Eskapismus im Wahlkampf?

Sigmar Gabriel ist ein Großmeister im Interviewgeschäft. Bild am Sonntag vom 3. Februar führte es uns vor.

Treuherzig schaut der SPD-Vorsitzende den journalistischen Großmeister Michael Backhaus und dessen Kollegin an. Schafft es, beiden die dicksten Bären aufzubinden. Zumindest möchte ich hoffen, dass dies seine Absicht war.

„Man soll Politik nicht so wichtig nehmen“, seufzt Sigmar Gabriel gefühlig und blickt – so zeigt sein Foto in BamS – gedankenvoll aus dem Fenster. Nebenbei jedoch schüttelt er hellwach jede Menge Wahlkampf-Parolen aus dem Ärmel.

Aber die BILD-Profis – wohl ihre Leser im Blick – bleiben in der Sphäre des Gefühls und legen uns ans Herz: „SPD-Chef Sigmar Gabriel gehört zu den mächtigsten Politikern Deutschlands. Doch er litt in der Kindheit unter seinem Vater.“

Wer kann da herzlos bleiben und nicht mitfühlen, wenn solche Worte weiterwirken. Flugs flicht Sigmar Gabriel zur „Regierung von Angela Merkel“ ein: „Dem muss man endlich ein Ende machen.“ Aber das merken wir kaum, wie bei den „hidden persuaders“ der unterschwelligen Werbung, die das Unterbewusstsein manipuliert.

Denn schon erfassen sie uns wieder, die Wogen des Gefühls. Dürfen die Befürworter der „Herdprämie“ (Sigmar Gabriel) doch noch hoffen? „Und so ein kleines Kind erinnert täglich daran, dass man Politik nicht zu wichtig nehmen soll … So ein kleiner Mensch zeigt täglich, was wirklich wichtig ist.“

Da können die meisten Leser nicht anders, sie stimmen alle allem zu. Am Ende auch, dass Frau Merkel weg muss, wenn dies jemand sagt, dessen „Herzblutthema soziale Gerechtigkeit“ ist (Teil 2 des BamS-Interviews).

Währenddessen läuft im Hintergrund jenseits der Gefühle der Kampf um die Wahlentscheidung. Eine vorgeblich ganz fundamentale Auseinandersetzung um unsere Zukunft, denn – so Sigmar Gabriel im BamS-Interview – es geht um „eine neue soziale Balance in Deutschland und Europa“.

Und währenddessen fliegen dem Spitzenkandidaten Peer Steinbrück die „Wackersteine“ um die Ohren. Sie fliegen auch aus dem eigenen SPD-Haus. Aus dem Umfeld des „offiziellen Wahlkampfberater(s) von Steinbrück“ macht nun noch ein PeerBlog Ärger (spiegel.de, Wahlkampf…, 03.02.2013). Die politischen Gegner reiben sich die Hände.

Aber gerührt lesen die Bürger in BamS von „Sigmar Gabriels Familienglück. Wenn Mama in ihrer Praxis in Goslar arbeiten muss, sagt der SPD-Chef für die Betreuung von Marie Termine ab.“ Wer will es dem SPD-Vorsitzenden verdenken.

Dennoch kann dieser Bürger-„Journalist“ eine Erinnerung nicht unterdrücken, die sich nach fast drei Jahrzehnten meldet. Wahlkampf in Peru. Ein Machtwechsel zeichnet sich ab, höchste Anspannung im Lande. Wie heute in Deutschland ging es auch damals in Peru um nichts weniger als um „un futuro diferente“.

Ein Gespräch zur Mittagszeit in Lima. In einer angesehenen Institution. Deren Dekan ist ein allseits respektierter Unternehmer.

Vor ihm mit betretenen Gesichtern zwei Gäste. Sie wollten den Herrn Dekan zu einer wichtigen Vortragsveranstaltung begleiten, die am Abend mit Unternehmern des Landes stattfinden soll. Der eine Gast des Dekans ist ein junger, hochbefähigter peruanischer Politiker und Ökonom. Beide Gäste kommen mit einer Nachricht für den Herrn Dekan. Der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat Alan García hat soeben seinen Vortrag abgesagt. Seine Frau hat ein Mädchen zur Welt gebracht.

Selten habe ich ein Treffen so beeindruckt verlassen. Der Dekan, ein gewöhnlich umgänglicher, humorvoller Herr, hatte auf den Tisch geschlagen: „Wer, denkt der Herr Kandidat, wer er ist?“ Seine zornigen Worte etwa: „Claro que nuestras señoras dan a luz, para eso hacemos familia. Pero yo por lo menos no puedo permitirme de no cumplir con mis deberes. Hay gente que depende de mí. Qué falta de seriedad!“

Für den Herrn Dekan war eine Zusage eine Zusage. Punkt! Andere Länder, andere Sitten …