Jugendarbeitslosigkeit: Macht Wahlkampf faktenblind?

Kurz vor der Bundestagswahl lässt niemand mehr etwas anbrennen.

Quer über alle Parteien hinweg sahen wir heute im Deutschen Bundestag, wie sich die Spitzenpolitiker in „Sorge“ oder „Empörung“ angesichts der Jugendarbeitslosigkeit in Europa überboten.

Klaus Ernst, LINKE, schäumt: „unerträglicher Skandal“ wie jungen Menschen, „die sich nicht wehren können, die Menschenwürde geraubt“ werde.

SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gibt dafür Bundeskanzlerin Merkel die Schuld: „Die Jugendarbeitslosigkeit, von der Sie hier reden, und die hohe Arbeitslosigkeit insgesamt, Frau Bundeskanzler, sind eine direkte Folge der völlig einseitigen Sparpolitik, die Sie in Europa maßgeblich betrieben haben.“ *1)

Die 6 Mrd. EU-Mittel zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit – „ein Tropfen auf den heißen Stein“; Steinbrück will „mindestens 20 Mrd. Euro“ gegen die „Perspektivlosigkeit einer ganzen jungen Generation“ in Europa einsetzen.

Schon Ende Mai hatte der sachkundige Alexander Demling im SPIEGEL gewarnt *2): Die im Februar beschlossene Beschäftigungsgarantie der EU für die Arbeitslosen unter 25 Jahren sei „pure Symbolpolitik“. Seine Kronzeugen: Juan José Dolado, Arbeitsmarktexperte an der Universität Carlos III in Madrid, und Carlos Martin Urriza, leitender Ökonom in Spaniens größter Gewerkschaft CC.OO.

Die im SPIEGEL zitierten spanischen Arbeitsmarktexperten sehen nicht in den Jungen, sondern in den Geringqualifizierten jeden Alters „das wahre Problem“. Am dringendsten sei Hilfe für die über 30-jährigen Menschen. Sie müssen ihre Familien ernähren und können nicht zurück zur Ausbildung, zu den Eltern oder ein paar Semester dranhängen bis bessere Zeiten kommen. Zur verfehlten Priorität der EU-Symbolpolitik für die Jugend sagt der Gewerkschaftler Urriza: „Über 30-Jährige auszubilden, ist eine teure und langfristig angelegte Maßnahme – dafür fehlt der Politik der lange Atem“. *2)

Der Arbeitsmarktforscher William Chislett *3) stellt zum spanischen Arbeitsmarkt, dem Gegenstand besonderer deutscher Fürsorge, fest: Die Arbeitslosenquote für Jugendliche (57 % März 2013, RS) sei „irreal, ihre Verbreitung alarmistisch und trage bei zur neuen ´Schwarzen Legende` des Scheiterns Spaniens.“ Das Gleiche gelte für die allgemeine Arbeitslosenquote von 27 %. Subtrahiere man die Zahl der über 2 Mio. als arbeitslos registrierten Schüler und Studierenden zwischen 16 und 24 Jahren von den 6,2 Mio. spanischen Arbeitslosen insgesamt, so reduziere sich die Quote der Arbeitslosen an den „ökonomisch Aktiven“ (ohne Schüler und Studenten) auf 19 %. Immer noch hoch, aber in der Geschichte des spanischen Arbeitsmarktes nicht entfernt so dramatisch, wie das Pathos unseres Spanienexperten Klaus Ernst, MdB, nahelegt.

Der Alarm über die Jugendarbeitslosigkeit im Euroraum findet sich auch beim Blick auf Griechenland. Dort erreiche der „Horror“ 62,5 %. Diese Statistik scheint der eigentliche Skandal zu sein: Da nur 9 % der griechischen Unter-20-Jährigen überhaupt Beschäftigung suchen, wird deren wahre Arbeitslosenquote auf weniger als 6 % geschätzt. *4)

Dazu Daniel Gros in Übereinstimmung mit den spanischen Experten: „Youth unemployment (especially teenage part-time unemployment) is much less important than unemployment among those who are in their prime earning years. Moreover, young people have the option of continuing their education, thus adding to future earnings power, whereas continuing education is a much less viable alternative for their elders.“ *4)

Jugendarbeitslosigkeit ist sehr wohl ein ernstes Problem und soll hier keinesfalls bagatellisiert werden. Professor Dale Mortensen, USA, ist für seine Studien zu Arbeitsmärkten 2010 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Mortensen warnt: „Wer in jungen Jahren arbeitslos ist, kann das meistens nicht aufholen. Denn wer keine Arbeitserfahrung sammelt und damit weniger Humankapital anhäuft, wird das noch jahrelang in Form von niedrigeren Einkommen spüren. Studien zufolge kann dieser Effekt 20 bis 30 Jahre anhalten. Jugendarbeitslosigkeit hat die schwersten Folgen, und deshalb sollte die Politik hier auch rasch handeln.“ *5)

Dale Mortensens Forderung richtet sich allerdings an die US-Arbeitsmarktpolitik. In den USA, so der Nobelpreisträger, gebe es „nicht die Probleme Südeuropas, diese Kombination aus Betrug und Arbeitsverträgen auf Zeit … (und) Arbeitsmarktstrukturen, die einfach nicht funktionieren.“ *5)

Gerade die Sozialdemokratie sollte nach der Bundestagswahl zu einer abgewogenen Sicht auf die drängenden Prioritäten europäischer Arbeitsmarktpolitik zurückkehren.

Dabei könnte sie an eine sachliche, unpolemisch formulierte Stellungnahme anknüpfen: Es sei zu begrüssen, dass das Thema Jugendarbeitslosigkeit im Europäischen Rat der Regierungschefs einen hohen Stellenwert einnehme. Die Zukunft der Jugendlichen hänge wesentlich davon ab, „dass die Strukturen in den jeweiligen Ländern stimmen. Wieder gilt das Credo: Solide Haushalte und die Durchführung der notwendigen Strukturreformen sind die beste Basis, um das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu lösen … Deutschland geht es dann gut, wenn es Europa gut geht, und Europa geht es dann gut, wenn jedes europäische Land seine eigenen Potenziale voll entfalten kann.“ (Gerda Hasselfeldt, MdB) *1)

Die Potentiale der Europäer sollten durch eine an der Agenda 2010 orientierte Arbeitsmarktpolitik gefördert werden. Eine Politik, die der Jugend gute Ausbildung für Beruf und Studium bietet. Eine Politik, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt. Und die sich das Ziel setzt: „that every person can enjoy the dignity that comes from work – whether they live … in Belfast or Berlin, in Athens or Madrid, everybody deserves opportunity.“ (Barack Obama, Berlin, 19. Juni 2013).

*1) www.bundestag.de/dokumente/protokolle/vorlaeufig/17250.html, 250. Sitzung, 27. Juni 2013.
*2) Alexander Demling, Die verzerrte Quote, www.spiegel.de, 28. Mai 2013.
*3) William Chislett, El enigma de la magnitud del paro juvenil, elpais.com/, 29 ABR 2013. (Der Begriff der ´leyenda negra`, der ´Schwarzen Legende`, wurde von spanischen Historikern gegen das Vorurteil geprägt, die Spanier an sich seien ein fanatisches, brutales, rücksichtsloses, menschenverachtendes Volk. Siehe WIKIPEDIA. Eine neue ´Schwarze Legende` könne daher das Vorurteil schüren, Spanien sei ein Land des Scheiterns, RS).
*4) Daniel Gros, Europe’s Youth Unemployment Non-Problem, Project Syndicate, 06 June 2013.
*5) INTERVIEW, Lukas Sustala, DER STANDARD; 6./7.10.2012.