Joschkas Rache.

„Ich hasse Mumien!“, bekannte Joschka Fischer *1) in seinen Memoiren.

Er meinte die Ruheständler des Auswärtigen Amtes (AA). Nun ist er selbst eine, aber mindestens so lebendig wie die Mumien der Gruselfilme. Sollte uns vor Joschka gruseln?

Dies scheint uns ein Beitrag von Thomas Schmid *2) nahezulegen, dessen Überschrift feststellt: „Joschka Fischers Rache am Auswärtigen Amt.“

Zum Verständnis solcher Motivation Fischers mag genügen, an die „Visa-Affaire“ zu erinnern. Gegen Warnungen aus dem AA habe Außenminister Fischer die Konsulate in Osteuropa angewiesen, Einreisen nach Deutschland zu erleichtern.

Die Folge war ein Zustrom auch von Schleuserbanden und ihren Opfern, der die Warnungen aus dem AA bestätigte. In Verbindung mit dem zum Schutz von Beschäftigten in Bordellbetrieben geschaffenen Prostitutionsgesetz entwickelte sich Deutschland – wie zur Zeit debattiert wird – zu einem der größten Rotlichtbezirke Europas.

In Joschka Fischers Memoirenband findet sich viel Erhellendes zum AA und seinen „Mumien“ (*1), S. 318ff.).

Beginn des Jahres 2005, wichtige Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen stehen bevor. „In den Reihen der SPD, vor allem aus Nordrhein-Westfalen, wurde nun versucht, die Visa-Affäre zur vorgreifenden Schuldzuweisung für eine drohende Wahlniederlage zu gebrauchen.“

Die Visa-Affaire brachte Joschka Fischer vor einen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, den der Bundesminister – wie man ihn kennt, ein wenig unparlamentarisch – „für ein rein politisches Kampfinstrument“ hielt.

Deshalb nahm er für sich gegenüber den Befragungen durch die damalige Opposition eine Entschuldigung in Anspruch, die ein ziemlich schräges Licht auf die kommenden „vergangenheitspolitischen“ Vorgänge und Bewertungen wirft: „Jeder erfahrene Richter weiß z.B. um die fragwürdige Belastbarkeit des Gedächtnisses und kann in der Regel sehr gut zwischen ´nicht mehr erinnern wollen` und ´nicht mehr erinnern können` unterscheiden.“ Für den Richter in eigener Sache, Joschka Fischer, galt natürlich die letztgenannte Variante lückenhaften Gedächtnisses.

Zu Recht ahnt der Leser der Memoiren, dass Joschka Fischer, wenn er über Beamte und Ruheständler (Mumien) des AA richtet, härter zur Sache des Gedächtnisses geht als im eigenen Fall. Damit kommen wir zur These Thomas Schmids: „Joschka Fischers Rache am Auswärtigen Amt.“

Der Leser staunt, wie bereitwillig Joschka den bekannten Kakao geliefert hat, durch den er später von Schmid und nicht wenigen anderen Journalisten oder Historikern gezogen wurde und wird.

Schon sein Ton lässt an die Erynnien denken: „Gleichzeitig mit der Visa-Affaire entwickelte sich noch eine ganz andere Affaire, die mich zwar betraf, recht eigentlich besehen aber eine hoch blamable Affäre für Teile des Auswärtigen Amtes und ganz besonders für die hochmögenden Pensionäre dieses Dienstes war. Noch heute … kann ich es eigentlich immer noch nicht fassen, wie sich diese ´Creme der deutschen Diplomatie i. R.` im Jahre 2005 – und nicht etwa 1965 – … meinte verhalten zu müssen. Im Amtsjargon wurden diese ehemaligen Botschafter, Staatssekretäre und sonstigen Exzellenzen ´Mumien` genannt – und zwar völlig zu Recht“ (*1), S. 322; Hinweis: Nicht wenige Pensionäre und auch einige amtierende Botschafter des AA protestierten öffentlich, als Fischer damals verfügte, ihren ehemaligen Kollegen im AA der Bundesrepublik nach dem Tode ein „ehrendes Andenken“ durch amtsinternen Nachruf zu verweigern, sofern diese Mitglieder der Nazi-Partei gewesen waren, RS).

Fischers Sicht auf diese neue Affäre scheint tatsächlich durch das von ihm beschworene Jahr 1965 geprägt, den Beginn seiner Rebellion als „1968er“ gegen den Nazi-Staat Bundesrepublik: „Ich hatte einem Nazitäter, der Blut an den Händen hatte, ein ´ehrendes Andenken` aussprechen lassen! Sein Name: Franz Nüßlein … im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren … war er … vor allem für die Bestätigung von Todesurteilen zuständig. Er soll an etwa 900 solcher Urteile beteiligt gewesen sein.“ (*1), S. 323). Thomas Schmid zitiert zu dem Fall Nüßlein eine neue Untersuchung des Historikers Daniel Koerfer *3): „Rufmord“ und „eine überhebliche und kalte ´damnatio memoriae`, eine Auslöschung aus der Erinnerung.“ *2).

Joschka Fischer hatte seine 1968er Rolle wiedergefunden. Thomas Schmid zitiert seine etwas pompöse Aussage: „Plötzlich stand ich in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968.“ Da kam die Nachruf-Affäre nach der Visa-Affäre gerade recht: „Das habe ich mir alles ein Weilchen angeguckt, dann hatte ich die Faxen dicke und habe diese Kommissionsidee ausgebrütet.“ *2)

Diese vom Außenminister Joschka Fischer „ausgebrütete Kommissionsidee“ führte am 11. August 2006 zu einem Kommissionsvertrag, der im Namen des AA durch Staatssekretär Georg Boomgarden unterzeichnet wurde. Die „Historikerkommission“ – Professoren Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes (Evanston, USA) und Moshe Zimmermann (Jerusalem) – erarbeitete mit der Unterstützung durch 13 Wissenschaftliche Mitarbeiter die 879 Seiten umfassende Studie „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“. *4)

Für meine Generation kann ich sagen, das Buch behandelt die Zeit unserer Mütter und Väter. In meiner Schulzeit hörte ich dazu von vielen Klassenkameraden, wenn der Lehrer nach dem Beruf des Vaters fragte, die Worte „gefallen, vermisst, schwerbeschädigt“. Auch deshalb habe ich dieses Buch intensiv durchgearbeitet.

Das Buch beginnt wie ein ganz anderes, von dem zuerst die Rede sei, mit dem „Datum ´1933: Hindenburg betraut Hitler`. Ein Erdbeben beginnt in 66 Millionen Menschenleben.“ *5)

An diesem Datum des Erdbebens im Leben unserer Eltern und deren Eltern, schreibt Sebastian Haffner 1939, begann sein „privates Duell mit dem Dritten Reich … Solche Duelle, in denen ein Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen übermächtigen Staat zu verteidigen sucht, werden seit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hunderttausenden ausgefochten – jedes in absoluter Isolierung und alle unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Manche von den Duellanten, heldischere oder märtyrerhaftere Naturen als ich, haben es weiter gebracht als ich: bis zum Konzentrationslager, bis zum Block, und bis zu einer Anwartschaft auf künftige Denkmäler. Andere sind schon viel früher erlegen und sind heute (1939, RS) schon längst still murrende S.A.-Reservisten oder N.S.V.-Blockverwalter *6). Mein Fall mag gerade ein Durchschnittsfall sein. Man kann recht gut an ihm ablesen, wie heute die Chancen in Deutschland für den Menschen stehen. Man wird sehen, dass sie ziemlich hoffnungslos stehen.“ (*5), S. 10-11).

Dies ist der Kontext – unentrinnbar für die Menschen unter der Nazi-Diktatur – nach dem Erdbeben von 1933. Noch gnadenloser wurde die Unterdrückung im Krieg. Noch totaler forderte der Staat von den Menschen, sich seinen Befehlen zu unterwerfen. Immer schmaler wurde der Grat zwischen Mitmachen und Absturz. Immer begrenzter die Möglichkeit auszuweichen, wenigstens im eigenen Wirkungskreis „anständig“ zu bleiben. Und dies galt für Nazis wie für die Anderen.

Hat die von Außenminister Joschka Fischer berufene Historikerkommission in ihrem Urteil über die Beamten des Auswärtigen Amtes unter der Nazidiktatur diesen Kontext fair berücksichtigt, mag der nicht in der Geschichtswissenschaft geschulte Bürger fragen.

Beschränken wir uns hier auf Kritik von Geschichtswissenschaftlern. Der Historiker Daniel Koerfer hat das oben zitierte Urteil gefällt – Rufmord, überhebliche und kalte Auslöschung aus der Erinnerung an eine Lebensleistung im Auswärtigen Amt. Er steht mit seinem Urteil nicht allein.

Es kam bald nach Erscheinen des Werkes „Das Amt und die Vergangenheit“ Ende 2010 zu einer „Historikerkontroverse … und die Kritik an der Studie und der Historikerkommission durch die Zunftkollegen war schonungslos. Es wurden ´massive Fehler` angekreidet … (wie der) Vorwurf fehlerhafter Interpretation von Quellen und allzu generalisierender, unzutreffender und überdehnter Schlussfolgerungen. Nicht nur für Koerfer war es ´schlichtweg Unsinn`, dass dem AA angesichts einer Unterredung von Hitler mit Außenminister von Ribbentrop ´die Initiative zur Lösung der Judenfrage auf europäischer Ebene untergeschoben wird`. Mommsen kritisierte, dass ´ohne den jeweiligen zeitlichen Kontext zu beachten in Form einer ´Enthüllungs`-Strategie mit ´eher marginalen` Einzeldokumenten operiert würde. Zudem sei die Tendenz der Studie, ´bei pauschalen Urteilen stehen zu bleiben`“. *7)

Insgesamt wurden die politische Unabhängigkeit der Historikerkommission und damit die inhaltliche Ausgewogenheit der Analyse infrage gestellt. Der Politikwissenschaftler Christian Hacke bemängelte, „dass ´die Verfasser kritiklos das Lied ihres Auftraggebers` singen. Am deutlichsten äußerte sich Koerfer, der eine ´Arroganz der späten Geburt` am Werke sah und das Verdikt aussprach, es handle sich bei der Studie um ´Tendenzliteratur` – es sei kein ´Buch der Versöhnung`, sondern ein ´Buch der Rache`“. *7)

Diese Historikerkontroverse nahm schließlich Formen an, die mit Wissenschaft nichts mehr zu tun haben.

So habe das Mitglied der Historikerkommission Eckart Conze in einem Interview das AA als „verbrecherische Organisation“ bezeichnet. „Auch unter den wohlwollenden Debattenteilnehmern gab es kaum jemanden, der Conze in diesem Urteil folgen mochte, selbst für Kommissionsmitglied Frei lenkte der Terminus ab. Dem Militärgeschichtsexperten Sönke Neitzel kam er gar einer ´Geschichtspornographie` gleich.“ *7).

Die Historikerkommission schürte auch Zweifel an der beruflichen Integrität der Archivare des AA, „dass sie nicht sicher sein könne, im Archiv des AA ´wirklich alle für ihre Arbeit wesentlichen Unterlagen zu Gesicht bekommen zu haben` … Der Berliner NS-Forscher Götz Aly bewertete dies als ´Denunziation`“. *7)

Lassen wir für eine vorläufige Gesamtwürdigung des Werkes „Das Amt und die Vergangenheit“ den britischen Historiker Sir Richard J. Evans, Cambridge University, sprechen.

Die Studie sei „´als wissenschaftliche Arbeit sehr mangelhaft` … der Blickwinkel fast ausschließlich auf den Holocaust verengt und die Rolle des AA überzeichnet sowie Schlüsselpunkte wie die Vorbereitung des Angriffskriegs ´fast ausschließlich außer Ansatz geblieben` … So sehr Evans den Abschnitt vor 1945 kritisierte, so sehr lobte er aber den der frühen Nachkriegszeit gewidmeten Teil und attestierte der Studie, ´trotz ihrer Unausgewogenheit und Mängel`, den Mythos vom ´Hort des Widerstands` erfolgreich zerstört zu haben. Dennoch bleibe ein ´Anschein von Hexenjagd`“. *7)

So hat „Joschka Fischers Rache am Auswärtigen Amt“ wohl doch einen bedeutenden Beitrag geleistet, für das Bild des AA in der Geschichte zu klären, wie es um Anspruch und Wirklichkeit bestellt ist. Und noch wichtiger: Die Debatte sollte uns Bürger angeregt haben, aus der Vergangenheit zu lernen, statt sie „vergangenheitspolitisch“ zu instrumentalisieren. Und Verfälschen, Verdrängen wie Vergessen nicht zuzulassen!

*1) Joschka Fischer, I am not convinced – Der Irakkrieg und die rot-grünen Jahre, Köln 1. Auflage 2011, S. 327.

*2) Thomas Schmid, Joschka Fischers Rache am Auswärtigen Amt, welt.de, 19.11.2013.

*3) Daniel Koerfer: „Diplomatenjagd. Joschka Fischer und seine Unabhängige Kommission und ´Das AMT`“, Potsdam 2013.

*4) Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff. Marburg, Jena, Evanston und Jerusalem im Sommer 2010.

*5) Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 bis 1933. Stuttgart, München 2000, S. 13.

*6) Siehe Wikipedia. SA : Sturmabteilung war „die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei, RS) während der Weimarer Republik und spielte als Ordnertruppe eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten, indem sie deren Versammlungen vor Gruppen politischer Gegner mit Gewalt abschirmte bzw. gegnerische Veranstaltungen massiv behinderte.“ NSV: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt; die „Struktur der NSV glich dem Aufbau der NSDAP mit Orts-, Kreis- und Gruppenverwaltungen. Sie untergliederte sich in sechs Ämter: Organisation, Finanzverwaltung, Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe, Volksgesundheit, Propaganda und Schulung.“

*7) Christian Mentel, Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit“, APuZ 32-34/2012; http://www.bpb.de/apuz/141909/die-debatte-um-das-amt-und-die-vergangenheit?p=all; 02.08.2012. (Übers. der Zitate von Evans aus dem Englischen, RS).