“Moralische Substanz“.

Derzeit erinnere ich einen Lehrer, der die Summe seiner Lebenserfahrung, einschließlich der Nazizeit, so an uns weitergab: Wenn ein Politiker von Moral redet, nehmt die Beine in die Hand! Das war Anfang 1962! Gut 55 Jahre danach stütze ich den folgenden Kommentar auf diesen Rat.

Zwei ohne jeden Zweifel hochverdiente Persönlichkeiten haben in ihrer öffentlichen Funktion nicht nur bedeutende Gedanken zur Orientierung vieler Menschen entwickelt. Sie haben auch um die mit ihrer Stellung verbundene „moralische Substanz“ und um das Vertrauen vieler Menschen geworben.

Mit dieser Positionierung auf dem „moral highground“ sind beide Persönlichkeiten zum Ziel scharfer Kritik in der Öffentlichkeit geworden. Die Rede ist von Annette Schavan (CDU), deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, und Georg Fahrenschon (CSU), Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands; von ihm stammt der Begriff „moralische Substanz“. Dazu später.

Frau Schavan leistete als Botschafterin wertvolle Beiträge zur politischen Bildung, insbesondere zum Dialog der Religionen und zum Verhältnis von Religion und Politik. Hier sei eine ihrer Deutungen zu unserer Zeit zitiert: *1)

„Wer heute politische Verantwortung trägt, sieht sich mit Krisen konfrontiert, die bisherige Sicherheiten in Frage stellen. Einen politischen Alltag gibt es kaum mehr. Es dominieren immer mehr Gefährdungen unsere gesellschaftlichen und politischen Debatten, die als Ausnahmesituationen wahrgenommen werden.

  • Die Finanzkrise und damit verbundene Fragen der bisherigen Ordnung des Wirtschaftens der öffentlichen Hand gehörten dazu.
  • Terror und Gewalt ereignen sich nicht mehr nur weit weg in anderen Regionen der Welt. Sie haben Europa erreicht.
  • Sie fordern Regierungen und Parlamente zu neuen Wegen der Versöhnung und des Friedens.
  • Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Fanatikern, vor Kriegen und vor der Zerstörung ihrer Heimat.
  • Sie verlangen eine kohärente und humane gemeinsame Flüchtlingspolitik der Gemeinschaft der Staaten weltweit.
  • In solchen Zeiten gewinnen Gedanken an Bedeutung, die jenseits von politischen Programmen einen Kompass zur Verfügung stellen.
  • Woran kann Politik sich orientieren? Welche Werte sind tragfähig, um Frieden und Freiheit zu gewährleisten?
  • Welches sind die geistigen Fundamente, auf denen sich Verhandlungen der internationalen Weltgemeinschaft und der Institutionen der Europäischen Union stützen können?

Christen sollten sich gerade jetzt nicht aus öffentlicher Verantwortung zurückziehen. Jetzt ist die Zeit für eine politische Avantgarde.

  • Jetzt geht es z.B. darum, die katholische Soziallehre weiter zu entwickeln.
  • Jetzt braucht es neue Bündnisse gegen Populismus (von rechts und links) und
  • für faire globale Zukunftsperspektiven.“

Frau Botschafterin Schavan hat mit solchen Beiträgen gerade auch in Deutschland über Themen wie Globalisierung und Integration Brücken gebaut zu den Gedanken des Papstes Franziskus als Oberhaupt der katholischen Weltkirche.

Trotz der in erfolgreichen Jahren als Politikerin und als Botschafterin am Heiligen Stuhl erarbeiteten moralischen Substanz und ihrer orientierenden Beiträge zur politischen Bildung wird Frau Schavan die Eignung abgesprochen, das Ehrenamt einer Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) auszufüllen. Und dies, obwohl in der Presse berichtet wird, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Berufung hätte „vorstellen können“. *2)

Ein angesehener Jurist und ehemaliger Stipendiat der KAS sieht in der Ernennung Frau Schavans ein falsches Signal: „Sie musste wegen der Plagiatsaffäre vom Amt der Bundesbildungsministerin zurücktreten, soll nun aber Vorsitzende einer Stiftung werden, bei der Wissenschaftliche Dienste (Archiv), Politische Bildung und Begabtenförderung wichtige Pfeiler der Arbeit sind … Annette Schavan als Stiftungsvorsitzende ist … abzulehnen, weil ihr Doktortitel und Studienabschluss wegen Täuschung aberkannt worden sind“. *3)

Es bleibt die Frage, warum Frau Schavan sich durch öffentliche Bemerkungen zum KAS-Vorsitz dieser absehbaren Kritik selbst ausgeliefert hat.

Es gibt nur eine Erklärung. Entgegen dem von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als erfüllt bewerteten „Tatbestand einer vorsätzlichen Täuschung durch Plagiat“ besteht Frau Schavan auf ihrer moralischen Substanz: „Ich habe in meinem Leben niemanden getäuscht. Aber Politik und öffentliches Leben folgen eigenen Gesetzen. Da geht es manchmal nicht mehr um die Frage nach Gerechtigkeit, sondern es braucht eine Antwort, die eine Debatte beendet. So eine Antwort war mein Rücktritt. Ich wollte dem Amt und der Bundesregierung nicht schaden.“ *4)

Lassen wir dies so stehen und wenden uns der nächsten christlich-politischen Persönlichkeit zu, die in öffentliche Kritik geraten ist: Georg Fahrenschon (CSU).

Der Ökonom Fahrenschon hat sich eine herausragende Laufbahn erarbeitet: 2008 wurde er bayerischer Finanzminister, seit Mai 2012 ist Fahrenschon Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes.

Fahrenschon hat weithin anerkannte Verdienste vorzuweisen: Er hat in den Jahren der Null-Zins-Politik der Europäischen Zentralbank stets die Interessen der vorsorgenden Sparer verteidigt und sie durch Analysen zu den weltwirtschaftlichen Risiken vor scheinbar rendite-trächtigen Anlagen in Schwellenländern gewarnt.

Seine Urteilskraft mögen die folgenden Zitate zu Ursachen und Wegen aus der anhaltenden globalen Struktur- und Vertrauenskrise aufzeigen: *5)

  • „Wachstum und Produktivitätsfortschritt sind sehr niedrig, charakteristisch ist auch eine globale Investitionsschwäche.
  • Gleichzeitig ist die Weltwirtschaft durch ein enormes Maß an Liquidität der Zentralbanken und historisch hohe Verschuldungsniveaus gekennzeichnet.
  • Das Zinsniveau bewegt sich weltweit nominal und real auf historisch extrem niedrigen Werten; negative Zinsen sind ein zusätzliches nie gekanntes Krisensymptom.
  • Weltweit bestehen .. Schwächen und Risiken im Finanzsektor. Gleichzeitig haben sich die Ausschläge und somit die Wucht der finanziellen Zyklen enorm verstärkt.
  • Gleichzeitig erweisen sich die Geld- und Fiskalpolitik als zunehmend wirkungslos, um die gegenwärtige Krise zu überwinden.“

Auch überzeugt Fahrenschon, wenn er Mittel empfiehlt, um die Ursachen der Vertrauenskrise zu bekämpfen. *5)

  • „In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage in Deutschland und auch im gesamten Euroraum sind zusätzliche geldpolitische Maßnahmen .. nicht mehr erforderlich. Sie können im Hinblick auf die Vertrauensbildung und damit die Stärkung von Investitionen sogar kontraproduktiv sein … Denn mit der Verstetigung des Niedrigzinsumfelds sind zahlreiche Risiken und Nebenwirkungen verbunden, nicht zuletzt die Gefahr von Fehlentwicklungen im Finanzsystem.
  • Wir halten es für notwendig, die Staatsverschuldung zurückzuführen. Untersuchungen belegen, dass eine hohe Staatsverschuldung das Wachstum stark behindert. An einer Lösung der Schuldenproblematik — wie mühsam und schmerzhaft auch immer — führt kein Weg vorbei. Und auch die private Verschuldung gilt es sorgfältig zu beobachten.
  • Wir sind davon überzeugt, dass lokale und regionale Kreditinstitute wie die Sparkassen entscheidend zur Stabilisierung der Finanzierungs- und Anlagebedingungen beitragen … Wir fordern daher, dass auf europäischer Ebene bei der Gesetzgebung und bei der Aufsicht noch stärker nach Art, Größe, Risikogehalt und Komplexität des Geschäftsmodells unterschieden wird. Hierbei sollte die stabilisierende Wirkung, welche Sparkassen und Genossenschaftsbanken, aber auch regional orientierte Privatbanken, in der Finanzmarktkrise unter Beweis gestellt haben, noch stärker in den Fokus rücken.“

Heute sind die von Fahrenschon aufgezeigten „Risiken und Nebenwirkungen“ offensichtlich, die von der langjährigen Nullzinspolitik und der dadurch gerade in Südeuropa aufgeblähten Staatsverschuldung ausgehen. Ein Blick in die Presse zeigt uns Bürgern:

  • Spekulative Preis-Blasen an Immobilien- und Aktienmärkten,
  • getrieben von kaum regulierbaren, spekulationsorientierten sog. Schattenbanken, dh. Finanzvermittler und Anleger außerhalb des von Aufsichtsbehörden und Zentralbanken kontrollierten Bankensektors.
  • Eine Weltwirtschaft, die nur langsam wächst.
  • Politische Unruhen und Instabilität in vielen Ländern.
  • Starke Schwankungen bei: Rohstoffpreisen, Renditen auf Kredite an Staaten, Devisenkursen.
  • Mangelndes Vertrauen vor allem in den Bankensektor (unsolide Kreditpolitik) der südeuropäischen Länder mit Gefahren für die Stabilität unseres Euroraumes.

Nun hat Fahrenschon als Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes auch einen Anspruch auf „moralische Substanz“ verkündet: „Es gibt Unternehmen und Gruppen, die viel weniger wirtschaftliche und moralische Substanz einbringen und dennoch jeden Tag mit mehr Sendungsbewusstsein auftreten … Bei unseren Leistungen für diese Gesellschaft würde uns … mehr Selbstbewusstsein ganz gut stehen.“ *6)

Für diesen Anspruch auf „moralische Substanz“ und damit auf das Vertrauen „von 50 Mio. Kunden und .. drei Viertel aller deutschen Unternehmen (als) Finanzpartner“ fallen in Fahrenschons Grundsatzrede prägende Stichworte.

Fahrenschon unterstreicht den gemeinnützigen, öffentlichen Auftrag der Sparkassen: „´Dem Wohl der Menschen dienen`: So haben das unsere Vorgänger 1882 ausgedrückt … Auch wenn sich heute fast alles ändert — unsere Werte und unsere Haltung nicht.“ Hier akzentuiert Fahrenschon die „moralische Substanz“ der Sparkassen im Vergleich zu „Renditejongleuren, zu Kredithasardeuren oder zu Liquiditäts-Schnäppchenjägern“. *6)

Mit dieser Grundsatzrede hat sich Fahrenschon als Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes in einer Weise auf dem „moral highground“ exponiert, die zu besonders drastischer öffentlicher Kritik führte, als sein Steuervergehen ruchbar wurde.

„Trotz des langwierigen Verfahrens mit mehreren Mahnungen, Zwangsgeldern und der Steuer-Festsetzung durch das Finanzamt hat Fahrenschon drei Jahre lang keine Steuererklärung eingereicht, sein Millionen-Einkommen plus Honorare erst Jahre später, zu spät, versteuert. Und das, obwohl Fahrenschon vor seiner Zeit an der Spitze der Sparkassen drei Jahre Bayerns Finanzminister war … Kann man trotz einer solchen „Dummheit“ Sparkassen-Präsident sein?“ *7)

Als Kunde von Sparkassen, seitdem ich Geld verdiene, bin ich von diesen Nachrichten betroffen, die auf den moralischen Anspruch einer zurecht hochrangigen Persönlichkeit wie Fahrenschon tiefe Schatten werfen.

Zwei bedeutende Persönlichkeiten, die sich aus christlich-politischer Überzeugung auf den „moral highground“ begeben haben — Botschafterin Annette Schavan (CDU) und Sparkassen-Präsident Georg Fahrenschon (CSU) — stehen nun im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik.

In diesem Blog wird kein moralisches Urteil fallen. Ich denke an den Rat des Lehrers. Kein Urteil, keine Forderung zum Verzicht (auf den KAS-Vorsitz) oder zum Rücktritt (vom Amt des Sparkassenpräsidenten) an zwei Persönlichkeiten, deren qualifizierte Deutungen zu Fragen unserer Zeit ich oft in ihren Reden gesucht habe.

Bevor die Beine in die Hand genommen werden, sei — Frau Schavans Rede folgend — auf das uralte Urteil einer höheren Instanz zu ähnlichen Fällen verwiesen:

„Außerdem sagte Jesus zu den Leuten: sobald Ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt Ihr: es gibt Regen. Und es kommt so. Und wenn der Südwind weht, dann sagt Ihr: es wird heiß. Und es trifft ein. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt Ihr deuten. Warum könnt Ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten? Warum findet Ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?“ *1).

*1) Annette Schavan. In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Christen in gesellschaftlicher Verantwortung. Zum 125. Todestag von Ludwig Windthorst. Osnabrück am 17. Januar 2016; http://www.heiliger-stuhl.diplo.de/contentblob/4717190/Daten 6233089/20160117osnabrck.pdf. (Spiegelpunkte zur Übersichtlichkeit RS).

*2) Medienbericht. Konrad-Adenauer-Stiftung — Lammert mit großen Chancen. 10.11.2017; http://www.tagesspiegel.de/politik/medienbericht-konrad-adenauer-stiftung-lammert-mit-grossen-chancen/20568476.html

*3) KONRAD-ADENAUER-STIFTUNG. Einspruch gegen Schavan. VON JOCHEN ZENTHÖFER am 9. November 2017; cicero.de.

*4) Annette Schavan. „Schleier trage ich nie“. Interview: Evelyn Finger; 31. Mai 2017; http://www.zeit.de/2017/23/annette-schavan-botschafterin-vatikan-interview/komplettansicht.

*5) Rede von Georg Fahrenschon: „Finanzstabilität im globalen Kontext“. Rede des Präsidenten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Georg Fahrenschon, anlässlich der Pressekonferenz zur IWF-/Weltbank-Tagung zum Thema Finanzstabilität im globalen Kontext am 10. Oktober 2015 in Lima, Peru.

https://www.dsgv.de/de/presse/reden/151010_Rede_IWF_GF.html. (Spiegelpunkte zur Übersichtlichkeit von RS).

*6) Grundsatzrede zum Deutschen Sparkassentag. 27.04.2016. Rede von Georg Fahrenschon, Präsident des DSGV, auf dem Deutschen Sparkassentag 2016; https://www.dsgv.de/de/presse/reden/160427_grundsatzrede_sparkassentag_fahrenschon.html

*7) DAS SAGEN DIE BANKEN. Sparkassen leisten sich „dummen“ Chef. Artikel von: KAI WEISE, veröffentlicht am 08.11.2017. Seine für Mittwoch geplante Wiederwahl wurde abgeblasen und ins Frühjahr verschoben – bis nach der Klärung des schwerwiegenden Vorwurfs. Hintergrund: Die Staatsanwaltschaft München wirft dem CSU-Mann Steu­er­hin­ter­zie­hung vor. Fahrenschon widerspricht, räumt aber eine „Riesen-Dummheit“ ein; http://www.bild.de/geld/wirtschaft/georg-fahrenschon/fahrenschon-sparkassenchefs-vermuten-intrige-53796940.bild.html.