Grandseigneure vs Öffentlichkeit?

Politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger werden im TV die 1. Sitzung des 19. Deutschen Bundestags beobachtet haben und vielleicht zwei Lektionen politischer Bildung gefolgt sein.

Diese Lektionen erteilten der Alterspräsident, Hermann Otto Solms (FDP), in seiner Eröffnungsrede und der neugewählte Bundestagspräsident, Wolfgang Schäuble (CDU): Herausforderungen, Platz und Rolle unseres Parlaments standen im Mittelpunkt der „Lehrstunde“. *1)

Beide Reden enthielten durchaus kritische Bemerkungen zu der für nicht wenige Bürger ebenso wichtigen sogenannten „Vierten Gewalt“, der „Öffentlichkeit“, vor allem von Medien und Bürgern, die von den Sozialen Medien Gebrauch machen.

Zunächst seien einige bedeutende Feststellungen dieser um unseren Staat besonders verdienten Persönlichkeiten zitiert.

Alterspräsident Hermann Otto Solms, MdB:

  • Der Deutsche Bundestag ist das einzige direkt vom Volk legitimierte Staatsorgan. Er steht damit im Mittelpunkt unserer staatlichen Ordnung, auf den sich alle anderen Organe beziehen.
  • Der Deutsche Bundestag ist .. eines der einflussreichsten demokratischen Parlamente der Welt. Das wird schon dadurch deutlich, dass sich der Bundestag seine Regierung wählt, diese beauftragt, kontrolliert und gegebenenfalls wieder ersetzen kann. Die Regierung ist also immer auf das Vertrauen des Bundestages angewiesen.
  • Der Bundestag bestimmt die politischen Zielsetzungen und die grundsätzlichen Lösungswege. Die Regierung führt sie aus.
  • Das Parlament muss ein Spiegelbild der Meinungsvielfalt in der Bevölkerung sein. Ich warne davor, Sonderregelungen zu schaffen, auszugrenzen oder gar zu stigmatisieren. Wir alle haben das gleiche Mandat, gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble:

  • Im Parlament schlägt das Herz unserer Demokratie.
  • … diese Gesellschaft müssen wir nicht nur in ihrem Grundkonsens, sondern auch in ihrer Vielheit und Verschiedenheit repräsentieren. Wir dürfen das eine nicht gegen das andere ausspielen.
  • In einem demokratischen Gemeinwesen ist kein Thema es wert, über den Streit das Gemeinsame in Vergessenheit geraten zu lassen.
  • Demokratischer Streit ist notwendig, aber es ist ein Streit nach Regeln, und .. mit der Bereitschaft verbunden, die demokratischen Verfahren zu achten und die dann und so zustande gekommenen Mehrheitsentscheidungen nicht als illegitim oder verräterisch oder sonst wie zu denunzieren, sondern die Beschlüsse der Mehrheit zu akzeptieren. Das ist parlamentarische Kultur.
  • Nach ernsthaftem Streit der Meinungen stellvertretend für alle Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen zu treffen: Die befriedende Wirkung, die das hat, wenn es gelingt, brauchen wir überall in der Welt — in einer Welt, wo ja überall immer mehr Menschen nicht nur Anspruch auf wirtschaftliche Teilhabe, sondern auch auf politische Mitsprache erheben.
  • Europa und die Globalisierung: Das ist heute der Rahmen für das, was wir hier debattieren und entscheiden. Das hat nichts mit einem Aufgeben nationaler Selbstbestimmung zu tun, schon gar nichts mit einem Aufgeben des Anspruchs, dass dies hier der Ort ist, an dem immer wieder neu die Souveränität des deutschen Volkes greifbar und wirklich wird. Vielmehr beschreibt es die Aufgabe, der wir gerecht werden müssen, den Weg einer selbstbewussten Einordnung in immer weitere Zusammenhänge zu finden, mit dem Ziel, dazu beizutragen, in dieser Welt unsere Zukunft gestalten zu können.

Unvergessliche Worte großer Demokraten zum Beginn der 19. Wahlperiode.

In ihren Reden urteilten Alterspräsident Solms und Bundestagspräsident Schäuble in bemerkenswerter Weise über die vielfältigen Entwicklungen der „Öffentlichkeit“, der Medien und ihren neuen Formen, die von Menschen in ganz unterschiedlicher Weise genutzt werden, um ihrer Meinung und ihren Interessen Gehör zu verschaffen.

Der Blick von Alterspräsident Solms auf die „Öffentlichkeit“.

  • Die in der Verfassung vorgesehene Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin bezieht sich nur auf das Handeln der Regierung und nicht auf die Entscheidungsfindung im Deutschen Bundestag, auch wenn das in den Medien häufig anders dargestellt wird.
  • Wer Demokratie bejaht, muss auch demokratische Parteien bejahen. Es ist zu bedauern, wie wenig die Mitgliedschaft in einer Partei oder die Unterstützung demokratischer Parteien in der Öffentlichkeit gewürdigt werden.
  • Immer mehr Bürger organisieren ihre Interessen und Initiativen außerhalb der klassischen parteipolitischen Strukturen. Zugleich ziehen sich leider zu viele Menschen ganz aus der politischen Öffentlichkeit zurück.
  • In den sozialen Medien werden Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Misstrauen, Ressentiments und populistische Hetze kultiviert.
  • Unsere gemeinsame Aufgabe muss es sein, dafür zu sorgen, die gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit wieder dahin zurückzuholen, wo sie hingehören, nämlich hierhin, in den Deutschen Bundestag.
  • Deshalb kommen hier die unterschiedlichen politischen Strömungen zur Geltung, und zwar in dem Verhältnis, wie sie von den Wählern Unterstützung erhalten haben. Das Zerrbild von der Politik, wie es beispielsweise in den sozialen Medien oder in manchen Fernseh-Talkshows dargeboten wird, gibt diese faire Repräsentation nicht wieder. Bei letzteren werden häufig Vertreter auffälliger Positionen eingeladen, weil dies eine höhere Einschaltquote verspricht.
  • Was bedeutet das für uns? Wir müssen den Menschen auf Augenhöhe begegnen und ihnen Orientierung geben. Wir brauchen eine lebendige, lebensnahe Debattenkultur.

Bundestagspräsident Schäubles Sicht auf die „Öffentlichkeit“.

  • Mit dem ungeheuer schnellen gesellschaftlichen Wandel, den wir erleben, geht eine Fragmentierung unserer Debatten und Aufmerksamkeiten einher.
  • Jedem erscheint etwas anderes wichtig. Jeder scheint gelegentlich nur noch seine eigenen Probleme wahrzunehmen. Es gibt nicht mehr das eine Thema.
  • Das Überhandnehmen von Möglichkeiten und Optionen kann auch überfordern. Deswegen müssen wir immer wieder die richtige Balance auch im Umgang mit Freiheit lernen.
  • Hinzu kommt der Wandel der Medien und ihrer Nutzung durch die Veränderungen in der Informationstechnologie. Die Zersplitterung in viele Teilöffentlichkeiten führt dazu, dass uns eine erkennbar gemeinsame Sicht auf politische Prioritäten verloren geht.
  • Wir Abgeordnete … sind für die Mitbürger im Wahlkreis manchmal fast eine Art Ombudsmann … Vielleicht wissen und fühlen wir Abgeordnete durch unsere Verwurzelung bei den Menschen manchmal besser als die Forschungsinstitute, was die Menschen wirklich bewegt.
  • Das Parlament besteht aus Abgeordneten, und diese Abgeordneten sind nicht „abgehoben“, wie so gern oberflächlich dahingeredet wird. Wir sind aus der Mitte der Bürgerinnen und Bürger gewählt. Aber niemand vertritt alleine das Volk. So etwas wie Volkswille entsteht überhaupt erst in und mit unseren parlamentarischen Entscheidungen.
  • Wir müssen das Vertrauen in das repräsentative Prinzip wieder stärken.

Auch hier haben Solms und Schäuble bedenkenswerte Beiträge geleistet.

Dennoch mögen ihre kritischen Bemerkungen zum Thema Medien, Soziale Medien und Öffentlichkeit für den Bürger eine Reihe von Fragen aufwerfen.

Kann das „Vertrauen in das repräsentative Prinzip“ (Schäuble) dadurch gestärkt werden, dass „die gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit wieder dahin zurückzuholen (seien RS), wo sie hingehören, nämlich hierhin, in den Deutschen Bundestag“ (Solms)?

Haben in einer pluralen Gesellschaft mit freien Medien die gesellschaftlichen Debatten nicht überall gleiche Berechtigung wie im Parlament — egal ob sie im Wirtshaus, in Seminaren von Universitäten, von politischen Stiftungen oder von Verbands- oder Parteiorganisationen oder in den Sozialen Medien im Internet geführt werden. Gut, wenn die Debatten im Parlament aufgegriffen werden, aber wohin gesellschaftliche Debatten gehören, sollte ein Liberaler wie Herr Solms den freien Bürgern überlassen.

Der von Schäuble beklagte „Wandel der Medien und ihrer Nutzung durch die Veränderungen in der Informationstechnologie“ mit „Zersplitterung in viele Teilöffentlichkeiten“ führe dazu, dass „eine erkennbar gemeinsame Sicht auf politische Prioritäten verloren geht“.

Jedoch: Warum sollte es denn in unserer Gesellschaft mit ihren vielfältigen, auch widerstreitenden Interessen und Zielen überhaupt eine „gemeinsame Sicht auf politische Prioritäten“ geben?

Die ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo di Fabio und Hans-Jürgen Papier, haben sich zum Beispiel in der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 gegen die von der Parteien-Mehrheit des damaligen Bundestages „erkennbar gemeinsame Sicht auf politische Prioritäten“ gestellt und vor dem rechtspolitischen Kontrollverlust an unseren Grenzen gewarnt.

Politikbeobachter werden ohnehin seit langem divergierende und scharf konkurrierende Sichtweisen zu „politischen Prioritäten“ feststellen. Das ist Teil des politischen Wettbewerbs.

Viele Bürger sehen den „Wandel der Medien“ (Schäuble) und die technischen Möglichkeiten Sozialer Medien sehr positiv!

Als Gelegenheit für selbstständige Beteiligung an den Debatten einer freiheitlichen, selbstbestimmten Bürgergesellschaft. Diese Menschen warten nicht allgemein auf „Orientierung“ (Solms) durch die Parlamentarier, sondern orientieren sich selbst in der neuen Medienwelt, oder in der Wissenschaft, kurz: an glaubwürdigen Meinungsführern oder an Analysen und Fakten. Sicher gehören nicht wenige Politiker zu den Persönlichkeiten, deren orientierender Rat gesucht wird.

Beleidigend erscheint angesichts der Vielfalt von Beiträgen in Sozialen Medien die Behauptung von Solms, dort würden „Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Misstrauen, Ressentiments und populistische Hetze kultiviert.“

Und mit den Vorwürfen an Soziale Medien und TV, ein „Zerrbild von der Politik“ darzubieten, zeigt Solms eine wenig liberale Haltung zu unserem wichtigsten Grundrecht:

„Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt …“. Dies hat das Bundesverfassungsgericht schon 1958 hervorgehoben. *2)

Die neuen technischen Möglichkeiten Sozialer Medien ermöglichen den Menschen eine große, wahrhaft demokratische Entfaltung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Sie stärken die freie Bürgergesellschaft und demokratisieren den Zugang und die aktive Mitwirkung von Bürgern an der zivilgesellschaftlichen „Öffentlichkeit“.

Auch hier kann „so etwas wie Volkswille entstehen“ und nicht — wie Schäuble meint — „überhaupt erst in und mit unseren parlamentarischen Entscheidungen“.

Wir Bürger, die sich in der politischen Debatte engagieren, erwarten von den gewählten Abgeordneten bestimmt keinen Alleinvertretungsanspruch für die gesellschaftlichen Debatten — auch nicht auf der Grundlage des „repräsentativen Prinzips“.

Sicher ist es problematisch, gegenüber den drei Gewalten des Staates (Exekutive, Legislative, Judikative) von der „Öffentlichkeit“ als „Vierter Gewalt“ zu sprechen.

Diese „Öffentlichkeit“ — Massenmedien von Presse und TV, die neuen Sozialen Medien, zivilgesellschaftliche Diskussionsforen, die vielfältigen Formen der Bürgerbeteiligung an der politischen Meinungsbildung — kann in einem freiheitlichen Staat sicher positive Wirkungen auf die politischen Parteien und ihren Wettbewerb entfalten. Tony Blair hatte deshalb schon Mitte der 1990er Jahre seiner „New Labour“-Party eine klare Schrittfolge für das politische Handeln verordnet: First, listen! Second, learn! Und erst dann: Third, lead! *3)

Die kritischen Beiträge der parlamentarischen Grandseigneure, Alterspräsident Solms und Bundestagspräsident Schäuble, lassen vermuten, dass sie den Wandel der Medien und der Kommunikationsinstrumente der „Öffentlichkeit“ eher als Problem für die „politische Klasse“, denn als Chance für wachsende Bürgerbeteiligung beurteilen.

Wenn dies zutrifft, könnte die Distanz zwischen Bürgergesellschaft und Politik wachsen. Doch besteht der 19. Bundestag nicht aus Grandseigneuren, sondern aus vielen jüngeren Abgeordneten. Die nutzen Soziale Medien produktiv und haben den Wandel der „Öffentlichkeit“ wohl längst akzeptiert.

*1) Protokoll, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 1. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 24. Oktober 2017.

*2) BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 15. Januar 1958

– 1 BvR 400/51 – Rn. (1-75), http://www.bverfg.de/e rs19580115_1bvr040051.html. Dort Ziff. 31.

*3) Noch 2007 hat sich Gordon Brown im Schlusswort seiner Bewerbungsrede als Vorsitzender von Labour an diese Abfolge gehalten: „I will listen and I will learn. I will strive to meet people’s aspirations. I want to lead a government humble enough to know its place — where I will always strive to be — on people’s side.“ Gordon Brown speech in full; http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/6646349.stm. (Hervorhebung RS)