Ich erinnere mich …

der Schlüsselsatz, bei dem Matthias Brandt als Sprecher heute vergessen ließ, dass der – ständig wiederkehrend – die Episoden einer Erinnerung seit der Nachkriegszeit einleitete.

Das Hörspiel des Monats „Das grüne Auge von Falun“ des Autors Stephan Krass vermöge die Hörerinnen und Hörer zur Selbstbefragung anzuregen, so die dradio.de-Jury.

Welche Wirkung das meisterliche Stück und der Sprecher hatten, mag dieser bescheidene Beitrag des Hörers S. ausdrücken und würdigen.

Zunächst wird die Erfahrung deutlich, dass etwa 5 Jahre Altersunterschied – hier zwischen dem Erzähler des Spiels und dem Hörer S. – in den 1940er Jahren drastische Differenzen in den Wahrnehmungen bewirken konnten. Es folgt die dadurch differierende Selbstbefragung des Hörers S. nach seinem „Zeitbild“.

Nach dem Krieg – die verständnislose Wut des kleinen Jungen. Als die Mutter den Offiziersdegen des wenige Monate zuvor gefallenen Paten-Onkel Willi und eine große rote Fahne zur städtischen Polizei bringen muss.

Später wurden aus zugeschütteten Brandteichen Waffen gebuddelt, vom 10-jährigen Horst geölt und mit der Bande im Wald ausprobiert. Ein Erwachsener drohte mit der Polizei. Der 4-jährige S., bis an die Zähne bewaffnet mit Revolver und rostigem Seitengewehr und befragt, was zu tun sei: „Umlegen!“ Horst, schon ein umsichtiger Anführer, diplomatisch: „Beim nächsten Mal, jetzt Rückzug.“

Ja, das „Grüne Auge“ am Radio faszinierte wie die Namen Hilversum und Beromünster. Aber dieser Gegenstand der verbotenen Spielerei hieß bei uns schöner: das „Magische Auge“.

Der Ort Falun war allein verknüpft mit Johann Peter Hebels ergreifendem Wiedersehen zwischen Greisin und ihrem jungen verunglückten Bräutigam. Der Bergmann wurde nach fünf Jahrzehnten aus dem eisigen Grab geborgen; von Eisenvitriol durchtränkt, sah er aus wie beim Abschied von seiner jungen Braut. Ein invalider Bergmann in der Nachbarschaft erzählte mühsam atmend diese Geschichte.

Die Lehrer. Manche hatten in beiden Weltkriegen kämpfen müssen. Zerhackte Gesichter. Dem einen fehlte ein Bein, dem andern der rechte  Arm.

Einem grundgütigen Menschen fehlte ein Auge. Das hinderte den einen oder anderen Bengel nicht, das Kriegstrauma dieses Lehrers auszunutzen, um die Stunde zu beenden. Unter der Bank wurde mit einem Streichholz gezündelt, was diesen besten der Lehrer regelmäßig um die Fassung brachte.

Ein anderer ganz ausgezeichneter Lehrer kam über das Erlebnis der Marneschlacht im September 1914 nicht hinweg. Morgens vom Gefechtsfeld zurück. „Vor mir die Sonne, hinter mir der Mond und rechts wie links bis zum Horizont ungezählt die gefallenen Kameraden.“

Die Mutter des Hörers S. brauchte nicht zur Höflichkeit gegenüber Schwerbeschädigten zu mahnen. S. hatte sie mit Entsetzen zurückkehren sehen, oft mit durchgebluteten Verbänden um den Kopf oder an Armen und Beinen.

Nur wenige Jahre älter und doch welche Unterschiede in dieser Zeit. Ein Klima der Angst in einem halbdunklen Gewölbekeller beim alten Zimmermeister Thorns in Nordstemmen. Vereinzelte Schüsse von außen. Warten. Auf die Schläge mit dem Gewehrkolben gegen die Holztür. Herr Thorns mit seinen verstümmelten Händen steht ruhig auf und öffnet: „Hier sind nur Frauen und Kinder.“

Riesig erscheinende, schwer bewaffnete schwarze US-Soldaten. Nehmen meinen Ball und spielen. Das Ende des Balls. Mit der Mutter beim Bäcker. Einer dieser Soldaten tritt ein. Der weiße Spitz kläfft. Der Soldat erschießt das kleine Tier, das bellte, weil es ihn nicht kannte. Hass, Hass, Hass! Nach Jahren drüber hin, durch die Freude am Blues.

In der Schule wurde nach dem Vater und seinem Beruf gefragt. Die Antworten monoton: in Gefangenschaft, gefallen, vermisst; fast schämten sich jene, die etwas anderes zum Vater sagen konnten.

Langsam konvergierten die Erinnerungen von Erzähler und Hörer. Schwimmen lernen usw. …

Aber einige Eindrücke stimmen definitiv nicht überein. Das Schlachten des Schweines – „infernalischer Gestank“? Keineswegs. Der Metzger führte das Töten mit Bolzenschuss und das Zerlegen des Schweins schnell, sorgfältig und vor allem sauber aus – mit Untersuchung auf Trichinen durch den Fleisch-Beschauer. Reinigen der Därme für die Füllung mit Blutwurst, Kopf-, Bregen-, Fleisch- und Mettwurst. Kein Gestank, es ging alles sehr hygienisch zu. Dann die unvergessliche Abendvesper mit Tante Mariechen, Onkel August und den anderen Lieben, die Nachbarn nicht zu vergessen. Mit warmem Bauchfleisch, frischen Würsten, würzigem Mett und dampfender Brühe.

Und die Anekdote vom Freund, der „versehentlich“ gegen den elektrischen Weidezaun gepinkelt habe und einen für´s Leben mitbekam? Keiner machte sowas unter ´ner Mark! Na gut, dichterische Freiheit dem glänzenden Autor Stephan Krass und dem kongenialen Sprecher Matthias Brandt.