Hitzige Parlamentsdebatte — britische Art.

 

Was wohl nie im Deutschen Bundestag möglich ist, fand am 6. Juli 2022 im britischen Unterhaus statt.

Dort ging es so hoch her, dass ich den Rat des großen britischen Sozialdemokraten Gerald Kaufman erinnerte: Unterschätze bei Briten niemals den prägenden Einfluss, dass sie auf einer Insel leben. Will heißen: Befunde im UK, die aus “kontinentaler“, erst recht deutscher Sicht sonderbar oder widersinnig erscheinen, mögen dort üblich sein.

1. Starmers Moralkeule gegen den gescheiterten Johnson.

Ein Beispiel insular-britischer Eigenart bot die Art und Weise der besagten Unterhausdebatte.

Der Oppositionsführer Sir Keir Starmer (Labour Party) forderte nicht nur den Rücktritt des konservativen Premiers Boris Johnson, sondern rief das Land auf, die konservativen Unterhausabgeordneten (Members of Parliament, MPs) allesamt für einen politischen Neustart in die Wüste zu schicken. *1)

Dazu bot er den Vorwurf des “Party-Gate“ auf. Premier Johnson hatte bekanntlich wegen verbotener Feiern im Regierungssitz Downing Street 10 während des Corona-Lockdowns ein Strafgeld zu zahlen.

Diese Rücktrittsforderung konterte der Premier mit dem Hinweis, dass gegen Starmer selbst eine Ermittlung (“a criminal investigation“) wegen des gleichen Anlasses laufe, solche Anmaßung verstehe Starmer als politische “Integrität“. *1) Tatsächlich ermittelt die Polizei der Grafschaft Durham gegen Keir Starmer und die stellvertretende Labour-Vorsitzende Angela Rayner wegen möglichen Bruchs des Versammlungsverbotes während des Covid-19 Lockdowns. *2)

Dies mag Oppositionsführer Keir Starmer bewogen haben, die Attacke gegen Premier Boris Johnson vor allem auf den Fall der mutmaßlichen Belästigung eines jungen Mannes durch einen Regierungsminister zu konzentrieren. In seiner Parlamentsrede zitierte Starmer das Opfer wie folgt: “He grabbed my arse …“. Dabei ließ es Sir Keir keineswegs bewenden, sondern er fuhr fort, die Schilderung des Vorfalls detailreich zu würzen.

Schließlich fasste der Oppositionsführer sein Urteil über den Premier zusammen: *1)

  • Er ignoriere offensichtlich furchtbares Benehmen, dass in allen Bereichen des Lebens nicht hinnehmbar ist: vom Grapsch-Minister bis zur Innenministerin, die MitarbeiterInnen mobbe;
  • Er verschwende Geld der Steuerzahler und dulde Bestechung durch Lobbyisten;   
  • Er und seine Kumpane feierten im Lockdown ihre Partys, während die Menschen des Landes litten.

Jedes Regierungsmitglied, das alle diese Skandale bis jetzt verteidigte, das aber nun sein Heil im Rücktritt suche, habe aus Sicht Starmers nicht den Funken von Anstand.

Abschließend fragt Sir Keir das Unterhaus und die britische Öffentlichkeit: Sind wir jetzt Zeugen des ersten Falles, wo das sinkende Schiff vor der Ratte flieht?

2. Umfragen: kommender Wahlsieg der Labour Party?

Hat die moralische Entrüstung über Partys und Grapscherei, die  Labour-Chef Keir Starmer im Unterhaus ausgebreitet hat, auch eine Mehrheit der Konservativen angetrieben, Premier Johnson zum Rücktritt zu zwingen?

Minimum of fuss (Getue), maximum of humour and tolerance — wer an Engländern diese Eigenschaften erleben konnte, wird Starmers Entrüstung und ihre politische Wirkung skeptisch beurteilen.

Die wahre Erklärung für den Druck der “Parteifreunde“ auf Premier Johnson, sein Amt aufzugeben, könnte paradox scheinen und eher in dem großen Wahlsieg Boris Johnsons und der Konservativen vom 12. Dezember 2019 gesucht werden.

Die Konservativen holten damals 43.6 % der Stimmen gegenüber Labour mit 32.2 %. Sie gewannen im Rahmen des britischen Systems der Mehrheitswahl *3) 365 der 650 Sitze im Unterhaus — eine absolute Mehrheit (56 % der Sitze im Unterhaus), wie sie seit den 1980er Jahren nicht mehr erreicht worden war.

Den 365 konservativen MPs wird derzeit, etwa zur Mitte der Legislaturperiode (spätestens im Januar 2025 ist die nächste Wahl), bewusst geworden sein, dass Boris Johnson für seine Partei nicht länger eine Wahllokomotive ist. Bürgermeister von London (2008 – 2016), britischer Außenminister (2016 – 2018), Premierminister seit 2019 — eine so lange Zeit als Spitzenpolitiker führt wohl unvermeidbar zu Verschleiß im öffentlichen Ansehen. Der konservative Erdrutschsieg von 2019 war nicht zuletzt dem ideologisch rigiden und daher unpopulären Oppositionsführer Jeremy Corbyn (Labour) zuzurechnen.

Nach einer aktuellen Umfrage der BMG-Research, veröffentlicht am 06. Juli 2022, hat die Labour Party (42 %) gegenüber den Konservativen (32 %) einen Vorsprung von 10 Prozentpunkten erreicht *4). Dies muss die Konservativen alarmieren. Umso mehr als die Umfrage der BMG-Research für Boris Johnson eine Zustimmung von minus 44 Prozentpunkten ausweist: Danach sind 20 % der Wählerschaft mit der Leistung Johnsons als Premier zufrieden, 64 % dagegen erklärten ihre Unzufriedenheit.

Wollen die Konservativen die kommende Unterhauswahl gewinnen, müssen sie unverzüglich einen aussichtsreichen Premier aufbieten. Zumal Labours Keir Starmer noch längst nicht als kommender Wahlsieger feststeht. Seine “Netto-Zustimmung“ ist laut der BMG-Umfrage Null: 30 % der Befragten sind mit seiner Leistung zufrieden, 30 % erklärten ihre Unzufriedenheit.

3. Schluss

Der 6. Juli bot eine Parlamentsdebatte auf britische Art — ungeheuer brutal vom Oppositionsführer gegen einen bereits schwer angeschlagenen Premier geführt. Ihre Aussagekraft für die kommende Unterhauswahl?

Null! Wie die Nettozustimmung der BMG-Umfrage für Sir Keir Starmer.

*1) Keir Starmer: „So it is no longer a case of swapping the person at the top; is it not clear that the only way the country can get the fresh start it deserves is by getting rid of the lot of them?“; https://hansard.parliament.uk/Commons/2022-07-06/debates/D60848BC-D026-474D-943C-93136BC8D027/Engagements

*2) Keir Starmer investigated by Durham Police over allegations he broke Covid laws. Lizzie Dearden. Home Affairs Editor. Friday 06 May 2022; https://www.independent.co.uk/news/uk/crime/keir-starmer-investigated-covid-rules-b2073073.html. Es wurde berichtet: „Sir Keir was pictured drinking a beer with colleagues during campaigning for the Hartlepool by-election.“ Shadow home secretary Yvette Cooper defended the Labour leader and said the Durham incident was “very different from what we saw in government … This was a work event, it was in the middle of a local election campaign and it was eating a meal in an election campaign.“ Ferner wies Emily Thornberry, Labour’s shadow attorney general, darauf hin, dass die Polizei Durham „had been ´put under a lot of pressure` to investigate by Conservative MPs and right-wing news outlets.“

*3) Der MP-Kandidat mit der höchsten Zahl der Stimmen im Wahlkreis gewinnt und zieht in das Parlament ein.

*4) BMG. The i Poll: Labour holds 10-point lead on Conservative Party. Posted 6/07/22 in Polling; https://www.bmgresearch.co.uk/bmg-the-i-poll-labour-holds-10-point-lead-on-conservative-party/. (BMG ist Mitglied des British Polling Council, einer Vereinigung von Unternehmen der Marktforschung, deren Umfragen in den Medien veröffentlicht werden. BMG Research befragte vom 28. Juni bis zum 1. Juli 2022 1521 repräsentativ ausgewählte Erwachsene.)