Fallensteller.

„Ich habe einen Auftrag für Sie,“ teilte Colonel R., ein leitender britischer Geheimdienstoffizier im Ersten Weltkrieg, dem Schriftsteller Ashenden mit.

„Haben Sie je von Chandra Lal gehört?“ „Nein, Sir.“ „Wo haben Sie in all diesen Jahren gelebt?“ „In Mayfair. Chesterfield Street Nr. 36.“ *1)

Der Schatten eines Lächelns huschte über R’s Gesicht: „Das ist er. Und hier ist sein Dossier. Er ist der gefährlichste Terrorist, mit dem wir innerhalb und außerhalb Indiens zu tun haben. Kopf einer Verschwörerbande, die zur Zeit in Berlin sitzt. Wenn ich ihn fasse, können wir den Rest vergessen. Nun sehe ich eine Gelegenheit. Der verdammte Narr liebt eine Tänzerin, Giulia Lazzari. Mit ihrem spanischen Pass konnte sie im Krieg in Berlin auftreten. Die Liebe ist offensichtlich gegenseitig. Die Deutschen haben Lazzari ausgewiesen, weil sie italienische Staatsangehörige ist und nach Holland abgeschoben. Wegen Spionage haben wir sie in sicherem Gewahrsam in Frankreich, dicht an der Schweizer Grenze, am Genfer See, in Thonon. Wir wissen aus den Briefen und Photos, die wir bei ihr fanden, alles über sie und Chandra Lal.“

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„Was ist mein Auftrag,“ fragte Ashenden. „Chandras Briefe an sie grenzen an Wahnsinn. Ich habe die Lazzari schreiben lassen, dass sie sich in Lausanne treffen können. Ihr Auftrag ist: Lassen Sie Lazzari Briefe an Lal schreiben. Bringen Sie ihn dazu, dass er nach Frankreich, nach Thonon kommt. Ich habe Lazzari im Gefängnis zugesetzt, sie ist zur Mitarbeit bereit — für einen neuen Pass und die Reisekosten nach Spanien. Es liegt an Ihrer Schreibkunst, Lal zu überzeugen.“

Ashenden übernahm den Auftrag für sein Land im Krieg. Er ließ Lazzari in seinem Hotel in Thonon unterbringen; der Geheimdienst überwachte jede Bewegung Lazzaris, unsichtbar aber wirksam.

Ashendens Arbeit mit Giulia Lazzari — ihre Briefe an Chandra Lal, der sich in Lausanne nach ihr verzehrte — bewies seine von Geheimdienstchef R. kalt kalkulierte und benutzte Vorstellungskraft, sein Einfühlungsvermögen in die Liebe zwischen Lazzari und Lal.

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Lal sträubte sich gegen die Reise nach Frankreich, die Lazzari verzweifelt damit begründete, dass sie an der Fähre in die Schweiz immer abgewiesen werde. Trotz ihrer Lage hatte Lazzari versucht, den britischen Geheimdienst zu täuschen: Sie hatte Fischer bestochen, sie in die Schweiz zu bringen. Sie hatte Lal heimlich geschrieben, ihn vor der Gefahr gewarnt, ihn beschworen, nicht zu kommen. Alle diese Versuche Lazzaris endeten in den Fängen des britischen Geheimdienstes. Chandra Lal flehte Lazzari an, einen Weg in die Schweiz zu finden, er könne die Küste Frankreichs sehen. Es waren herzzerreißende Briefe.

Drei Wochen vergingen; die Verzweiflung der Liebenden wuchs. Dann machte Ashenden Lazzari klar, dass es um ihre Existenz ginge. Er brachte Polizisten mit zum Gespräch, die sie ins Gefängnis zurückbringen würden. Er zeigte ihr die abgefangenen Briefe an Lal. Er stellt sie vor die Wahl: entweder Freiheit oder zehn Jahre Gefängnis. Nunmehr habe sie einen Brief zu schreiben, der bei Chandra Lal ankomme. Die Briten hätten an ihr kein Interesse, sie wollten Lal, versicherte Ashenden. „Sie müssen sich jetzt entscheiden. Ihr Leben oder das von Lal.“

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Giulia Lazzari war nach langen, qualvollen Wochen am Ende, ihre Gefühle erloschen, und plötzlich dachte sie praktisch: „Sagen Sie mir, was ich schreiben soll.“

Ashenden erkannte, warum R. ihm die Aufgabe übertragen hatte, es bedurfte nun kühler Kalkulation. Als Autor wusste er, dass Menschen in emotionalem Konflikt, melodramatisch und gestelzt reden. Auf der Bühne wirkt dies falsch, und man muss sie einfacher sprechen lassen.

Ashenden bedachte die Wirkung der Briefe auf Lal und diktierte Lazzari das letzte aufwühlende Schreiben: „Ich wusste nicht, dass ich einen Feigling liebte. Wenn Du mich lieben würdest, könntest Du nicht zögern, zu mir zu kommen. (Unterstreichen Sie das Wort „könntest“ zweimal, befahl Ashenden). Wenn ich es Dir doch verspreche, es gibt keine Gefahr. Aber Du hast Recht, nicht zu kommen, wenn Du mich nicht liebst.“

(Ashenden diktierte Lazzari wirre Ausbrüche ihrer Gefühle: über ein Engagement in Paris, ohne Geld in einem schäbigen Hotel zu lange auf Lal gewartet zu haben, sie habe zu viel Kraft für ihn geopfert.)

Der lange, fehlerhafte, mit Tränen benetzte Brief schließt: „Es ist zu Ende. Ich werfe Dir nicht vor, dass Du mich nicht liebst. Ich werde nach Paris gehen. Du musst einsehen, dass ich nicht so dumm sein kann, weiterhin mein Leben an Dich zu verschwenden. Man ist nicht für immer jung. Leb wohl. Giulia.“ *1)

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Ashenden ließ Chandra Lal diesen Brief zusammen mit dem sorgfältig wieder verschlossenen Brief Lals an Lazzari durch den eingewiesenen Boten zustellen. Die Briten warteten ab. Die Fähre kam.

Kaum legte sie an, rannte der Bote zu Ashenden. „Als ich ihm seinen ungeöffneten Brief und den von Lazzari brachte, hat Chandra die Fassung verloren. Er hat hemmungslos geweint. Er ist an Bord gegangen. Gleich wird er kommen.“

Der Kontrolleur an der Anlegestation bat Lal nach kurzem Blick auf den Pass in einen Nebenraum. Lal zögerte, doch musste er eintreten. Zwei britische Polizeioffiziere erhoben sich. Lal bat, seinen Mantel ablegen zu dürfen, dann stürzte er leblos zu Boden. Er hatte eine tödliche Blausäure-Kapsel genommen.

Ashenden wandte sich ab, ging zum Hotel und informierte Lazzari über Chandra Lals Ende. „Es tut mir sehr leid, dass ich mich so hart zu Ihnen verhalten musste. Sie sind nun frei. Ich hoffe, dass die Zeit Ihnen hilft, die Trauer um den Tod ihres Freundes zu verwinden.“ Er verbeugte sich und wollte das Zimmer verlassen.

Giulia Lazzari bat ihn um einen Augenblick Geduld. „Sie haben sicher ein Herz. Deshalb will ich Sie etwas fragen. Was passiert mit Lals Sachen?“ „Keine Ahnung. Warum?“ Lazzaris Antwort überraschte selbst den in allem Menschlichen erfahrenen Autor Ashenden und ließ ihn sprachlos zurück. „Er hatte eine Armbanduhr, die ich ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe. Sie kostete 12 Pfund. Kann ich sie zurück haben?“

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Hätten doch der saudische Journalist Jamal Khashoggi und seine türkische Verlobte Hatice Cengiz die Erzählung „Giulia Lazzari“ gekannt!

Hätten sie doch über die dort beschriebenen Geheimdienst-Methoden nachgedacht, über das schäbige Ausnutzen der Gefühle liebender Menschen.

Hätten sie doch über die Worte nachgedacht, mit denen der Geheimdienstoffizier R. seine Agenten beschrieb: „Some of them are filled with hatred for the people we are up against and when we down them it gives them a sort of satisfaction like satisfying a personal grudge.“ *1)

Dies und die in Saudi-Arabien erworbene Kenntnis der Geheimdienste hätten Khashoggi vielleicht vor dem Gang in das mörderische saudische Konsulat bewahrt. Hätte Hatice Cengiz auf die dort bereit gehaltenen Dokumente für ihre Heirat verzichten können?

*1) Die stark vereinfachte und verkürzte „Nacherzählung“ folgt der meisterhaften Kurzgeschichte von William Somerset Maugham: Giulia Lazzari.