln, sollten die Tarifverhandlungen zum sozialen Ausgleich beitragen. Die Sozialdemokratie hat immer dann überzeugt, wenn sie sich darauf konzentrierte, Chancen auf Teilhabe an Arbeit und Wohlstand zu fördern.

Viele Bürger und Sparer – eben die politische Mitte – fragen sich ohnehin, was an Leistung, Wohlstand und Vermögen denn verwerflich ist. Bernd Osterloh, der Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrats der Volkswagen AG, beklagt als IG Metaller zwar unser „Gerechtigkeitsproblem“. Doch kommt es zum Schwur, versichert er auf die Frage nach dem 15 Mio. Euro Jahresgehalt des VW-Vorstandsvorsitzenden: „Martin Winterkorn ist jeden Cent wert.“ *4)

Auch mit Blick auf die Realität in der Wirtschaft fragen sich viele Bürger, wie es im Kopf der von ihren Steuern recht auskömmlich versorgten Politiker aussieht, die „Arm und Reich“ gegeneinander treiben.

Zweitens: Bei Worten hat es die SPD-Linke unter Herrn Stegner nicht belassen. Dies zeigen deren steuerpolitische Initiativen. Entgegen dem Koalitionsvertrag hat die SPD-Linke bereits mit einer Kampagne für die Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge begonnen.

Damit sollen Erträge aus Geldvermögen, das Bürger aus bereits versteuertem Einkommen gespart und aufgebaut haben, erneut der progressiven Einkommensteuer unterworfen werden. Solcher Anschlag auf das Sparen und seine Erträge trifft natürlich wieder nicht die Politiker. Deren auskömmliche Pensionen der Bürger finanziert und sie damit der Notwendigkeit enthebt, zu sparen, d.h. auf Konsum zu verzichten.

Natürlich wird auch die Einkommensteuer erhöht werden, damit in Bildung, Infrastruktur, Kitas und soziale Gerechtigkeit „investiert“ werden kann. Da sind sogar die an der Einkommensteuer partizipierenden Kirchen verlässliche Bündnispartner der Linken.

Auch dabei bleibt es nicht. Wir haben zwar hohe Sozialabgaben und hohe Einkommensteuer, aber dafür werden Vermögenswerte in Deutschland angeblich noch nicht nach internationalen Maßstäben „herangezogen“. Deshalb sind steigende Erbschafts-, Schenkungs- und Grundsteuer schon im Auge der SPD-Linken. Und natürlich die Vermögenssteuer. Auch dies alles mit kirchlichem Segen.

Bei kirchlicher und moralischer, also fachlich diffuser, Rechtfertigung steuerpolitischer Rundumschläge aus der SPD-Linken wachsen natürlich Sorgen in der „Mitte“ der Gesellschaft.

Offenbar hat die Sozialdemokratie noch nicht hinreichend aus der letzten Wahlniederlage gelernt. Sonst würde sie den leistungs- und eigentumsfeindlichen Initiativen der SPD-Linken gebührende Aufmerksamkeit widmen. Immerhin hat Herr Oppermann nun zur Kenntnis genommen, dass „die Steuerbelastung nicht so hoch sein (darf), dass die Motivation für Arbeit und Leistung schwindet.“ *2)

Drittens: Mitte 2013 begannen die Verhandlungen zwischen den USA und der EU über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Für Ende 2015 wird mit dem Abschluss der Verhandlungen gerechnet. Die wirtschaftlichen Chancen durch Abbau technischer oder rechtlicher handelshemmender Vorschriften im Rahmen des weltgrößten Wirtschaftsraumes sind gerade für die exportintensiven deutschen Klein- und Mittelunternehmen beträchtlich. Darauf hatte Wirtschaftsminister Gabriel hingewiesen.

Gegenstand der Verhandlungen sind auch berechtigte Besorgnisse der Bürger, ob deutsche sozial-ökologische Standards im Rahmen eines transatlantischen Binnenmarktes abgebaut werden könnten. Zu diesen Fragen der TTIP sollte angesichts der Zukunftschancen dieses Projekts eine intensive öffentliche Informations- und Bildungsarbeit erfolgen. Hier liegt eine bedeutende Chance für Sigmar Gabriel, durch offensive Positionierung wirtschaftspolitisches Profil zu gewinnen.

Statt dessen wird die öffentliche Debatte von einer Desinformationskampagne durch Attac, nicht wenige Gewerkschaftler und zahllose „AktivistInnen“ des Umwelt- und Verbraucherschutzes bestimmt: Chlorhühnchen, Genmais, geklontes Vieh, Antibiotika-Fleisch, Chemiecocktails. Obendrein neoliberaler Sozialabbau. Und Kulturabbau durch Hollywood. Und nicht zuletzt Rechtsstaats- und Demokratieabbau durch Schiedsgerichte multinationaler Konzerne.

All dies sind Standardelemente eines Schreckens, der von Amerika drohe. Und Sigmar Gabriel wirkt inzwischen eher defensiv gegenüber dieser Kampagne gegen das wirtschaftspolitische Zukunftsprojekt TTIP.

Die Desinformation über TTIP ist das gefundene Fressen für die SPD-Linke. Die bringt wohl mehr Sympathie für Putins Eurasische Wirtschaftsunion auf, wenn man Herrn Stegners Kommentare zur Schuld westlicher Integrationspolitik in der Ukrainefrage liest. *5) Schlau ist der Herr; denn er stimmt nicht offen Herrn Gysis Tiraden zu, sondern Gerhard Schröder vom Gazprom-Konsortium.

In dieser durchaus antiamerikanisch gefärbten deutschen Meinungslage ist die SPD-Linke derzeit nicht ohne Resonanz. Aber diese Art von Zustimmung wird nicht lange anhalten. Schon gar nicht bei der „Wählermitte“, die innenpolitisch der ökonomischen Vernunft, außenpolitisch der Sicherheit des atlantischen Bündnisses und ganz allgemein der Qualität von Argumenten zuneigt. Und diese Haltung führt derzeit nicht zur SPD.

Viertens: Schließlich hat der SPD-Vorsitzende Gabriel mit seinem Vorschlag, den EURO-Stabilitätspakt aufzuweichen, dem Ziel Oppermanns, ein „ausgeprägtes Wirtschaftsprofil“ aufzubauen, einen Bärendienst erwiesen. Zwar hat er sich damit Beifall bei wenig reformfreudigen Schwesterparteien aus der EURO-Zone geholt. Dafür ist Gabriel aber im eigenen Land bei angesehenen Ökonomen und den für Finanzstabilität Verantwortlichen auf härteste Kritik gestoßen.

Nun mag sich Sigmar Gabriel mit offener oder heimlicher Zustimmung durch die SPD-Linken und die Linkspartei trösten. Jedoch graut der „Mitte“ der Wähler vor den Bürgschaften des „Euro-Rettungsschirms“ für die Zahlungsfähigkeit südeuropäischer Länder. Diese politische Mitte dürfte Gabriels Vorschlag negativ bewerten.

Zudem hat Vizekanzler Gabriel massiv gegen die im GroKo-Koalitionsvertrag (Punkt 8, Europapolitische Koordinierung) vereinbarte Pflicht der Bundesregierung verstoßen, „ein geschlossenes Auftreten gegenüber den europäischen Partnern und Institutionen sicherzustellen.“ Auch dies mißfällt, da die Mehrheit der Bürger nach den schwarz-gelben Krisenjahren stetiges, berechenbares Regieren durch die GroKo wünscht.

Außer den Linken stehen die Bürger überwiegend zu der Europa- und Krisenpolitik der Bundeskanzlerin: Hilfe zur Selbsthilfe, Geld nur bei Haushaltsdisziplin und Reformen, die ohnehin nur quälend langsam vorankommen.

Die überschuldeten und im eigenen Interesse für solide finanzierte Staatshaushalte und Reformen für soziale Marktwirtschaft arbeitenden EU-Länder sind nun gar nicht auf Verständnis des deutschen Vizekanzlers, sondern vor allem auf Vertrauen der internationalen Finanzmärkte angewiesen.

Kaufen die Investoren deren Anleihen nicht, fallen die Kurse, damit steigt die Zinslast wieder. Dann könnte die Zahlungsfähigkeit der Krisenländer wackeln und bei den Garanten des Euro-Rettungsschirms, gerade auch den Deutschen, wird Angst aufkommen. Das wäre stetiger Konjunktur nicht förderlich.

Deshalb übte Bundesbankpräsident Jens Weidmann besonders harte Kritik: Nicht Schwächung, sondern Stärkung der Fiskalregeln sei geboten. Die von Gabriel angeregte, von Frankreich und Italien geforderte Aufweichung des Stabilitätspaktes könnte „massive Erschütterungen der Währungsunion auslösen.“ *6)

Inzwischen hat die Chefin Herrn Gabriel wohl wieder eingefangen. Doch der Vertrauensschaden bei den Bürgern hält an. Im Falle des Wirtschaftsministers Gabriel mag angenommen werden, dass seine europapolitisch abgesicherte Energie-, Industrie- und Wachstumspolitik den Stabilitätspakt-Fauxpas vergessen lässt.

Soviel zum Versuch einer Diagnose, warum die SPD im Umfragetief von 25 Prozent verharrt.

Was könnten Sozialdemokraten, die den Weg der SPD hin zu den Wählern der „politischen Mitte“ wünschen, von Sigmar Gabriel erwarten?

Zunächst sollten der SPD-Vorsitzende Gabriel und der Fraktionsvorsitzende Oppermann die politische Kommunikation der Partei stärker koordinieren und prägen.

Derzeit bestimmen eher die vom stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner inspirierten Kampagnen aus dem linken Flügel das Bild der SPD in der Öffentlichkeit: klaffende Schere zwischen Arm und Reich, deshalb Sozialausgaben erhöhen, Steuern erhöhen, weg von neoliberaler TTIP und vom Sparen im Euroraum, schließlich mehr Verständnis für Putins Reaktion auf westliche Ostpolitik.

Solche Image-Politik wird die politische Mitte kaum überzeugen. Daher erscheint eine Korrektur der SPD-Zuständigkeit für das Gespräch mit der LINKEN zweckmäßig.

Sigmar Gabriel hatte nach der Bundestagswahl 2013 entschieden, Ralf Stegner nicht zum innerparteilich mächtigen Generalsekretär zu berufen, sondern zum stellvertretenden Parteivorsitzenden. Mit der Aufgabe, den linken Flügel der SPD zu koordinieren und als Gesprächspartner für DIE LINKE zu fungieren. Für eine mögliche koalitionspolitische Öffnung nach der Bundestagswahl 2017. Das schien zunächst als „ein cleverer Schachzug des Parteivorsitzenden“ *7), den linken Stegner einzuhegen.

Jedoch hat Stegner den Kopf, auf Cleverness jederzeit eins drauf zu setzen. Er schaltete sofort um – von Macht auf Einfluss: „Als Generalsekretär wäre ich Parteiangestellter gewesen, da hat man als stellvertretender Parteivorsitzender mehr Freiheiten.“ *7) Und wie intelligent er diese Freiheiten zu nutzen weiß, zeigt das eher linke Profil der SPD in der Öffentlichkeit.

Dem müssen nun führende Sozialdemokraten entgegenwirken, in dem sie ständig beteuern, wie weit sie doch von der LINKEN entfernt seien. So meint Sigmar Gabriel, „gegenwärtig“ könne „kein Sozialdemokrat mit der Linkspartei auf Bundesebene eine Koalition bilden“; denn die „Linkspartei vertritt Positionen, die Deutschland in die außenpolitische und übrigens auch wirtschaftliche Isolation führen.“ *8)

Recht hat der SPD-Vorsitzende. Aber gegenüber solcher Bedrohung Deutschlands, wie sie die Linkspartei darstelle, wird wohl zuviel über deren „gegenwärtig“ nicht bestehende Koalitionsfähigkeit geredet.

Und gleichzeitig treffen sich der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und die beiden Vorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping und Bernd Riexinger, zum Gespräch. Aus Höflichkeit habe er der Bitte der beiden LINKEN entsprochen, betont Gabriel, als das Treffen Schlagzeilen macht. *8)

Sein sicher reiner Höflichkeit geschuldetes Treffen gibt der Dialog- und Koordinierungsaufgabe mit Linken und Linkspartei, wie sie der SPD-Vize Ralf Stegner versteht, allerdings zusätzliches politisches Gewicht. Und das verstärkt Sorgen vor einer Rot-Rot-Perspektive.

Es ist das nachhaltige Misstrauen der „politischen Mitte“ in Deutschland, das die Sozialdemokratie an der 25 Prozent-Grenze festnagelt. Die SPD hatte in der verfehlten Oppositions-Koalition mit den Trittin-Grünen in den Jahren 2009 bis 2013 das Vertrauen breiter Wählerschichten verspielt.

Durch ein intransparentes Spiel zwischen Regierungspartei SPD und oppositioneller LINKEN über Bedingungen linker Koalitionsfähigkeit wird Vertrauen, das in der politischen Mitte verloren ging, bestimmt nicht wieder gewonnen. Erst recht nicht, wenn der „Koordinator“ aller Linken, der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner, maßgeblich seine Hand in diesem Spiel hat.

*1) INSA Meinungstrend. So würde Deutschland wählen! bild.de, 18. Juni 2014. Das Meinungsforschungsinstitut Emnid kommt zu einem ähnlichen Resultat.

*2) SPD-Fraktionschef. Oppermann nennt Linkspartei „Totalausfall“. Von Jochen Gaugele und Daniel Friedrich Sturm; welt.de, 22.06.2014 (Hervorhebungen RS).

*3) Rückgang der Einkommensungleichheit stockt. Von Markus M. Grabka und Jan Goebel; DIW Wochenbericht Nr. 46.2013.

*4) VW-Betriebsrat Bernd Osterloh „Herr Winterkorn ist jeden Cent wert“. Ein Interview von Marcus Gatzke und Tina Groll; zeit.de, 5. Juni 2014.

*5) Stegner lobt Äußerungen von Altkanzler Schröder zur Ukraine-Krise. DTS-Meldung vom 11.05.2014.

*6) Staatsverschuldung. Weidmann fordert noch strengeren Stabilitätspakt. faz.net, 24.06.2014.

*7) Vize ist doch auch toll; taz.de, 17.12.2013.

*8) SPD-Chef Gabriel schließt Rot-Rot-Grün auf Bundesebene aus. DTS-Meldung vom 28.06.2014 (Hervorhebungen RS).