Gemeinwohl.

Wir Bürger können mit unseren Bundestagsabgeordneten über die Parteivorlieben hinweg sehr zufrieden sein.

Das empfand ich wieder einmal bei der gestrigen Debatte im Deutschen Bundestag zur Vermögenssteuer. Es ging hart zu; aber eine Reihe von sachlichen Argumenten machten Zuhören und Nachlesen interessant.

Dem CSU-Politiker und Unternehmer, Herrn Dr. h. c. Hans Michelbach, MdB, wäre ich gern in seiner Ablehnung der Vermögenssteuer gefolgt. Jedoch störte mich, dass er dabei viermal den Begriff „Gemeinwohl“ bemühte. Davon dreimal, indem er anders denkenden Abgeordneten der Opposition „gemeinwohlwidrige“ Haltung vorwarf.

Heiterkeit kommt beim Bürger schon deshalb auf, weil Herrn Michelbachs Phrasen unmittelbar auf eine Sitzung von Bundestag und Bundesrat folgten, die unserem Gemeinwohl gewidmet war: der Vereidigung des Bundespräsidenten Joachim Gauck nach Art. 56 des Grundgesetzes, damit er seine „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes“ widme.

Die feine Ironie, mit der Bundestagspräsident Norbert Lammert anregte, diesen Tag „überparteilicher“ Gemütlichkeit zu genießen, denn es „kommen auch wieder andere“, erwies sich schon nach einer guten Stunde als gelungen.

Nun ist allerdings wahr, dass Herrn Michelbachs Gemeinwohl-Heuchelei durchaus „überparteiliche“ Züge aufweist. Auch der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, MdB, nutzt das „Gemeinwohl“ nicht eben selten für parteipolitische Polemik. Nichts gegen parteipolitische Polemik! Aber werft dem Gegner lieber Gemeinheit vor, als euch selbst in die Toga des Gemeinwohls zu hüllen.

Wie soll der Bürger denn – bleiben wir beim Thema Steuern – z. B. die folgende Aussage Gabriels bewerten? „Alle CDU/FDP-Steuermodelle bleiben sich treu: Oben gibt es ganz viel, in der Mitte und unten wenig bis nichts. Es ist und bleibt eine Klientel-Koalition, die sich um das Gemeinwohl nichts schert.“ (Welt am Sonntag, 27.06.2011, zitiert nach: spd.de, „Sigmar Gabriel im Interview“). Unsere SPD scheint richtig stolz zu sein, solche Sätze ihres Vorsitzenden dokumentieren zu können.

Das regt den Bürger-„Journalisten“ an, sich mit diesem so intensiv gebrauchten Wort etwas näher zu beschäftigen.

Das Staatslexikon*) hilft bei der Frage nach dem Gemeinwohl. Walter Kerber schreibt, das Gemeinwohl „´gehört zu jenen Begriffen, die überaus häufig gebraucht werden, ohne dass damit sonderlich klare Vorstellungen verbunden würden` (A. Mahr)“. Was der Nationalökonom Alexander Mahr in den 1960er Jahren feststellte, gilt wohl auch heute noch, folgt man der Definition der bpb (Gemeinwohl, www.bpb.de): „Obwohl es allgemein gesehen das gemeinsame Gute zweifellos gibt, bleibt strittig …“ – was es ist, um es kurz zu machen.

Zurück zum Staatslexikon und Walter Kerber. Gemäß der Definition des II. Vatikanischen Konzils entspreche dem Gemeinwohl „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen.“

Dies mag der Bürger sich so deuten: Sowohl organisierte Interessen als auch Individuen können in der Demokratie und ihrer pluralen Bürgergesellschaft darum ringen, ihre legitimen Ziele zu verwirklichen. Im Rahmen jener „Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens“, die das Gemeinwohl ausmachen.

Alexander Hollerbach (Staatslexikon, S. 862) stellt dazu fest, dass der Begriff Gemeinwohl „nicht aus dem Zusammenhang der verfassungsmässigen Ordnung und … nicht von dem Verfahren getrennt werden (darf, RS), in dem Gemeinwohl konkretisiert und aktualisiert wird … Dabei geht es i.d.R. um den Ausgleich zwischen individuellen Interessen und Rechtspositionen einerseits, öffentlichen Belangen und Erfordernissen andererseits, denen der Staat um seiner Aufgabe willen, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten, gerecht werden muss.“

Dieser „Gemeinwohl“-orientierte Ausgleich, sein rechtliches Fundament, sein politischer und zivilgesellschaftlicher Grundkonsens zur Regelung von Interessenkonflikten ist für die Stabilität unserer Demokratie von zentraler Bedeutung. In der gemeinsamen Erklärung der deutschen politischen Stiftungen von 1998 heißt es: „Der freiheitliche Staat … lebt aus der politischen Kultur, deren gesellschaftliche und politische Wurzeln sich seiner Gewalt entziehen. Politischer Diskurs und politische Entscheidung setzen Information und ethisch-politische Orientierung voraus.“

Die Erfahrung der Gewalt, die die Weimarer Republik zerstörte, wird diesen Satz geprägt haben. Eine Erfahrung, die weltweit und bis heute zu beobachten ist.

Der Träger des Nobelpreises für Literatur 2010, Mario Marqués de Vargas Llosa, hatte am 15. März 1984 zu seinem damals von Gewalt zerrissenen Vaterland Perú die folgenden Worte gefunden:

Der am Gemeinwohl orientierte gemeinschaftliche Grundkonsens hinsichtlich der Bindung der Staatsbürger und des Staates an das Recht, „an die Spielregeln, die das gesellschaftliche Leben, die Entwicklung und das Funktionieren eines Landes normieren müssen … ist für mich das Wesen der Demokratie. Die Demokratie als System der Koexistenz sich widersprechender Wahrheiten, die Demokratie als Gegenteil jener Systeme alleiniger Wahrheit, wird nur in dem Maße gestärkt, wie sich dieser Konsens festigt. Diese Akzeptanz der Spielregeln, der Rechtsordnung, die der Lösung der Probleme, der Korrektur der Ungerechtigkeiten, dem gesellschaftlichen Fortschritt dient, dieser Konsens existiert in unserem Land nicht“.**)

Das Gemeinwohl umfasst also fundamentale gemeinschaftliche Ziele und Werte: Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit. Ferner die Rechtsordnung und die Verfahren gemeinschaftlicher Verantwortung von Bürgergesellschaft und Staat gegenüber Konflikten. Gewalt und Hass können das Gemeinwohl und die Demokratie zerstören, wie die Erfahrungen mit der Weimarer Republik und der Demokratie in Perú gezeigt haben.

In der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat zur Vereidigung unseres Staatsoberhaupts am 23. März haben Bundestagspräsident Norbert Lammert und Bundespräsident Joachim Gauck dazu Sätze geprägt, denen in dieser krisenhaften Zeit bleibender Wert zukommt.***)

Bundestagspräsident Lammert: „Freie Gesellschaften erlauben nicht nur Widerspruch, sie brauchen ihn. Demokratie ist gerade kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, sondern ein Verfahren zur fairen Austragung unterschiedlicher Interessen und Meinungen.“ Getragen werde dies „Verfahren“ durch „unverzichtbaren Grundkonsens für den legitimen Streit in unserer Gesellschaft … ohne den es keine stabile und lebendige Demokratie gibt“.

Bundespräsident Gauck sprach von der „Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.“ Und er sprach vom „Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa … Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben … Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht, nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine ´wahre Schule` des Miteinanders auf engstem Raum. ´Mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben` – darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Europa gilt es .. zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar.“

Solch gemeinschaftliches „kostbares Gut“ (Joachim Gauck) ***) darf nicht im parteipolitischen Streit verschlissen werden. Politischer Streit ist notwendig. Aber nicht, indem unser Gemeinwohl in eher frivoler Anmaßung für den politischen Hausgebrauch verwendet wird. Bürger erwarten demokratische Streitkultur. Das heißt auch, dass Parteien sich ihres partikulären Charakters im politischen Wettbewerb bewusst sein sollten.

*) Band 2; 7. Auflage, Freiburg, Basel, Wien 1995, S. 857 ff.

**) INTERCAMPUS XI, Caminos para la Paz en el Perú, Universidad del Pacífico, Friedrich-Ebert-Stiftung, Lima, Perú, 15. März 1984, S. 7 (Übersetzung RS).

***) Bundestagspräsident Professor Dr. Norbert Lammert; Bundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck, Deutscher Bundestag, 23. März 2012.