Ghetto.

BILD fragte gestern: „Wiederholen sich die Fehler der Vergangenheit: Ghetto-Bildung, Parallelgesellschaften, No-go-Areas?“ *1) Vizekanzler Sigmar Gabriel hatte schon im Januar gewarnt, „wir kriegen richtige Ghettoprobleme“. *2) Wer hat diesen „integrationspolitischen“ Begriff in die Debatte geführt?

Das ist sicher kaum noch festzustellen. Aber auch aus der Sozialdemokratie mögen entsprechende „Anregungen“ gekommen sein.

BILD fasst die integrationspolitischen “Fehler der Vergangenheit“ in drei Begriffe: Ghetto, Parallelgesellschaften, No-go-Areas.

Staatsministerin Aydan Özoğuz, SPD, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, hat den Begriff „Parallelgesellschaft“ im Zusammenhang mit der Integrationspolitik für Flüchtlinge ad absurdum geführt. Im Phoenix-TV-Gespräch mit dem Moderator Ulrich Deppendorf *3).

Ihre Begründung: Parallelgesellschaften gäbe es viele und vor allem unterschiedliche.

„In meinen Augen ist die größte Parallelgesellschaft in unserem Land die zwischen den gut Verdienenden und den schlechter Verdienenden .. In Hamburg gibt es Stadtteile, die sind Parallelgesellschaften, die passen da sehr auf, dass nicht andere da rein ziehen können.“ *3) Nicht wenige Hamburg-Kenner werden Frau Özoğuz so verstehen: Hamburg-Blankenese ist eine Parallelgesellschaft und für Flüchtlinge ein No-go-Gebiet.

Moderator Deppendorf erwähnte eine politisch ignorierte Analyse und Warnung vor Problemen mit libanesischen Parallelgesellschaften. Das verkürzte Frau Özoğuz, indem sie Deppendorf unterstellte: „Sie sprechen von Banden, die kriminell werden … Das sind nicht alle Libanesen und es sind ganz sicher nicht alle Ausländer … Kriminalität ist auch eine Parallelgesellschaft.“ *3)

„Parallelgesellschaften“: Von gut Verdienenden, von Blankenese bis zur Kriminalität — damit wird der Begriff „Parallelgesellschaft“, wenn wir Staatsministerin Özoğuz folgen, für die integrationspolitische Debatte sinnlos und nicht verwendungsfähig.

Wenden wir uns zu den „No-go-Areas“ der BILD-Begriffe. Auch dagegen ist ein Sozialdemokrat eingeschritten: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. „No-go-Areas … das gibt es in Berlin nicht.“ *4)

Wenn es „No-go-Areas“ in Berlin nicht gibt, dann gibt es diese Gebiete nirgendwo in Deutschland.

Gemäß den Einwänden der Sozialdemokraten Aydan Özoğuz und Michael Müller bliebe somit von dem Begriffs-Trio der BILD-Zeitung nur „Ghetto“ übrig. Ist Vizekanzler Gabriel bei seiner Warnung vor „richtigen Ghettoproblemen“ *2) damit einer integrationspolitischen „SPD-Sprachregelung“ gefolgt?

Hier wird diese Verwendung des Wortes „Ghetto“ als Missbrauch gewertet. Als besonders schändlicher Missbrauch, wenn „Ghetto“ — wie bei BILD — gedankenlos im Zusammenhang mit dem Wort „Vergangenheit“ gebraucht wird.

Deshalb sei hier an „richtige Ghettoprobleme“ (Sigmar Gabriel) erinnert.

Erst 1993 fand Marcel Reich-Ranicki die Kraft, seine Autobiographie zu schreiben. Und damit einem Versprechen zu folgen, das ihm seine Frau Teofila „wenige Tage nach unserer Flucht aus dem Warschauer Ghetto .. abverlangt“ hatte. *5) Warum ist er „dieser Aufforderung nicht nachgekommen“? Warum hatte er sich „viele Jahre und Jahrzehnte widersetzt“?

Marcel Reich-Ranicki gab die Antwort selbst: „Denn ich hatte Angst. Ich wollte nicht das Ganze noch einmal in Gedanken erleben.“ *5, S. 555)

Seit der Zeit im Warschauer Ghetto hat Marcel Reich-Ranicki die Frage gequält: „Warum wurde ich nicht, wie das in den meisten anderen Fällen geschehen war, an Stelle meines Bruders verhaftet und ermordet. Eine vernünftige Frage — so will es scheinen. Dennoch ist sie absurd, und sie war auch nur am Anfang der Okkupationszeit denkbar, als wir die Besatzungsmacht und ihre Methoden noch nicht hinreichend kannten, als wir noch nicht wussten, dass die Deutschen, die unser Geschick in ihren Händen hatten, nahezu alle unberechenbare Wesen waren, fähig zu jeder Gemeinheit, jedem Frevel, jeder Untat. Noch hatten wir nicht begriffen, dass dort, wo sich zur Barbarei und zur Grausamkeit Zufall und Willkür gesellen, die Frage nach Sinn und Logik weltfremd und müßig ist.“ *5, S. 188)

Gerade erst seit 1999 liegt uns das Werk Marcel Reich-Ranickis vor, seine Zeugnisse über das Inferno des Warschauer Ghettos.

Und schon wird das Wort „Ghetto“ in Deutschland in Politik und Medien banalisiert. Dies darf sich Deutschland nicht erlauben.

Deutschland schuldet den Opfern des Nationalsozialismus eine Kultur der Erinnerung „Gegen das Vergessen“. Eli Wiesel hat uns in seiner Rede im Deutschen Bundestag dazu gesagt:

„Es gibt ein Bild, wie lachende Soldaten einen jüdischen Jungen in einem Ghetto umringen, wahrscheinlich in Warschau. Ich sehe es mir oft an. Was an dem traurigen und verängstigten jüdischen Kind mit den hoch erhobenen Armen amüsierte die deutschen Soldaten denn so? … Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz Teil Ihrer Geschichte sein, so wie es Teil der meinigen sein wird … Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.“ *6)

Bundeskanzler Willy Brandt kniete im Dezember 1970 vor dem Denkmal für die von Deutschen ermordeten Opfer des Aufstandes 1943 im Warschauer Ghetto. Damit bezeugte der große Sozialdemokrat für uns Deutsche Einsicht in unsere historische Schuld.

Gebt dem Wort „Ghetto“ den Platz und Rang, den Deutschland ihm schuldet!

*1) 11.04.2016. MARODE HÄUSER UND ARBEITSLOSIGKEIT. Ghetto-Report Deutschland. BILD ZEIGT DIE GEFAHREN EINER FALSCHEN VERTEILUNG VON ASYLBEWERBERN.

*2) „Wir kriegen richtige Ghettoprobleme“. Gabriel fordert: Staat muss den Flüchtlingen vorschreiben, wo sie leben sollen. Sonntag, 10.01.2016; http://www.focus.de/politik/deutschland/wir-kriegen-richtige-ghettoprobleme-gabriel-fordert.

*3) Diskussion: „Einwanderung ohne Einwanderungspolitik?“ Aydan Özoguz, Staatsministerin, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, MdB; Ulrich Deppendorf (Moderation), Journalist, TV-Moderator; https://www.civismedia.eu/events/civis-medienkonferenz-videos/. CIVIS Medienkonferenz am 13. Januar 2016 in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, 10117 Berlin

*4) OB MÜLLER IN „TAGESTHEMEN“: „KEINE NO-GO-AREAS“. Die Wahrheit über Kriminalität in Berlin. VON O. WEDEKIND UND V. REICHARDT; www.bild.de, 06.04.2016.

*5) Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999.

*6) Rede von Elie Wiesel (27.01.2000) in deutscher Übersetzung; http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/wiesel/rede_deutsch/247424.

**) Ghetto. Zum Verständnis dieses Wortes sei auf die folgenden Beiträge und Zitate verwiesen:

1.) Hinweis von Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, auf den Film „Ghetto. Deutschland, Litauen 2005. Regie: Audrius Juzenas. Buch: Joshua Sobol, nach seinem gleichnamigen Theaterstück.“ (Filmheft Ghetto, www.bpb.de/system/files/pdf/EU1DTW.pdf).

„Ghetto (Getto).

Historisch bezeichnet der Begriff in sich geschlossene, meist von Mauern umgebene jüdische Wohnviertel. Etwa im Jahr 1000 wurde von christlicher Seite das Zusammenwohnen mit jüdischen Mitbürgern/innen einer Stadt/eines Ortes verboten. Nachdem die Juden im 19. Jahrhundert die Staatsbürgerrechte erhalten hatten, entfiel in Europa für sie der Zwang, in Ghettos zu leben. Erst während des Nationalsozialismus wurde die jüdische Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten erneut gezwungen, in separierten Stadtvierteln, Ghettos („Judenvierteln“) zu leben. Die Ghettos waren komplett der deutschen Herrschaft und Willkür unterworfen. Das bekannteste Ghetto mit dem Ziel der „Judenvernichtung“ war das Ghetto von Warschau (1939-1943).“

„Winter 1941/42 in Wilna (Vilnius). Deutsche Truppen haben die Hauptstadt Litauens besetzt. Einst galt dieser Ort wegen seiner großen jüdischen Gemeinde als „Jerusalem des Nordens“. Hier hatte sich reiches jüdisches Geistesleben entfaltet. Jetzt ist die jüdische Bevölkerung in ein Ghetto gezwängt.“ (Dort spielt die Handlung des Films, RS).

Thomas Krüger: „Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb sieht die Medien nach wie vor
als Gegenstand kritischer Analyse an, weil Medienkompetenz in einer von Medien dominierten Welt unverzichtbar ist. Darüber hinaus werden wir den Kinofilm und die interaktive Kommunikation viel stärker als bisher in das Konzept der politischen Bildung einbeziehen und an der Schnittstelle Kino und Schule arbeiten: mit regelmäßig erscheinenden Filmheften wie dem vorliegenden, mit Kinoseminaren, themenbezogenen Reihen, einer Beteiligung an bundesweiten Schulfilmwochen, Mediatoren/innenfortbildungen und verschiedenen anderen Projekten.“

Dazu auch: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/geheimsache-ghettofilm/172547/video-geschichte-des-warschauer-ghettos.

2.) 500 Jahre Ghetto. Durch das venezianische Cannaregio. Von Rita und Rudi Schneider; http://www.deutschlandfunk.de/500-jahre-ghetto-durch-das-venezianische-cannaregio.1242.de.html?dram:article_id=343432, 24.01.2016.

„Das Wort Ghetto ist heute größtenteils aufgrund der geschichtlichen Ereignisse negativ besetzt, und das wird sicher noch lange so bleiben. Trotzdem, es ist der Mühe wert, sich auf die Suche nach dem Ursprung dieses Wortes zu begeben. Die Spur führt uns nach Venedig, genauer gesagt, in das Ghetto di Venezia.“

„Am 29. März 1516 erließ Leonardo Loredan, der zu dieser Zeit der Doge von Venedig war, ein Dekret, das einen Bereich der Stadt als alleinigen Wohnbereich der Juden definierte. Das war das erste Mal in der Welt, dass Juden das Recht hatten, aber auch gezwungen waren, in einem eingegrenzten Teil einer Stadt, die in diesem Fall durch drei Tore abgeschlossen war, zu leben. Das war das erste Ghetto der Welt.“

„Wenn Rabbi Bahbout seine Stimme in der Synagoge erhebt, ist das immer eine Feierstunde, sagen die Gemeindemitglieder. Nun steht das fünfhundertjährige Jubiläum des Ghettos von Venedig vor der Tür, aber das Wort „Feiern“ hat für den Rabbi zweierlei Bedeutung. „Die Juden in einem Ghetto einzuschließen, ist eigentlich kein Grund zu feiern. Nach 500 Jahren wollen wir reflektieren, was es bedeutete… und wir wollen auch nach vorne schauen. Wir beginnen jetzt die nächsten 500 Jahre.“