EU wohin?

Vielfalt sucht Einheit im Kompromiss. Deutungen des Kompromisses, der beim EU-Gipfel-Treffen vom 17. bis 21. Juli 2020 erarbeitet wurde, sind jedoch so unterschiedlich, dass der EU-Bürger um Orientierung ringen muss.

1. Ziel und Resultate des Corona-Gipfels

Da mag zunächst der Blick auf Ziel und Zahlenresultate des Gipfels helfen: *1)

  • Als neuer Finanzrahmen für den Haushalt der EU von 2021- 2027 (Multiannual Financial Framework (MFF)) wurden € 1 074.3 Mrd. vereinbart. Damit sind der EU die finanziellen Mittel zugewiesen, um ihre Ziele durch entsprechende Ausgaben zu erreichen: Sicherung des Gemeinsamen Marktes durch Förderung von Innovation und Digitalisierung (12.4 % Anteil); Förderung gleicher Lebensbedingungen (Kohäsion), Krisenfestigkeit und Werte (35.2 %); Umwelt- und Ressourcenschutz (33.2 %); Migration und Außengrenzschutz (2.1 %); Sicherheit und Verteidigung (1.2 %); Internationale Politik(9.2 %); Verwaltung der EU-Institutionen (6.8 %).
  • Ferner wird die EU-Kommission ermächtigt, bis zu € 750 Mrd. Kredit an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Ziel ist, mit diesen Geldern einen Wiederaufbau- (Recovery-) Fonds (Next Generation EU, NGEU) auszustatten, um die sozial-ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie zu überwinden. Ab 2028 bis 2058 sind diese Schulden zurückzuzahlen. Für die EU-Mitgliedsländer und ihre Wirtschaftszweige werden entsprechend ihrem Schaden durch die Corona-Krise € 390 Mrd. als nicht-rückzahlbare Zuschüsse und € 360 Mrd. als Kredite bereitgestellt.

Beide EU-Finanzierungsinstrumente, MFF und NGEU, tragen auch zu den klimapolitischen Zukunfts-Zielen der EU bei, indem 30 % ihrer Gesamtausgaben an diese Zwecke gebunden werden, d.h. bis zu € 547 Mrd.. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) erklärte, so viel Klimaschutz habe es noch nie in einem EU-Haushalt gegeben.

2. Hart erkämpfter Kompromiss

Alle 27 Staats- oder Regierungschefs der EU hatten nach dem mehrfach verlängerten Gipfel betont, für ihr Land viel erreicht zu haben.

Der Gipfelkompromiss musste einstimmig gebilligt werden. Somit war es für jeden Staats- oder Regierungschef notwendig, der Wählerschaft des Landes das Ergebnis als Erfolg seiner oder ihrer Verhandlungskraft darzustellen — gleich ob das Land eher zur Empfänger- oder zur Geberseite des “Next Generation EU-Fonds“ (NGEU) gehört. Entsprechend unterschiedlich waren die Begründungen für den sicher mühsam erreichten, als Erfolg zu präsentierenden Gipfelkompromiss:

  • Frankreich/Deutschland: historisch (Macron) zusammengerauft (Merkel). Deutschland wird von den € 390 Mrd. nicht rückzahlbarer Zuschüsse des NGEU-Fonds, die zu 53 % an Frankreich (€ 51 Mrd.), Italien (€ 85 Mrd.) und Spanien (€ 71 Mrd.) fließen, etwa € 105 Mrd. zahlen. *2)
  • In EU-“Südländern“ unter Frankreichs Führung wird der Kompromiss meist als historische, beispiellose Geste europäischer Solidarität gewertet. Verdiente Anerkennung für hohe Finanzhilfen aus dem NGEU für besonders hart durch Covid-19 getroffene europäische Länder. Einschließlich der Kredithilfen soll z. B. Italien insgesamt € 209 Mrd. erhalten. „Wir müssen uns jetzt beeilen, wir müssen das Geld für Investitionen und Strukturreformen ausgeben“, kündigte Italiens Regierungschef Conte an. “Italien habe seine Würde und seine Autonomie bewahrt.“ *3) Gerade Frankreich und die südeuropäischen Empfänger-Länder der schuldenfinanzierten Coronahilfen eint seit längerem die Ablehnung finanzpolitischer Solidität im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes für die gemeinsame Eurozone.
  • Die “frugalen Fünf“ (Dänemark, Finnland, Niederlande, Österreich, Schweden) betonten ihren Beitrag zum Kompromiss: Macron und Merkel hätten € 500 Mrd. an direkten Zuschüssen vorgeschlagen, das wurde auf € 390 Mrd. reduziert; “Schlimmeres“ sei somit verhindert, für die Steuerzahler aller EU-Geber-Länder viel Geld gespart worden.
  • Osteuropäer (v.a. Polen, Ungarn): Finanzhilfen aus dem EU-Haushalt (MFF) und dem Wiederaufbau-Fonds (NGEU) konnten ohne rechtsstaatliche Auflagen durchgesetzt werden.

3. Gipfel im Widerstreit — Erklärungsversuch

Beim Coronagipfel hatten auf der einen Seite Merkel und Macron, der zuvorderst die Interessen der EU-“Südländer“ vertrat, und auf der Gegenseite die “frugalen Fünf“, v. a. von Rutte und Kurz geführt, um ihre Positionen gerungen.

Mit unterschiedlicher Zugehörigkeit/Nähe zu Parteien oder Parteifamilien hatte dieser Widerstreit anscheinend nichts zu tun. Das Gleiche gilt für die Zugehörigkeit zur Euro-Zone, die auch belanglos im Interessenstreit erschien.

Dies wird deutlich bei den “frugalen Fünf“: Dänemark (Nicht-€; sozialdemokratisch und sozialistisch regiert); Finnland (€-Zone; sozialdemokratisch und grün regiert); Niederlande (€-Zone; von liberal-konservativer VVD, linksliberaler D 66 und zwei christdemokratischen Parteien regiert); Österreich (€-Zone; schwarz-grüne Koalition); Schweden (Nicht-€; sozialdemokratisch und grün regiert).

Während die Staats- und Regierungschefs den von ihnen sicher hart erarbeiteten Kompromiss insgesamt positiv vertraten, ist die Kommentarlage im Medienecho oppositioneller Stimmen und zivilgesellschaftlicher Kritik ziemlich erbittert zwischen “zu viel“ und “zu wenig“ europäische Solidarität und Umverteilung. Dies mag eine Auswahl entgegengesetzter polemischer Zuspitzungen illustrieren:

  • Erstens, einerseits wird kritisiert: Bruch des EU-Rechts und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes; Ende der staatlichen Eigenverantwortung, die europäische Schulden- und Transferunion drohe; von finanzpolitisch solide wirtschaftenden Ländern werde Solidarität verlangt von denen, die durch Schuldenpolitik die Solidarität mit EU-Recht und dem Gebot finanzpolitischer Solidität des Stabilitäts- und Wachstumspaktes missachteten. Zu befürchten sei, dass die Solidarhilfe nicht für Investitionen in Gesundheit und Wirtschaftsreformen investiert, sondern zum temporären Stopfen der Haushaltsdefizite genutzt werde.
  • Zweitens, die Gegenkritik ist ebenso scharf: Auf dem “Gipfel der nationalen Egoismen“ (Volksstimme Magdeburg) *4) sei die notwendige Solidarität geschwächt worden; europapolitische “Schnäppchenjäger“ (Presse, Wien) hätten die EU als “Klub der Gleichgesinnten“ beschädigt; europäische Solidarität werde nur noch zum Billig-Tarif akzeptiert, Rabatte vom EU-Haushalt-Beitrag würden dennoch eingefordert. Insbesondere gegen die “frugalen Fünf“ sind auch bekannte deutsche Politiker in unsäglicher Weise hervorgetreten: “Reichtumsseparatisten“ (Martin Schulz, MdB, SPD) und “Einstimmigskeitsprinzip ist Erpressungsprinzip“ (Elmar Brok, ehemaliges MdEP, CDU).

Sieht man von vagen “Rechts – Links“-Kategorien als Erklärungsversuch für diese bitteren Beschuldigungen ab, lässt sich mit Vorbehalt annehmen:

Die erstgenannten Kritik-Positionen werden umso wahrscheinlicher eingenommen, je größer die Skepsis gegen die EU-Vision der “Vereinigten Staaten“ ist, und je beharrlicher am derzeitigen “EU-Kooperationsverbund“ sowie an fiskalpolitischer Solidität und Selbstverantwortung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes festgehalten wird.

Die zweitgenannten Kritik-Positionen werden dagegen umso wahrscheinlicher eingenommen, je stärker die Vision der “Vereinigten Staaten von Europa“ sowie die solidarische “Sozialunion“ befürwortet werden, und je intensiver finanzpolitische “Austerität“ sowie der Stabilitäts- und Wachstumspakt als zerstörend für den Zusammenhalt der EU abgelehnt werden.

Jeder Bürger mag seine Position in den beiden Gegensatz-Paaren selbst bestimmen:

  • “EU als Bundesstaat“ vs. “EU als Kooperationsverbund eigenständiger Staaten“ und
  • “EU als Sozial-, Transfer- und Schuldenunion“ vs. “EU als Union finanzpolitischer Solidität im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verantwortlicher Mitgliedsstaaten“.

4. Europäische Vielfalt ohne Einheit?

In diesem Beitrag wird das orientierende Fazit zwei Presseurteilen zuerkannt:

  • DER TAGESSPIEGEL aus Berlin: „750 Milliarden Euro Corona-Hilfe plus 1,1 Billionen EU-Budget zu beschließen, zum Gutteil auf Pump, war der leichtere Teil. Die Mittel effektiv im Kampf gegen die Corona-Rezession einzusetzen und die Schulden zurückzuzahlen, wird schwieriger. Viele Fragen bleiben offen. Die sogenannten ‚Sparsamen Fünf‘ verdienen nicht Tadel, sondern Dank, dass sie diese Fragen hartnäckig gestellt haben. Die EU hat große Summen mit großartig gleichgesetzt. Die 27 haben zudem ‚wie gewohnt‘ die Arbeit am Kleingedruckten versäumt: Es gibt keine effektive Kontrolle der Mittel, keine klaren Bedingungen für die Empfänger.“ *5)
  • DAGENS NYHETER aus Stockholm: „Die Sparsamen wollten durchsetzen, dass Empfängerländer die Rechtsstaatsprinzipien akzeptieren müssen. Auch daraus ist nichts geworden. Für Merkel und Macron war der Wiederaufbaufonds wichtiger, als dass sich Orbán und seine polnischen Freunde an die demokratischen Spielregeln halten. Frankreich ist der Sieger dieses Gipfels, gemeinsam mit Italien, Polen und Ungarn. Grund zum Jubel besteht da nicht.“ *6)

Die europäische Vielfalt hat die Einheit nicht gefunden.

Den “frugalen Fünf“ wurde für ihre Forderung nach rechtsstaatlichen Auflagen für autoritär geführte Empfängerländer wie Polen und Ungarn Verzögerungstaktik unterstellt. Die Gegenseite wiederum nutzte die von den “frugalen Fünf“ durchgesetzten Einsparungen bei den Transfers, um genau jene EU-Zukunftsprojekte zu kürzen, die diesen wichtig waren: Klima-, Umwelt-Projekte, Förderung der Digitalisierung.

So wird der Preis europäischer Vielfalt hoch getrieben. Und gerade deshalb: Wenn Einheit der EU französisch-deutsche Dominanz bedeutet, dann ist es umso wichtiger, dass die kleinen Länder durch das Einstimmigkeitsprinzip geschützt werden.

Die kleinen Länder, so Botschafter Wolfgang Ischinger, „haben gezeigt, dass es auch auf sie ankommt. Die autoritäre Phase der EU, in der Frankreich und Deutschland bestimmen, wo es lang geht, ist vorbei. Für die innere Hygiene, für den inneren Frieden der Europäischen Union, muss es gar nicht schlecht sein.“ *7)

Durch den Corona-Gipfel mag die EU sich temporär ein Stück in Richtung Bundesstaat und Transferunion bewegt haben. Die Selbstbehauptung der kleinen Länder scheint jedoch gesichert. Damit bleibt auch die Vielfalt auf der Suche nach Form und Umfang künftiger Einheit in der EU bestehen.

EU wohin? Zum Glück bleibt diese Frage offen.

*1) „Our Deal is a Symbol of a Strong and United Europe“. 21/07/2020; https://eeas.europa.eu/delegations/united-states-america/83212/our-deal-symbol-strong-and-united-europe_en. RS Hinweis: Um die offizielle deutsche Übersetzung des „Recovery-Fonds“ als „Wiederaufbau-Fonds“ wird von einigen Kritikern ein übertriebenes Gewese veranstaltet; selbst ein so renommierter Fachmann wie der ehemalige EZB-Chefökonom Stark gibt sich dazu her. Bezeichnend ist, dass keiner dieser Kritiker eine genauere, kurze und einprägsamere Übersetzung angeboten hat.

*2) Vgl.: euro-topics PRESSESCHAU VOM 22. JULI 2020: Einigung in Brüssel: Der Gipfel der Zugeständnisse. Quelle La Stampe zu Hilfen für Italien. Zahlen zu den nicht rückzahlbaren Zuschüssen (Grants) finden sich bei: ZSOLT DARVAS. Having the cake, but slicing it differently: how is the grand EU recovery fund allocated? DATE: JULY 23, 2020; Tabelle 2; https://www.bruegel.org/2020/07/having-the-cake-how-eu-recovery-fund/. (RS Hinweis: Deutschlands Beitrag zu den NGEU-Zuschüssen von € 105.3 Mrd. entspricht weitgehend seinem Anteil an der Wirtschaftsleistung (BIP=Bruttoinlandsprodukt) der EU. Dieses BIP-Anteils-Kriterium gilt auch für den Beitrag zum EU-Haushalt: ungefähr ein Viertel.)

*3) EU-Gipfel: Corona-Hilfspaket steht – Merkel handelt Sonderzahlung aus. Dienstag, 21.07.2020; https://www.focus.de/politik/ausland/harte-verhandlungen-in-bruessel-eu-gipfel-corona-hilfspaket-steht-merkel-handelt-sonderzahlung-aus_id_12224523.html

*4) 21. Juli 2020. Blick in die Zeitungen von morgen. Zentrales Thema in den Zeitungskommentaren ist das Ergebnis des EU-Sondergipfels in Brüssel. https://www.deutschlandfunk.de/

*5) 22. Juli 2020. Die Wirtschaftspresseschau. Die mühsam erreichte Einigung der EU-Staats- und Regierungschefs auf den Corona-Hilfsfonds und den Gemeinschaftsetat für die nächsten sieben Jahre ist natürlich auch in den Wirtschaftsredaktionen das beherrschende Thema. https://www.deutschlandfunk.de/

*6) 22. Juli 2020. Die internationale Presseschau. Das große Thema ist der EU-Sondergipfel, auf dem die Staats- und Regierungschefs den Haushaltsrahmen für die nächsten sieben Jahre sowie das Wiederaufbauprogramm gegen die Folgen der Corona-Pandemie beschlossen haben. https://www.deutschlandfunk.de/

*7) Ischinger: Zusammenhalt in EU für globale Bedeutung immens wichtig. … Zum zähen EU-Sondergipfel sagte er: …  Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 21.07.2020.