Bundeskanzlerin: parlamentarisch befragen!

Wer das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts liest, kann sich nur über die Dreistigkeit wundern, mit der die von Bundeskanzlerin Merkel geführte Regierung im Jahr 2010 parlamentarische Anfragen „ohne hinreichende Begründung unvollständig beantwortet oder unbeantwortet gelassen“ hat. *1)

Die Kanzlerin versichert öffentlich gern, ihre Regierungsführung auf Fakten/Informationen zu stützen. Dies wäre glaubwürdiger, wenn die Regierungschefin dies auch den MdBs durch entsprechendes Auskunftsverhalten ihrer Regierung ermöglichte.

Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts belegt dagegen eine seinerzeit nur mit präsidial-abgehobenem Amtsverständnis erklärbare Gleichgültigkeit gegenüber der dreisten Missachtung der Auskunftsrechte des Bundestages auf Information durch die von Merkel geführte Bundesregierung. Die Abgeordneten, die Auskunft von der dazu verpflichteten Regierung begehrten, mussten das Bundesverfassungsgericht anrufen!

Dieser Vorgang verstärkt die Dringlichkeit einer Forderung des Sozialdemokraten Carsten Schneider, MdB, die Bundeskanzlerin nunmehr regelmäßig zu einer parlamentarischen Befragung zu verpflichten: Neue Regeln zur Geschäftsordnung sollen „dem Anspruch des Parlaments, die Herzkammer der Demokratie zu sein, gerecht werden und diesen auch abbilden .. Deshalb beantragen wir, dass die Frau Bundeskanzlerin … sich viermal im Jahr einer direkten Befragung im Parlament stellt … Wir wollen selbst festlegen, wozu wir die Regierung in der Regierungsbefragung befragen.“ *2)

Würde Carsten Schneiders Forderung umgesetzt, wäre ein Zustand im Verhältnis Bundestag-Bundesregierung beendet, den der Journalist Imre Balzer so kennzeichnet: „Abgeordnete (können) Fragen an die Bundesregierung einreichen, in der Fragestunde lesen Staatssekretäre dann die Antworten ab. Minister lassen sich selten blicken, Angela Merkel war noch nie da. Sie beantwortet lieber zweimal im Jahr in der Bundespressekonferenz Fragen von Journalisten.“ *3)

Warum ist die Befragung der Bundeskanzlerin durch den Oppositionsführer des Bundestages wenigstens einmal im Quartal nicht längst verwirklicht? Ganz einfach: die Parteien der Opposition im Bundestag wären sicher dafür, aber die Parteien der Regierungsmehrheit sind eher dagegen. Somit passiert nichts. Erst die Partei, dann die Demokratie?

Ob die von der Bundeskanzlerin mit Interviews oder der Fragestunde in der Bundespressekonferenz bedachten Journalisten Druck für Carsten Schneiders Vorschlag machen, die Befragung der Kanzlerin in den Bundestag zu holen, bleibt fraglich. Dies könnte sich ja gegen ihr Eigeninteresse am direkten Gespräch mit der Kanzlerin richten.

Daher sollten die Staatsbürger die Stimme erheben und mit Carsten Schneider, MdB (SPD), fordern: „Frau Merkel, vier Mal im Jahr müssen Sie sich stellen.“ *4) Wenigstens!

In der britischen Demokratie ist die wöchentliche „prime minister’s questions time“ (PMQ) eine traditionelle Selbstverständlichkeit und „zentral im Rahmen britischer Verfassungstheorie und -praxis.“ *5).

Die Premierministerin Margaret Thatcher, die sicher nicht dazu neigte, ihre Amtsautorität hintanzustellen, habe in den PMQs „the real test of your authority in the House, your standing with your party, your grip of policy and of the facts to justify it“ gesehen. „Few heads of government are so accountable“ wie ein britischer PM gegenüber dem House of Commons, habe sie den übrigen Regierungschefs bei EU-Gipfeltreffen gern entgegengehalten.*5)

Kanzlerin Merkel sollte im Lichte des Urteils von Thatcher eine Übertragung dieser PMQs auf den Bundestag begrüßen, da sie sich ja so sehr ihre Beherrschung der „facts“ zugute hält.

Premierminister Tony Blair habe eingeräumt, dass er die PMQs „always feared“. Er habe am Vorabend „eine Melatonin-Tablette genommen, um garantiert sechs Stunden zu schlafen“. *5)

PM David Cameron sah in den PMQs eine Prüfung, die kein PM oder Oppositionsführer überleben könnte, der „slow-witted, corrupt or simply not up to the job“ wäre. *5)

So groß ist der Respekt vor dem UK-Parlament und den PMQs, dass alle modernen PMs „took immense pains to brief themselves.“ Die Ministerien hatten den PM für alle Eventualitäten der PMQs zu briefen: „It was a good test of the alertness and efficiency of a cabinet minister .. to see if the information was accurate or punctual“ (Margaret Thatcher). *5)

Führt man sich die in Großbritannien übliche Intensität der Befragung des Regierungschefs durch den Oppositionsführer vor Augen, wird man annehmen, dass eine Übertragung der PMQs auf den Bundestag die „Ewig-Kanzlerschaften“ von Helmut Kohl oder Angela Merkel hätte stärker begrenzen können. Wobei solche Annahme natürlich großes politisches Format des Oppositionsführers voraussetzt. Dann würde auch die „Wähler-Apathie“ nicht aufkommen, die solche „Ewig-Kanzlerschaften“ erkläre.

Aber schon stößt der Vorschlag Carsten Schneiders auf Bedenken: Da wird das eher konsensorientierte „Arbeitsparlament“ Bundestag dem britischen „Redeparlament“ mit oppositioneller „Regierung im Wartestand“ gegenübergestellt. Dies mache eine Übertragung der PMQs auf den Bundestag „gar nicht so leicht“. *3)

Mag ja sein. Aber zumindest wäre der nunmehr vom Bundesverfassungsgericht verurteilte dreiste Umgang der Bundesregierung mit Fragen aus dem Bundestag weniger wahrscheinlich, wenn die Bundeskanzlerin im Parlament dazu durch persönliche Befragung zur Rechenschaft gezogen würde. Und das schon wäre ein Gewinn für unsere Demokratie.

Wer übrigens britische MPs und ihre Arbeitsbelastung in parlamentarischen Kommissionen und im Wahlkreis kennengelernt hat, dem mag vor allem ein großer Unterschied zwischen deutschem und britischen Parlament aufgefallen sein: die materielle, finanzielle und personelle Ausstattung — etwa wie Rolls Royce (Deutschland) und VW-Käfer (Großbritannien). Dieser Vergleich gilt auch für die Regierung — man vergleiche das Bundeskanzleramt mit dem Reihenhaus Downingstreet 10, in dem der britische Regierungschef lebt und arbeitet, neben seinem Finanzminister (11).

Bei diesem Aufwand für die Demokratie in Deutschland mag der Staatsbürger hoffen, dass die Zeit für die gute Reformidee von MdB Carsten Schneider gekommen ist: „Frau Merkel, vier Mal im Jahr müssen Sie sich stellen!“ *4)

*1) Bundesverfassungsgericht. Die Bundesregierung hat Auskünfte zur Deutschen Bahn AG und zur Finanzmarktaufsicht zu Unrecht verweigert. Pressemitteilung Nr. 94/2017 vom 7. November 2017. Urteil vom 07. November 2017. 2 BvE 2/11.

Hierzu mögen folgende Hinweise genügen:

Die Fragen aus dem Bundestag bezogen sich einerseits auf Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung und der Deutschen Bahn AG über Investitionen in das Schienennetz, über ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten zur Wirtschaftlichkeitsberechnung des Projektes „Stuttgart 21″ sowie über Zugverspätungen und deren Ursachen.

Dazu die Verfassungsrichter: „Die Bundesregierung hat die Grenzen ihrer Antwortpflicht bei der Beantwortung der streitgegenständlichen Fragen betreffend den Themenkomplex Deutsche Bahn AG verkannt und hierdurch Rechte der Antragsteller und des Deutschen Bundestages aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.“

Ferner wurden „Fragen zu aufsichtsrechtlichen Maßnahmen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) gegenüber mehreren Banken in den Jahren 2005 bis 2008 an die Bundesregierung“ mit verwerflich „pauschaler Begründung“ verweigert.

Die Verfassungsrichter zeigen auch hier die skandalöse Missachtung des Bundestags durch die Bundesregierung Merkel im Jahr 2010 deutlich auf:

„Allein die nicht näher begründete Annahme, schon das Bekanntwerden der Kontrollintensität der Bankenaufsicht im Hinblick auf einzelne Institute könne zu einem irreversiblen Vertrauensverlust in das jeweilige Institut mit entsprechenden Reaktionen des Marktes führen, kann in dieser Pauschalität eine Antwortverweigerung nicht begründen. In diesem Fall wäre die Tätigkeit der BaFin der parlamentarischen Kontrolle vollständig entzogen. Es liegen auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kenntnis der Öffentlichkeit von Aufsichtsmaßnahmen der Jahre 2005 bis 2008 bei bekanntermaßen in Schieflage geratenen und gestützten Instituten noch Ende 2010 / Anfang 2011 tatsächlich zu negativen Reaktionen auf den Märkten hätte führen können.“ (Hervorhebungen RS).

*2) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) in der ersten Sitzung des 19. Deutschen Bundestages; http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19001.pdf

*3) Fragestunde im Bundestag. Eine Frage, Frau Bundeskanzlerin! Die Opposition fragt scharf, die Regierungschefin ist in Erklärungsnot – im britischen Unterhaus ganz normal, im Bundestag undenkbar. Braucht das Parlament eine Reform? Von Imre Balzer. 30. Oktober 2017; http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-10/fragestunde-bundestag-angela-merkel-reform.

*4) „Frau Merkel, vier Mal im Jahr müssen Sie sich stellen“. Stand: 24.10.2017. Legislaturen: 19. Wahlperiode. Abgeordnete/r: Carsten Schneider (Erfurt); Themen: Demokratie, Geschäftsordnung; http://www.spdfraktion.de/themen/frau-merkel-vier-mal-jahr-muessen-stellen.

*5) Why we should cherish prime minister’s questions. Saturday 18 June 2011. Michael White; https://www.theguardian.com/politics/2011/jun/18/prime-ministers-questions-ed-miliband-david-cameron. (Übersetzung RS).

Michael Whites Analyse zeigt eindrucksvoll, dass sich die PMQs zu einem öffentlich stark beachteten Symbol der Gewaltenteilung von Exekutive und Legislative und der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament entwickelt haben. Die PMQs stärken gerade auch die Chancen der Opposition, in der Öffentlichkeit Profil zu gewinnen.