Europäische Union: Geopolitischer Platz.

Der als Journalist und außenpolitischer Fachmann international ausgewiesene Stefan Kornelius hat über die EU als Wertegemeinschaft hart geurteilt.

Die EU nehme völkerrechtliche und rechtsstaatliche Regelbrüche hin, zeige sich damit handlungsunfähig und verliere die Glaubwürdigkeit als Werte- und Rechtsgemeinschaft.

1. EU — “Spirale der Schwächung“.

Kornelius sieht ein Verhaltensmuster, dass er als “Spirale der Schwächung“ unter deutscher Führung wertet. Angesichts unbestreitbarer europäischer Zurückhaltung scheint dieses Urteil hinreichend belegt durch:

  • Die Rechtsbrüche Chinas gegen das Volk der Uiguren, gegen den Autonomiestatus Hongkongs und gegen die territorialen Rechte von Nachbarländern.
  • Die Rechtsbrüche Russlands in der Ukraine, in Syrien und neuerdings, so Kornelius, die angebliche Zahlung von Kopfgeld an die Taliban, wenn sie Soldaten der westlichen Allianz töten.
  • Die Verletzung von Menschenrechten und Pressefreiheit durch die türkische Regierung. Und dennoch erhalte die Türkei als EU-Beitrittskandidat finanzielle Beitrittshilfen von der EU.
  • Die Missachtung rechtsstaatlicher Normen der EU sogar in EU-Mitgliedsländern wie Polen und Ungarn, ohne dass dies sanktioniert würde.

2. Deutsche “Führungsrolle“ — Werte gegen Interessen.

Die deutsche “Führungsrolle“ in diesem von Kornelius konstatierten Verfall des Einsatzes für Werte und Recht könnte durch Konflikte mit wirkmächtigen Interessen erklärt werden:

  • China ist vor den USA Deutschlands größter Handelspartner: Exporte nach (96 Mrd. €) und Importe (110 Mrd. €) aus China erreichten 2019 eine Summe von 206 Mrd. €. *2) Ausgeglichene Handelsbeziehungen mit China in solchem Ausmaß scheinen maßvolle Reaktionen der Bundesregierung gegenüber chinesischen Rechtsbrüchen zu fördern.
  • Bei den Völkerrechts- und Kriegsverbrechen Russlands gilt Ähnliches. Allen Widerständen unserer EU-Partner zum Trotz wurde nicht nur die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 1, sondern auch Nord Stream 2 durchgesetzt. Bundeskanzlerin Merkel wisse, „warum. Der rein aus wahltaktischen Erwägungen – um die Grünen nach dem Unglück von Fukushima kleinzuhalten – beschlossene sofortige Atomausstieg bedeutet, dass Deutschland ohne russisches Gas weder seine „Energiewende“ durchziehen noch seine CO2-Ziele erreichen kann.“ *3)
  • Bei der Türkei-Politik mögen mehr als drei Millionen in Deutschland lebende Menschen aus diesem Land Zurückhaltung rechtfertigen.
  • Polen dürfte stärkeren rechtsstaatlichen EU-Druck zumindest mit Widerstand gegen EU-Entscheidungen beantworten, wenn nicht gar mit dem EU-Austritt drohen. Nach dem Brexit, der im UK Kanzlerin Merkels Flüchtlingspolitik zugerechnet wird, wird Deutschland gegenüber Polen vorsichtig auftreten, sicher auch aus geschichtspolitischen Gründen.

Diese kurz skizzierte Interessenlage lässt fragen, ob eine harte wertebasierte Position Deutschlands  gegenüber China, Russland, der Türkei oder Polen überhaupt durchsetzbar oder durchzuhalten wäre.

Russland und erst recht Chinas Einstellung zu der Werte- und Rechtsordnung der EU dürfte zumindest mit Desinteresse beschrieben werden. Umso mehr, als beide Mächte die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands genau kennen.

Kornelius hat seine Analyse in einem traurigen Ergebnis zusammengefasst : „Die EU ist unter deutscher Führung in eine Spirale der Schwächung geraten, aus der sie nicht ausbrechen kann. Sie ist verzagt, ratlos und handlungsunfähig.“ *1)

Diesen trostlosen Befund zu erklären, heißt nicht, ihm zu widersprechen. Versuchen wir als illusionslose Bürger der “Zivilmacht“ Europäische Union damit zu leben. Ein Blick auf die Weltmacht China mag helfen, unseren geopolitischen Platz zu erkennen.

3. „China schafft alles, wenn es will.“

1941 charakterisierte Ernest Hemingway den damaligen US-Botschafter in Chongqing, Nelson T. Johnson, als einen Mann, „der keinen Gedanken ausspricht, der die Erfahrungen von weniger als dreitausend Jahren berücksichtigt.“ Hemingway zitierte einen dieser Gedanken Johnsons: „China schafft alles, wenn es will.“ *4), S. 208.

Von dieser Aussage war Hemingway zunächst überrascht. China, unter Staatspräsident/Generalissimus Chiang Kai-shek war 1941 in weiten Teilen von der Kriegsmacht Japans besetzt. Zugleich führten die Kommunisten unter Mao Tse-tung Bürgerkrieg.

Doch dann beobachtete Hemingway, wie ein chinesischer Bauingenieur, ausgebildet in den USA, im Auftrag Chiang Kai-sheks einen Flugplatz baute. Termingerecht in der Zeit vom 8. Januar bis zum 30. März 1941. In hügeligem Gelände. Mit einer makadamisierten Landepiste (150 m breit, 2 km lang), die das Gewicht der gewaltigen B17-Bomber aushalten musste. Ohne Technik wie Steinbrech- und Planiermaschinen. Mit Hunderttausend Arbeitern, die das Füllmaterial für die eineinhalb Meter dicke Tragschicht über Kilometer mit Körben heranschaffen mussten.

Hemingway: „Da oben im Norden wurde mir klar, was Mr. Johnson gemeint hatte … man sah das riesige Lager und den Bauplatz und sah die Männer bei der Arbeit, die die Pyramiden gebaut haben.“ *4), S. 208 ff.

Damals, im Jahr 1941, scheinen europäische Militärs und Diplomaten, zu deren Ausstattung bekanntlich das Monokel gehörte *5), noch abfällige Bemerkungen über Chinesen gepflegt zu haben. Hemingway sprach darüber mit einem chinesischen General. Der kommentierte mit einem Witz: „Wissen Sie, warum die … Monokel tragen? Damit sie nicht mehr zu sehen bekommen, als sie begreifen können.“ *4) S. 207.

Heute ist China auf der Siegerstraße im IT-Hi-Tech-Wettbewerb um Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Chinas Unternehmen erarbeiten sich auch bei qualitativ hochwertigen Innovationen führende Positionen auf den Weltmärkten. Chinas Universitäten graduieren pro Semester bis zu 15 Tausend IT-Ingenieure. „Allein die Masse an Ingenieuren, die in den letzten zehn Jahren in China ausgebildet worden sind, ist gigantisch.“ *6)

Die Weltmacht China trägt ihre Konflikte mit den USA um Handel und geopolitische Expansion auf Augenhöhe aus: Gegenüber US-Sanktionen zeigt China Vergeltung und volle Bereitschaft zur Eskalation.

4. EU — “Imperium der Zukunft“?

Was hätte die EU der Weltmacht China entgegen zu setzen? Wirtschaftliche Interessen und innenpolitische Sachzwänge haben längst die EU-Wertegemeinschaft auf außenpolitischem Gebiet fragwürdig gemacht: Von den Balkankriegen der 1990er Jahre, über das Händeringen angesichts der Völkerrechts- und Kriegsverbrechen Russlands bis hin zu Schweigen gegenüber Chinas machtpolitischer Rücksichtslosigkeit.

Der Autor Alan Posener hat die “Europäische Union als Imperium der Zukunft“ gefeiert. *3) Stefan Kornelius war noch 2015 überzeugt: “Militärische Macht hat an Bedeutung verloren, stattdessen erwächst neue Autorität aus einer moralischen und kulturellen Haltung.“ *7)

Beide Autoren mögen die heutigen Befunde machtpolitischer Brutalität als ebenso bedrückend empfinden wie die “Schwäche“ der “Zivilmacht EU“.

Aber ist dies das Ergebnis deutscher Führung? Wie sollte denn eine deutsche Führung in der EU auf der Grundlage von Werten durchgesetzt werden? Da doch die EU-Regierungen entweder den Interessen ihrer Länder folgen oder abgewählt werden.

Zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU stellt die Bundesregierung fest: „Die Außenpolitik (gehört) zu den Kernelementen nationalstaatlicher Souveränität. Deshalb haben sich die Mitgliedstaaten bei der GASP besonders abgesichert: Es gilt in der Regel das Prinzip der Einstimmigkeit. Die Staats- und Regierungschefs legen im Europäischen Rat die allgemeinen Grundsätze und Leitlinien der GASP fest. Sie können gemeinsame Strategien festlegen, die für alle Staaten bindend sind.“ *8) Dies klingt nicht nach deutscher Führung.

Die EU als “Imperium der Zukunft“? Für diese Sichtweise braucht man ein Monokel.

*1) Europa. Die EU ist unter deutscher Führung in eine Spirale der Schwächung geraten. China, Russland, Türkei, Polen: Die Europäische Union ist nicht mehr dazu fähig, ihre Werte zu verteidigen. Kommentar von Stefan Kornelius. 15. Juli 2020; https://www.sueddeutsche.de

*2) Statistisches Bundesamt. Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland. Jahr 2019; https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Aussenhandel/Tabellen/rangfolge-handelspartner.pdf. Hinweis: Die Summe aus Export (119 Mrd. €) und Import (71 Mrd. €) im Handel mit den USA erreichte 2019 190 Mrd. €.

*3) Europa. Wie deutscher Egoismus die EU zerstört. Die EU ist unverzichtbar. Aber Gerhard Schröder und Angela Merkel haben sie an den Rand des Ruins getrieben. Vielleicht ist weniger Europa in Zukunft mehr. Von Alan Posener. 17. Juli 2020; https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/europa-eu-deutschland-angela-merkel-eurokrise-griechenland/seite-2

*4) Ernest Hemingway. 49 Depeschen. Reportagen 1920 – 1956. Herausgegeben von Ernst Schnabel. Rowohlt Taschenbuch 1997. IV. Teil. 1941 -1944. Der Zweite Weltkrieg. Ostasien – Europa. S. 191 ff.

*5) Siehe: Auswärtiges Amt on Twitter. @AuswaertigesAmt · 17. Okt. 2017: „Ohne IT sind Diplomaten heute so hilflos wie früher ohne Monokel.“

*6) Interview von Philipp Löpfe mit Venture Capital Investor Michael Bornhaeusser. Die Chinesen haben den IT-Krieg schon gewonnen. 24.02.2019; https://www.watson.ch/wirtschaft/interview/905260503-die-chinesen-haben-den-it-krieg-schon-gewonnen

*7) Deutschland. Europas zögerlicher Hegemon. Deutschland ist Europas führende Macht, daran führt kein Weg vorbei. Berlin muss also einen Weg finden, mit dieser Macht umzugehen, ohne Europa zu zerstören. Ein Blick auf die USA könnte helfen. Von Stefan Kornelius. 26. Juli 2015; https://www.sueddeutsche.de/politik/deutschland-europas-zoegerlicher-hegemon-

*8) Vgl.: Die Bundesregierung. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). In einer globalisierten Welt können Probleme wie Klimawandel, Terrorismus oder Sicherheit der Energieversorgung nicht von einem Land allein bewältigt werden. Die Staaten der Europäischen Union (EU) können diesen Herausforderungen nur gemeinsam begegnen. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/sicherheit-und-verteidigung/die-gemeinsame-aussen-und-sicherheitspolitik-gasp–459258.