Langer Atem.

Großen Staatsmännern wird diese Fähigkeit zugeschrieben. Denn sie haben „dicke Bretter gebohrt“ (Max Weber).

Bei Historikern habe ich sie unter der Annahme vorausgesetzt, sie sei mit deren professioneller Methode verknüpft.

Bis ich den Historiker Professor Heinrich August Winkler in der Friedrich-Ebert-Stiftung hörte, wie er im Rahmen eines bedeutenden Vortrags über „den langen Weg nach Westen“ plötzlich die EU-Mitgliedschaft Rumäniens und Bulgariens sehr kritisch kommentierte. Mehr als ein halbes Jahrzehnt ist seitdem vergangen. Sicher wird er mit seinem Urteil auch heute noch auf breite Zustimmung stoßen.

Nicht bei diesem unmaßgeblichen Blogger, damals nicht und auch heute nicht! Wäre die Europäische Union (EU) denn ohne die Süd- oder Osterweiterung besser aufgestellt? Vielleicht wäre sie „homogener“, wäre es bei den sechs Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaften der 1950er Jahre geblieben. Aber war dies der Sinn des Denkens in europäischer Dimension für Frieden, Demokratie und Zusammenarbeit? Hätten die von Professor Winkler angesprochenen Staaten Bulgarien oder Rumänien außerhalb der EU bessere Entwicklungsperspektiven?

Europäische Politik im Sinne einer Arbeit für Konvergenz gemeinsamer demokratischer, wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Ordnungsziele wird wohl eher im gemeinsamen Integrationsraum gelingen.

Wenden wir uns einem Denker europäischen Formates zu!

Der ehemalige Vizepräsident der EU-Kommission, Günter Verheugen, hatte sich 2008 mit den verbreiteten Bedenken gegenüber Bulgarien und Rumänien auseinandergesetzt *1): „Der Grund, 1999 Bulgarien und Rumänien zu Beitrittsverhandlungen einzuladen, war, dass langfristige Stabilität in diesem Teil Europas ohne sie nicht möglich ist. Wo wären wir heute, wenn die beiden nicht dies Maß an Stabilität erreicht hätten? Heute, da die Schwarzmeer-Region in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rückt und zu einem politischen Brennpunkt geworden ist, brauchen wir Rumänien und Bulgarien in der EU mehr denn je.“

In die EU gehören für Günter Verheugen auch die übrigen Länder Südosteuropas, und die Türkei, und die Ukraine … Deshalb wird die Union nicht „unregierbar“ werden. Europas Bürger können sicher sein: Die EU verfügt über Instrumente, um Problemen von Mitgliedsländern bei der Bewirtschaftung europäischer Fördergelder, bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, bei organisierter Kriminalität zu begegnen.

Günter Verheugens Perspektive europäischen Denkens umfasst auch Kroatien, dem die FAZ den etwas grämlichen Gruß widmet: „Die EU heißt ein neues Problemland willkommen“. *2)

Alle Staaten, die der Europäischen Union beitreten wollen, müssen die  „Kopenhagener Kriterien“ erfüllen. Diese Bedingungen umfassen *3):
Das „politische Kriterium“: Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten. Das „wirtschaftliche Kriterium“: Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten. Das „Acquis-Kriterium“: Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen, das heißt: Übernahme des gemeinschaftlichen Rechtssystems, des „gemeinschaftlichen Besitzstandes“ (Acquis communautaire).“

Verfallen wir nicht einer kurzsichtigen Interpretation der Bedingungen für einen EU-Beitritt! Diese stellen kein statisches „Zertifikat“ dar, wie etwa ein Abiturzeugnis, das Hochschulreife attestiert. Vielmehr sollten die Kriterien als dynamische Ziele, Vorgaben und Maßstäbe aufgefasst werden. Die in globalem Wandel und Wettbewerb nicht nur auf Güter- und Kapitalmärkten, sondern auch im Wettbewerb der Institutionen, die Staaten und Gesellschaften prägen, immer wieder neu zu erkämpfen und zu vertiefen sind.

Für den politischen Dialog mit ihren Mitgliedsländern brauchen Europäische Union und Europäer eben den „langen Atem“. Oder, wie es Holger Börner, der unvergessene Ministerpräsident und Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung, ausdrückte, das „Denken in Generationen“. Oder, um ein Wort des ehemaligen Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, des Sozialdemokraten Helmut Rohde, zu erinnern: Mit der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ müssen die EU-Institutionen und die Bürger der EU leben können.

Das gilt selbst innerhalb der EU-Länder, deren geistige und politische Eliten sich gelegentlich für besonders fortschrittlich halten. Da bedarf es nicht größerer Deutlichkeit und auch nicht drastischer Beispiele.

Dies alles vorausgeschickt: herzlich willkommen, Kroatien! Dieser europapolitisch völlig illusionslose Bürger freut sich über kroatische Bürger in der EU. Und der lange Atem? Na ja, den müssen die Generationen unter 60 haben.

*1) INTERVIEW, EU-Kommissar Günter Verheugen verteidigt die Osterweiterung, 09.09.2008, derwesten.de/.
*2) Kroatien Die EU heißt …; Karl-Peter Schwarz, faz.net, 29.06.2013.
*3) bundesregierung.de/Content/DE/Lexikon/EUGlossar/