Harvards Jubel — Deutschlands Schaden?

Könnte sich dies als Wirkung der Festrede *1) herausstellen, die Bundeskanzlerin Merkel Ende Mai 2019 für Absolventen der Harvard University (Cambridge, Massachusetts) hielt?

Der angesehene Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln, Thomas Jäger, bewertete Merkels Rede als Provokation des US-Präsidenten Donald Trump, die Deutschland teuer zu stehen kommen könnte. *2)

Die deutsche Regierungschefin habe in ihrer “Commencement Speech“ politische Grundsätze in so bewusst krassem Gegensatz zu Präsident Trumps Politik vertreten, dass die Trump ablehnende Harvard-Elite begeistert zeigte, wie sie Merkels Rede verstand: „Ihr habt einen doofen Präsidenten. Und genau diese Haltung sollte keiner der Harvard-Absolventen mit in sein zukünftiges Leben nehmen. Nicht engstirnig sein, nicht ignorant, nicht unbedacht, eben: einfach nicht wie Trump.“ *2) Harvards Jubel — Deutschlands Schaden?

Folgen wir zunächst einigen Gedanken, die Bundeskanzlerin Merkel in ihrer “Commencement Speech“ den frisch Graduierten an der Schwelle zum Berufsleben widmete. Gedanken in solch offenem Gegensatz zu den Reden und tweets des Präsidenten Donald Trump, dass sie das überwiegend links-liberal denkende Auditorium der Harvard University immer wieder mitrissen.

Diktaturen und Mauern können fallen.

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Diese Worte Hermann Hesses haben Angela Merkel in einer für sie “frustrierenden“ Zeit inspiriert. Als sie mit 24 Jahren 1978 in der DDR ihr Physikstudium abgeschlossen hatte und von ihrer Arbeit in der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften jeden Tag “kurz vor der Freiheit“, an der Berliner Mauer, zu ihrer Wohnung abbiegen musste.

1989 geschah das scheinbar Unmögliche. Die Menschen in Polen, Ungarn, in der Tschechoslowakei und in der DDR erkämpften die Freiheit, und die Mauer fiel. “Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern“, formulierte Angela Merkel ihre Erfahrung des Scheiterns von Abschottung hinter Mauern … Die junge Harvard-Klasse 2019 hat dies als aktuellen Bezug zur Politik Trumps und gewiss als Ermutigung für ihre Zukunft verstanden.

Weltoffen denken und handeln.

Die Chancen des technischen Wandels und der Künstlichen Intelligenz, die heute vor den jungen Menschen liegen, “sind wahrhaftig atemberaubend“. Um diese Chancen zu nutzen, “müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch. Kurzum: gemeinsam statt allein.“

Diese Botschaft der Bundeskanzlerin und ihr offenkundiger Gegensatz zu der isolationistischen Politik und Rhetorik des US-Präsidenten Trump begeisterten das Auditorium der Harvard University.

Die Welt auch mit den Augen des anderen sehen.

Dies bedeute “Respekt vor der Geschichte, der Tradition, der Religion und der Identität anderer.“ Gerade deshalb müssen “wir fest zu unseren unveräußerlichen Werten stehen und genau danach handeln.“ Dieses an Werte gebundene, dem Innehalten und Nachdenken und gerade nicht erratischen Impulsen folgende Handeln erfordere den Mut und die Wahrhaftigkeit, “dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.“ Standing ovation für Merkel, gegen Trump.

Ignoranz und Engstirnigkeit würden zu “Mauern in den Köpfen“. Bundeskanzlerin Merkel rief dazu auf, diese Mauern einzureißen, die „uns immer wieder daran hindern, uns über die Welt zu verständigen, in der wir ja gemeinsam leben wollen.“

An der Harvard University — herausragend “dem Motto der Wahrheit“ verpflichtet als Ort des Lernens, Forschens und der Debatte — fand diese Anspielung auf das impulsive, polemische Agieren Präsident Trumps, gerade auch im Umgang mit Kritik, anderen Meinungen und Kulturen, große Zustimmung.   

Haltung der Offenheit.

Den Rat, mit einer Haltung der Offenheit in das künftige Berufsleben zu treten, kleidete die Bundeskanzlerin in ein Zitat aus ihrer ersten Regierungserklärung 2005: “Fragen wir nicht zuerst, was nicht geht oder was schon immer so war. Fragen wir zuerst, was geht, und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht wurde.“

Offenheit bedeute auch Risiko. Kein Neubeginn sei möglich, ohne das Alte loszulassen. Nichts müsse bleiben, wie es ist, alles sei möglich. Nichts sei selbstverständlich: Nicht unsere individuellen Freiheiten, nicht die Demokratie, der Frieden und auch nicht der Wohlstand. Und doch können wir: „die Erderwärmung stoppen. Wir können den Hunger besiegen. Wir können Krankheiten ausrotten. Wir können den Menschen, insbesondere Mädchen, Zugang zu Bildung verschaffen. Wir können die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen. Das alles können wir schaffen.“

Die Bundeskanzlerin schloss ihre Rede mit dem Wunsch an die junge Generation: „Tear down walls of ignorance and narrowmindedness, for nothing has to stay as it is. Take joint action – in the interests of a multilateral global world.“

Richtig, aber unklug?

Für Professor Thomas Jäger ist diese Frage eindeutig zu beantworten: „Ohne Donald Trump direkt zu erwähnen, machte sie (Bundeskanzlerin Merkel) ihn zum abschreckenden Beispiel in Sachen Engstirnigkeit, Unbedachtheit und Ignoranz.“ *2)

Merkel habe zwar die richtigen Positionen vertreten, etwa für aktive Klimapolitik und die multilaterale Zusammenarbeit. Aber sie habe durch den Beifall der liberalen Trump-Gegner an der Harvard University die Polarisierung verstärkt, von der Trump politisch profitiere. Ferner sei Merkels Auftritt vor besonders profilierten Trump-Gegnern in den USA  sicher nicht hilfreich, wenn deutsche Interessen gegenüber der Trump-Administration zu vertreten sind. Bezeichnend für die schlechten Regierungs-Beziehungen sei, dass es ein Treffen mit Donald Trump bei Merkels Amerika-Besuch nicht gegeben habe.

Gelegenheit zu einem Treffen zwischen Präsident Trump und Bundeskanzlerin Merkel gab es Anfang Juni im britischen Portsmouth bei dem Gedenken an den 75. Jahrestag der Landung alliierter Truppen in der Normandie gegen die nazi-deutsche Gewaltherrschaft. Über dieses Treffen wird berichtet: „Für Aufsehen sorgte, dass Kanzlerin Merkel und US-Präsident Trump bei ihrem jüngsten Treffen in Portsmouth sich nicht einmal mehr die Hand gaben. ´Desaströs` nennt US-Experte Thomas Jäger inzwischen das deutsch-amerikanische Verhältnis. Und kritisiert … die Kanzlerin heftig für eine Art Total-Opposition gegen den US-Präsidenten, die Deutschland ´teuer zu stehen kommen kann`“. *3)

Das deutsch-amerikanische Verhältnis: “Desaströs“?

Thomas Jägers Warnung ist sicher ernst zu nehmen. Aber jenseits aktuell befürchteter wirtschaftlicher Folgen ist das deutsch-amerikanische Verhältnis aus zeitgeschichtlichem Blick zu beurteilen. Denn das angeblich “desaströs“ zerrüttete Verhältnis war zuletzt 2003 zu besichtigen, kurz vor dem Irak-Krieg gegen Saddam Hussein. “Grober Unfug“, sagte der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt dazu, denn „Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierenden oder auch persönliche Auseinandersetzungen müssen nicht bedeuten, dass darunter gleichzeitig das Verhältnis zwischen den Völkern leidet“. *4)

Helmut Schmidt gelang es, die amerikanische Außenpolitik in historischer Perspektive zu analysieren. Immer hätten drei Tendenzen auf die Außenpolitik der USA gewirkt: der “Isolationismus“ (derzeit von Präsident Trump betrieben), die “internationalistische Tradition“ (Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg, Gründung der Vereinten Nationen (UN), der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF)) sowie die “imperialistische“ Politik (z. B. Vietnam-Krieg, Irak-Krieg),

Derzeit mag der demokratische Westen am Isolationismus des Präsidenten Trump leiden. Dessen erratische, impulsive tweets und maßlose Redesucht nehmen Fakten kaum zur Kenntnis. Präsident Trumps Worte und Gesten haben inzwischen einen Grad der Beliebigkeit erreicht, dass sie politisch nahezu bedeutungslos erscheinen.

In dieser Lage Europas und Deutschlands gegenüber der Weltmacht USA ist die Erinnerung an den Rat des großen Bundeskanzlers Helmut Schmidt wegweisend: Die Europäer werden auch Donald Trump und seine Art, Politik zu treiben, nicht ändern können. Sie sollten sie “in Würde ertragen“! *4)

Harvards Jubel — Deutschlands Schaden? Darauf kommt es nicht an.

Die Festrede der Bundeskanzlerin Angela Merkel für die Abschlussklasse 2019 der Harvard University galt einem anderen Amerika als dem, das Präsident Donald Trump propagiert. Angela Merkel hat den Graduierten der Harvard University Europas Werte und Würde vermittelt. Dies wird länger nachwirken als die tweets des Präsidenten Trump.

Auf Europas Würde kommt es an, auch in den transatlantischen Beziehungen.

*1) Rede der Kanzlerin im Wortlaut. Was Merkel in Harvard sagte. FREITAG, 31. MAI 2019; https://www.n-tv.de/politik/Was-Merkel-in-Harvard-sagte-article21059002.html

*2) ANGELA MERKELS HARVARD-REDE. Richtig, aber unklug. VON THOMAS JÄGER am 31. Mai 2019; https://www.cicero.de/aussenpolitik/angela-merkel-harvard-rede-trump-usa

*3) Treffen ohne Handschlag. „Desaströses Verhältnis“: Experte übt vernichtende Kritik an Merkels Umgang mit Trump. Zerrüttetes Verhältnis? Bei Treffen schütteln sich Merkel und Trump nicht mal die Hand. FOCUS-Online-Redakteur Ulf Lüdeke. Donnerstag, 06.06.2019, 14:18; https://www.focus.de/politik/ausland/treffen-ohne-handschlag-desastroeses-verhaeltnis-experte-uebt-vernichtende-kritik-an-merkels-umgang-mit-trump_id_10800232.html

*4) SPIEGEL-GESPRÄCH. „Das ist grober Unfug“. Ex-Kanzler Helmut Schmidt über das angeblich zerrüttete Verhältnis zwischen den USA und der Bundesrepublik, die angemessene Rolle der Deutschen – und das „alte Europa“, das sich nicht für Weltpolizei-Aufgaben instrumentalisieren lassen soll. 03.02.2003; https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-26270953.html