Gedemütigt durch Fußball?

 

Zur geschätzten Kommilitonin aus Hamburg, die selbst Fußballspiele gepfiffen hat, sage ich immer:

Zum Pfeifen bin ich zu blöd, zum Fußball-Spiel zu unbrauchbar. Das weiß ich seit sieben Jahrzehnten. Und dennoch gucke ich gerne Fußball im TV. So auch gestern.

1. Zur Debatte um die Bilanz des Bundestrainers Löw.

Weit entfernt von gedemütigter Stimmung, freute ich mich über ein kämpferisches Spiel der spanischen Nationalelf (La Roja). Die bessere Mannschaft muss gewinnen, das ist der Sinn des sportlichen Wettkampfes. “Die Mannschaft“ Deutschlands wurde mit 0 : 6 von der spanischen „La Roja“ deklassiert.

Jetzt wird über Nachfolger für den seit 2006 amtierenden Bundestrainer Joachim (Jogi) Löw spekuliert. Etwas voreilig, könnte man meinen.

2006 erfüllten sich hohe Erwartungen auf die Weltmeisterschaft leider nicht. “Poldi, Ballack, Schweini, spielt sie kurz und kleini“, hieß es damals bei BILD, glaube ich zu erinnern. Das Ziel der Weltmeisterschaft wurde bekanntlich 2014 erreicht.

Jogis Bilanz einige Jahre nach diesem großartigen Erfolg: Weltmeisterschaft 2018 — sehr früh gescheitert, mit den großen Namen, die heute dem Bundestrainer vorgehalten werden; UEFA Nations League 2018/2019 — Endrunde nicht erreicht; UEFA Nations League 2019/2020 — Endrunde nicht erreicht, an Spanien gescheitert. Düstere Aussichten für die EM 2021 und die WM 2022?

Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Bundestrainer Löw für “Die Mannschaft“ einen notwendigen Generationswechsel und Neubeginn unternimmt.

Der DFB-Direktor Oliver Bierhoff bilanzierte die Leistung Löws (allerdings vor dem Spiel gegen Spanien) deshalb mit optimistischem Ausblick: „In 15 Spielen gab es eine Niederlage, fünf Unentschieden und neun Siege. Und das in einer Phase des Neuaufbaus. Das spricht absolut für den Trainer“. *1)

Was ist nun zu der Niederlage gegen Spanien von den unzähligen Berufenen in den Medien zu hören? Zwei Beispiele reichen.

La Roja zerschmetterte Deutschland durch epochal kämpferischen Einsatz — ein Sieg für die Ewigkeit. Von der “Mannschaft“ Löws sei nur Asche geblieben, wird in Spanien gejubelt. *2) Mag sich Spanien über den hoch verdienten Sieg der La Roja freuen: Wir Fußball-Fans im TV-Sessel freuen uns mit!

Der gern erinnerte Fußballer und Experte Bastian Schweinsteiger (2006 von BILD “Schweini“ genannt) reiht sich ein in den Chor derer, die gegen den Willen Löws die Rückkehr von Thomas Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng in die Nationalelf fordern. Weil er die Leistung der deutschen Mannschaft im Spiel gegen Spanien als “entsetzlich“ bewertete. *3)

2. Generationswechsel für “die Mannschaft“ notwendig und dringend.

Diese über Dreißigjährigen würden mit ihrem hoch verdienten Status jedoch den fälligen Wechsel zu einer jüngeren Spieler-Generation verzögern. Und dies vor der EM 2021 und der WM 2022? Jogi Löws Strategie des behutsamen, aber konsequenten Generationswechsels könnte sich als dringend notwendig erweisen.

Außerdem: Wer hat Mannschaftskapitän Manuel Neuer (34 Jahre, FC Bayern München), der nicht nur geniale Torwart-Reflexe beherrscht, daran gehindert, die Abwehrkette mit Vereinskamerad Niklas Süle besser zu dirigieren? Wer hat den erfahrenen Toni Kroos (30 Jahre), der als Spieler bei Real Madrid die Spanier bestens kennt, daran gehindert, Ideen für Mittelfeld, Abwehr und Angriff an die Mitspieler zu vermitteln? Für Spitzen-Spieler wie Timo Werner (FC Chelsea), Ilkay Gündogan (Manchester City) und die Spieler des weltbesten Vereins, des FC Bayern München, Leon Goretzka, Serge Gnabry und Leroy Sané?

An internationaler Erfahrung und fußballerischer Qualität kann es der deutschen Mannschaft nicht gemangelt haben.

3. Mangelnde Konkurrenzanalyse des deutschen Trainerstabs?

Hat “die Mannschaft“ die spanische Nationalelf unterschätzt? Mangelnde Analyse des Konkurrenten Spanien und seiner bekannten Spieler als Ursache des Debakels?

Kaum denkbar bei Löw und seinem Trainerstab. Solche Fähigkeit und internationale Spielerbeobachtung ist Daueraufgabe. Immerhin ist es möglich, dass die Anforderung an Kommunikation und der psychische Leistungsdruck bei den jüngeren Spielern unterschätzt wurden.

Andererseits traut man Jogi Löw die angemessene Ansprache eines jeden Spielers zu, den er berufen hat. Löw gilt als außergewöhnlich gewissenhafter und umsichtiger Gesprächspartner für seine Spieler.

4. Spitzen-Vereine wichtiger als Nationalelf?

Vor dem Spiel unserer Nationalelf gegen die Schweiz hielt BILD eine Wette gegen Jogi Löw: Der Tatort-Krimi aus Wien werde mehr TV-Zuschauer anziehen als das gleichzeitige Spiel in Basel (Ergebnis 1:1). BILD gewann die Wette: „So brutal wurde ´König Fußball` entthront: 6,25 Millionen sahen das Spiel der Nationalmannschaft in Basel. Aber 8,26 Millionen den „Tatort“ aus Wien (Quelle Quotenmeter). So etwas wäre früher nicht vorstellbar gewesen.“ *4)

Natürlich sah ich das Spiel in Basel im TV, da ich ohnehin noch nie einen Tatort-Krimi geguckt habe. Also wenig Verständnis für den massenhaften Interessenkonflikt des TV-Publikums zwischen Fußball und Tatort-Krimi, den BILD richtig beurteilt hat.

 Vereins-Turniere (z.B. UEFA Champions League) zwischen Spitzen-Vereinen haben an Interesse bei Spielern und auch beim Publikum stark gewonnen. Vielleicht wirkt dies Interesse sogar zu Lasten der Spiele von Nationalmannschaften.

Könnte sich dies bei großen Turnieren wie der EM und der WM ändern? Setzt Löw darauf, dass dann junge Spieler die Chance ergreifen, sich internationale Karrieren durch äußersten Einsatzwillen aufzubauen?

Fußballspieler haben Glück, wenn sie ein Jahrzehnt den Wettbewerb in Spitzenvereinen körperlich aushalten. Sollen sie ihre Gesundheit in der Nationalelf aufs Spiel setzen? Wenn sie z. B. gegen Spanien, mit unerwartet entschlossenem Kampf-Fussball konfrontiert, in Rückstand geraten? Widerstand und härtere Zweikämpfe gegen eine solche Kämpfertruppe wie La Roja würden das Risiko einer Verletzung erheblich erhöhen. Was schulden sie den Vereinen, bei denen sie Multimillionäre werden?

Vielleicht stehen manche der älteren Spitzenspieler vor einem schweren Interessenkonflikt — zwischen dem Verein, der sie bezahlt, und der Nationalelf, die sie ehrt.

Können solche Interessenkonflikte von Spielern erklären, was sachkundige deutsche Sportjournalisten kritisieren: „Joachim Löw und seine Auswahl erlitten eine Klatsche, ein Debakel, eine Vorführung mussten sie hinnehmen, eine Erniedrigung, eine Demütigung. Unendlich ist die Liste der Defizite: Es gab keinen Widerstand, keine Körpersprache, keinen Zugriff, kein Zusammenspiel, keine Kombinationen, keine Abwehr, kein Mittelfeld, keinen Sturm. Keinen Fußball. Allenfalls einen Torhüter.“ *5)

Können wir von Profi-Fußballern verlangen: Erst das Land, dann der Verein? Solchen Anspruch nehmen wir nicht einmal den meisten Partei-Politikern ab.

Deshalb bin ich gegen die Forderung nach Rücktritt von Jogi Löw. Hört man Hier-Rufe von anderen Spitzentrainern? Bisher wohl nicht. Nur die Millionen Berufenen werfen Medien zufolge mit Namen um sich.

So bleibt manch` deutscher Fußball-Fan etwas ratlos, aber sicher nicht gedemütigt nach dem tollen Spiel der La Roja.

Mit Bob Dylan gesehen, sollte sich kein Fan, kein Spieler, erst recht kein Land durch eine Niederlage bei einem Fußball-Match gedemütigt fühlen:

„For the loser now / Will be later to win / For the times they are a-changin“ (Bob Dylan).

*1) „Vertrauen verspielt“. Bierhoff trifft überraschende Aussage über Löws Zukunft. 15.11.2020; https://www.mopo.de/sport/fussball/-vertrauen-verspielt–bierhoff-trifft-ueberraschende-aussage-ueber-loews-zukunft-37621010

*2) LIGA DE LAS NACIONES | ESPAÑA, 6-ALEMANIA, 0. España abochorna a Alemania. La nueva generación de la Roja lo borda con una goleada de época a la selección de Löw y jugará la fase final de la Liga de las Naciones. JOSÉ SÁMANO. 17 NOV 2020; https://elpais.com/deportes/2020-11-17/espana-abochorna-a-alemania.html

*3) Ex-Nationalspieler vermisst nach 0:6 die Qualität. Schweinsteigers deutliche Kritik: „Das war entsetzlich“. Nach dem 0:6 in Spanien wirkte sogar Bastian Schweinsteiger (36) ein bisschen fassungslos. Der Ex-Nationalspieler teilt die Meinung von Joachim Löw nicht. 18.11.2020; https://www.kicker.de/schweinsteigers-deutliche-kritik-das-war-entsetzlich-789999/artikel

*4) NACHGEHAKT-KOLUMNE. So schafft sich die
Nationalelf selbst ab. Kein TV-Hit! Nur 6,25 Mio. sahen das 1:1 von Jogis Jungs in der Schweiz. Weniger waren es zuletzt beim Confed Cup gegen Australien (3:2, 19.6.2017). Anpfiff war da jedoch auch schon um 17 Uhr. Artikel von: ALFRED DRAXLER, veröffentlicht am 07.09.2020; bild.de.

*5) Eine kommentierende Analyse von kicker-Chefreporter Karlheinz Wild. Analyse: Jetzt müssen die Weichen gestellt werden — klar und konsequent. 18.11.2020; https://www.kicker.de/analyse-jetzt-muessen-die-weichen-gestellt-werden-klar-und-konsequent-789996/artikel