Frankreichs Führung frivol?

Gleich vorweg: Sowohl Staatspräsident Nicholas Sarkozy als auch sein Herausforderer François Hollande sind nicht nur intellektuelle, sondern auch machtpolitische Großmeister Europas.

Beide wissen genau, was sie tun, wenn sie seit Wochen das rechts- bzw. linksextreme Politikspektrum bedienen.

Denn vor der 1. Wahlrunde am 22. April geht es darum, möglichst viel Schwung zu mobilisieren, damit in der 2. Runde am 6. Mai, ein Mitläufer-Effekt (Band-Wagon-Effekt) wirkt. Das heißt, dass die breite Mitte der Wähler sich dem voraussichtlichen Sieger zuwendet. Dies erfordert von den beiden Gegnern der 2. Wahlrunde, Sarkozy und Hollande, schon jetzt außergewöhnliche Fähigkeit zu politischem Kalkül und zu Bündnispolitik mit den Kleinparteien und ihren vorsitzenden Zähl-Kandidaten, die nach der ersten Runde ausscheiden werden.

Gegenstand dieser Verhandlungen sind v.a. die Wahlen zur Nationalversammlung (Assemblée Nationale) nach absolutem Mehrheitswahlrecht. Danach hat ein Kandidat seinen Wahlkreis in der ersten Runde am 10. Juni 2012 gewonnen, wenn er „mehr als 50 Prozent aller Stimmen und mehr als 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten bekommen hat.“ An der zweiten Runde am 17. Juni 2012 „dürfen dann die beiden bestplatziertesten und die Kandidaten, die mindestens 12,5 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten des Wahlkreises erhalten haben, teilnehmen.“ (s. Karl-Rudolf Korte,  Wahlsysteme im Vergleich, bpb.de/politik).

Professor Korte stellt zu diesem Wahlsystem fest: „Die Parteien eines politischen Lagers einigen sich meist darauf, im zweiten Wahlgang gemeinsam eine Kandidatur zu unterstützen … Welcher der Blöcke sich durchsetzen kann, hängt mit davon ab, ob sich die Parteien eines Blocks auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen können. Da das Klima zwischen den Parteien ständig wechselt, gelingt das mit unterschiedlichem Erfolg … Und auch wenn sich die Parteien einig sind, müssen die Wählerinnen und Wähler ihren Absprachen nicht folgen. Wächst die Distanz der Wählerschaft zu den Parteien, können daher überraschende Wahlergebnisse eintreten.“ **)

Dies Überraschungsmoment kann die Verhandlungskalküle sowohl bei den Präsidentschafts- wie bei den Parlamentswahlen über den Haufen werfen. Das macht die Wahlen 2012 im Nachbarland so spannend. Auch wegen möglicher Effekte auf die Bundestagswahl 2013.

Im Kontext der Wirtschafts-, Euro- und Staatsschuldenkrise urteilt der Economist (March 31st 2012) über die Wahlaussagen der Protagonisten Sarkozy und Hollande: „The West`s most frivolous election“. Begründung? Die Kandidaten äußerten sich kaum „über die ´dire economic straits` des Landes.“

Gemeint sind vor allem die Staatsverschuldung und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft. Andeutungen eines Vergleichs mit Deutschland werden französische Bürger nicht freuen. Die OECD-Länderstatistiken zeigen den Effekt der Agenda-Reformen, der Schuldenbremse und des Fiskalpakts in Deutschland (D) gegenüber Frankreich (F):

Öffentliche Schuldenquote (in % des BIP) 2010: 94% (F); 87 % (D).

Defizit öffentlicher Haushalte (in % BIP) 2010: – 7 % (F); – 3.3 % (D).

Import bzw. Export von Waren und Dienstleistungen (in % BIP): 27,8 % bzw. 25,5% (F); 40.8 % bzw. 46,1 % (D).

Ergebnis: Im Vergleich zu Deutschland hohe und kräftig steigende öffentliche Verschuldung durch die Lücke von 7 Prozent im Staatshaushalt und dazu das Außenhandelsdefizit, das verbesserungswürdige Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft anzeigt. Auch schwächere Außenhandelsorientierung wird deutlich.

Dazu zitiert der Economist Didier Migaud, Präsident des französischen Rechnungshofs (Cour des Comptes), eine der ältesten und geachtetsten Institutionen des französischen Staates: „Werden nicht in diesem oder im nächsten Jahr schwerwiegende Entscheidungen gefällt, könnte die öffentliche Verschuldung 2015 oder 2016 100% erreichen“ (A.a.O., S. 29, Übersetzung RS).

Frivoler Wahlprozess? Kurzschluss des Economist? Vielleicht nur der plakativen Formulierung des Titelblatts geschuldet. In Frankreich sind vielmehr ungeheuer scharf kalkulierende und verhandelnde Politikoperateure am Werk. Das ist majestätische Bürgerferne hinter den Kulissen. Und die Politikstrategen kennen ihre Wähler.

Frankreichkenner Klaus Hänsch beschreibt die kulturelle Gewissheit französischer Bürger: Von „les ils“, also von „´denen da oben` kommt alles Übel.“ (S.12) Die französischen Bürger, so wieder der Economist, sehen die „Globalisierung als Drohung statt als Quelle für Wohlstand“ (Economist, a.a.O., S.17). So ist unser Nachbarland und dennoch: „Die Franzosen haben ein ungebrochenes Nationalbewusstsein“ (K. Hänsch, a.a.O., S.10) *).

Wie positionieren sich die Protagonisten Staatspräsident Nicholas Sarkozy und sein Herausforderer François Hollande bei dieser Befindlichkeit ihrer Landsleute?

Nicholas Sarkozy, so berichtet heute der Deutschlandfunk, sehe die Agenda-Politik Gerhard Schröders, das Bewusstsein wirtschaftlicher Verantwortung deutscher Gewerkschaften und das deutsche System dualer Berufsausbildung als Leitbild für Reformziele in Frankreich.

Dazu der Kommentar François Hollandes: Die Agendareformen hätten viele Menschen in Deutschland arm gemacht. Das weiß er wohl von Sigmar Gabriel, mit dem er schon die strategische Partnerschaft „gegen den Neoliberalismus“ vorbereitet. Im gemeinsamen Interview informierten sie die deutsche und französische Öffentlichkeit (Libération, FAZ, 23.03.2012).

Zuerst gemeinsame Vergangenheitsbewältigung gegen Gerhard Schröder. Hollande: „Und dann kam Tony Blair und versuchte, Schröder politisch an sich zu binden. Dies alles hat in einem entscheidenden Moment verhindert, eine wirklich gemeinsame Politik von Sozialisten, Sozialdemokraten und Labour für Europa hinzubekommen, was ich stets bedauert habe.“

Gabriel pflichtet ihm bei: „Das war die Phase des sogenannten Dritten Weges, von dem ich heute denke, dass er auch ein Versuch war, einen sozialdemokratischen Mantel über teils neoliberale Projekte zu breiten.“ Diese Zeiten sind jetzt aber vorbei!

Denn die „Zeiten, in denen Sozialdemokraten und französische Sozialisten miteinander geredet und intensiv zusammengearbeitet haben, waren immer gute Zeiten. Und es waren bittere Phasen, wenn dieser Dialog abgebrochen ist.“ Und fast reumütig fügt er hinzu: „Ich kann nur für die deutsche Sozialdemokratie sprechen, und da stelle ich fest, dass wir Fehleinschätzungen korrigiert und uns neu ausgerichtet haben. Wir haben uns in der Vergangenheit gelegentlich zu stark an den neoliberalen Theologen orientiert.“

Kleinere Differenzen sind sicher in baldiger gemeinsamer Zukunft auszuräumen. So unterstützt die SPD den Europäischen Stabilitätsmechanismus; aber die sozialistische PS lehnt ihn ab. Dazu Hollande: “ Wenn es sich nur um den Europäischen Stabilitätsmechanismus gehandelt hätte, hätten wir zugestimmt, weil wir dieses Instrument für Länder brauchen, die in Schwierigkeiten sind, so wie Griechenland heute. Es wäre aber der Eindruck entstanden, dass unsere Unterstützung für den Stabilitätsmechanismus zugleich bedeutet, dass wir den auf Austerität ausgerichteten Fiskalpakt unterstützen. Diesen lehnen wir jedoch ab.“ Also finanzielle Hilfen: Ja! Sparen: Nein!

Aber auch in diesem Punkt zeigt sich SPD-Chef Gabriel verständnisvoll: „In der Frage des Fiskalpaktes teilen wir die Position der französischen Sozialisten. Denn es fehlt dabei eine starke Komponente für Wachstum und Beschäftigung.“

So durch deutsche Zustimmung ermutigt, wendet sich Hollande dem französischen Wähler zu, seinem eigentlichen Anliegen: „Mein Projekt ist sozialistisch, und ich bin Sozialist. Ich bin weder durch den Neoliberalismus verführbar, noch möchte ich einen Staat, der alles bestimmt, über die Köpfe der Bürger, der gesellschaftlichen Kräfte und der Tarifparteien hinweg. Ich bin kein gemäßigter Sozialist, auch nicht mäßig sozialistisch – ich bin einfach Sozialist.“

Zugleich zeigt der Politik-Meister für alle Fälle politische Beweglichkeit. Seine Botschaft an Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Ich würde mit ihr gut zusammenarbeiten, ich möchte keine Missstimmung mit Frau Merkel.“ Kalkulation auf deutsche Finanzhilfen?

Taktvoll verzichtet Hollande, die SPD für seine Projekte der „Neuverhandlung des Fiskalpakts“ und der „Änderung des Mandats der Europäischen Zentralbank“ zu vereinnahmen. Bekanntlich strebt Hollande an, dass die EZB den Staaten und dem Rettungsschirm bei Bedarf Kredit zu geben habe und für die Staatsschulden als letzter Kreditgeber hafte (s. FAZ, 18.03.2012). Schluss mit Unabhängigkeit der EZB! Da weiß er sich mit vielen linken Sozialdemokraten einig.

Wenn dann Peer Steinbrück dazu „Naiv“ sagt, mag dies nur den laut FAZ „ziemlich besten Freunden“ (26.03.2012) François und Sigmar zeigen, was für ein Partycrasher der Peer doch ist. Sigmar Gabriel auf der Seite des Siegers? Band-Wagon bis Deutschland?

Könnte Frankreich eine Wiederholung des Zick-Zack-Kurses wie bei Mitterand Anfang der 1980er Jahre erleben? Wenn Hollande als Staatspräsident erst Wahlversprechen austeilen und dann wieder einsammeln muss? Weil sich Finanzmärkte am Ende doch nicht „demokratisieren“ lassen. Weil Investoren sich zwar ungerührt beschimpfen lassen. Aber kühl entscheiden, wo ihre neuen Investitionen sicher und rentabel angelegt sind.

Könnte solche Politik eines Staatspräsidenten Hollande 2013 seinen SPD-Freunden in ihrem „Kampf gegen die Finanzmärkte“ auf die Füße fallen?

*) Klaus Hänsch, Frankreich, Eine Politische Landeskunde, Berlin 1976.

**) Zu dem erwähnten politischen Verhandlungsprozess 2012: s. Economist, March 31st 2012, S.31. Und vor allem die präzise Analyse bei: Peter Gey, Benjamin Schreiber, Frankreich vor den Präsidentschaftswahlen 2012 – Die Tücken des Wahlrechts und die schwierige Allianz der Linksparteien, Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, April 2012.