Protest in Niedersachsen — Stabilität in Deutschland?

Ein Kommentar zur Wahl in Niedersachsen sagt voraus: “Der Anfang vom Ende der Ampel“. *1) Könnte gar das Ende der Stabilität in Deutschland drohen?

1. Stabilitätsrisiken für Deutschland.

Nehmen wir für die nachfolgenden Überlegungen an, dass Deutschland politisch stabil ist, wenn zwei demokratische und regierungsfähige Lager im politischen Wettbewerb stehen, hier vereinfacht “Mitte Links“ und “Mitte Rechts“ genannt.

Die stabilitätspolitischen Risiken für Deutschland nach der Wahl in Niedersachsen beruhen auf folgenden Sachverhalten:

  • Die AfD ist von allen anderen Parteien in Deutschlands Parlamenten mit einem Kooperationstabu belegt.
  • Die FDP hat das vermeintlich angestammte “Mitte Rechts“-Lager verlassen und ist im Bund Teil einer “Mitte Links“-Regierungskoalition.
  • Das Problem nach der Wahl in Niedersachsen für die Regierung in Berlin: Die AfD gewinnt soviel hinzu, wie die FDP überhaupt an Wählerstimmen bekommen hat, was 2022 für den Einzug der FDP in den Landtag Niedersachsens nicht reicht. *1)

In einer schweren Krisenzeit

  • mit Inflation, sowie Höchstständen bei Energie- und Lebensmittelpreisen,
  • drohender Rezession und
  • zunehmender Sorge wegen stark steigender Flüchtlingszahlen aus der Ukraine, aus Russland und über die Balkanroute

sind zwei Reaktionen aus der Wählerschaft *2) zu erwarten: Erstens Suche nach verlässlicher Regierungskompetenz bei den politischen Parteien und ihren Führungspersönlichkeiten und zweitens Protest.

2. Stabilität in Niedersachsen: SPD-Grüne-Koalition.

Die Wählerschaft hat sich eindeutig dafür entschieden, SPD und Grünen den Regierungsauftrag zu erteilen. *3) Nur bei der Koalition von SPD und Grünen überwiegen die positiven Bewertungen der Wähler die negativen. Das wäre bei einer SPD-CDU-Koalition und erst recht bei einer CDU-Grüne-Koalition genau umgekehrt. *3) SPD und Grüne haben auch eine ausreichende absolute Mehrheit der Sitze im neuen Landtag.

Entscheidend sei der “Amtsbonus“ des Ministerpräsidenten Stephan Weil gewesen, wird kommentiert. “Amtsbonus“ ist ein etwas dürres Wort für die Persönlichkeit Stephan Weils. Ministerpräsident Weil werde von einer großen Mehrheit der Menschen in Niedersachsen als glaubwürdiger, gütiger “Landesvater“ anerkannt. Zudem verfüge er über kaum zu übertreffenden fachlich-politischen Sachverstand in der Regierungsführung seines Bundeslandes. Das scheinen durch Umfragen gesicherte Urteile der Menschen in Niedersachsen zu sein. *3)

Der in der SPD-CDU-Regierung ab 2017 amtierende CDU-Wirtschaftsminister Bernd Althusmann, dessen Partei im Urteil der Wählerschaft besonders starke Verluste an Regierungskompetenz erlitt, konnte offenbar gegen das Ansehen von Ministerpräsident Weil nicht punkten. Hinzu kam das starke Engagement des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der eine Art von “Anti-Ampel-Wahlkampf“ geführt habe, was in Niedersachsens Öffentlichkeit nicht gut beurteilt worden sei.

Das Stichwort “Anti-Ampel-Wahlkampf“ führt zu der Frage: Welche Folgen lässt der Protest bei der Wahl in Niedersachsen für die Stabilität der Ampel-Regierung in Berlin erwarten?

3. Protest: Aufschwung der AfD in Niedersachsen.

Der verständliche Protest gegen die Belastungen der Krisenlage hat vor allem die AfD begünstigt. Sie konnte sich mit dem Spitzenkandidaten, dem Arzt Stefan Marzischewski, als gemäßigt präsentieren.

Damit gelang der AfD erstaunlicher Zugewinn: Die AfD erhielt 397 Tsd. Wählerstimmen (Zweitstimmen), das entspricht einem Anteil von 10.9 % an allen abgegebenen Zweitstimmen. Gegenüber der Landtagswahl 2017 erreichte die AfD einen Zuwachs an Zweitstimmen von 161 Tsd., d.h. + 4.7 Prozentpunkte. *2)

Warum lässt sich der markante Zugewinn der AfD als Ausdruck des Protestes bezeichnen? Weil von ihren Wählern anscheinend eher die Partei als die Persönlichkeit der Wahlkreiskandidaten bevorzugt wurde. Bei keiner anderen Partei, die den Sprung in den Landtag schaffte, übertrifft der Anteil der Zweitstimmen (AfD 10.9 %) den Anteil der Erststimmen (AfD 8.9 %). Zwei Prozentpunkte Differenz zugunsten der Partei zeigen ein erhebliches Gewicht der Partei-Präferenz bei den AfD-Wählern.

Umgekehrt übertreffen die Anteile der Erststimmen die der Zweitstimmen bei SPD (34.2 % > 33.4 %) und CDU (31.8 % > 28.1 %), was eine gewisse Bindung an die Persönlichkeit der Kandidat-Innen in den Wahlkreisen ausdrückt. Bei CDU und SPD, traditionell starken Parteien in Niedersachsen, ist dies zu erwarten. Bei den Grünen ist das Verhältnis (jeweils 14.5 %) ausgeglichen, bei der FDP differiert es geringfügig (4.5 %, 4.7 %).

Die Zahlen zur Wählerwanderung *4) belegen, dass die AfD (wie sonst nur die Grünen) insofern die Landtagswahl 2022 besonders erfolgreich bestritten hat, als sie per Saldo keinen Abfluss an Wählerstimmen hinzunehmen hatte.

Die AfD verzeichnete Stimmenzuflüsse von anderen Parteien und aus dem Lager der Nichtwähler von insgesamt 140 Tsd., das macht gut 35 % ihrer Wählerschaft aus.

CDU und FDP, das selbsternannte “bürgerliche Lager“, verloren je 40 Tsd. Wählende, also zusammen 80 Tsd. an die AfD. SPD und Nichtwähler trugen je 25 Tsd. und andere Parteien 10 Tsd. zum Wanderungsgewinn der AfD bei. *4)

Die FDP verlor insgesamt 110 Tsd. Stimmen an die anderen Parteien und die Nichtwähler, wodurch sie den Einzug in den Landtag verfehlte.

4. CDU: Verfehlter “Anti-Ampel-Wahlkampf“ in Niedersachsen.

Abschließend bleibt festzustellen: Der “Anti-Ampel-Wahlkampf“, mit dem CDU-Chef Friedrich Merz die niedersächsische CDU Althusmanns stärken wollte, hatte folgende Ergebnisse:

  • Die CDU wurde deutlich geschwächt,
  • die Berliner Ampel-Partei FDP flog aus dem Landtag,
  • die Grünen wurden gestärkt, auch auf Kosten der CDU, die von den Grünen sogar in der von den Wählern angenommenen Kompetenz für die Landwirtschaft übertroffen werden konnte.

Das Risiko der Wahl in Niedersachsen für die Stabilität der Ampel-Regierung im Bund erscheint sehr hoch.

5. Nach der Wahl in Niedersachsen: Instabilität im Bund?

Kommt es zum Dauerkonflikt zwischen einer um ihr Profil kämpfenden FDP mit den Grünen, droht der Abgang der FDP aus der Ampelkoalition. Träte dieser Fall ein, wären Neuwahlen die Folge. Dann könnte die FDP auch die Präsenz im Deutschen Bundestag verlieren.

Zwischen CDU-Chef Merz und CSU-Ministerpräsident Söder bestehe nur geringe gegenseitige Wertschätzung *5). Das schwächt schon heute eine demokratische “Mitte-Rechts-Alternative“ zur Ampel-Koalition.

Die Wahl in Niedersachsen könnte für Deutschland nach möglicher Neuwahl des Bundestages in einer SPD-Grüne-Linke-Koalition für die Bundesregierung enden. Angesichts der deutlichen Mehrheit der “Parlamentarischen Linken“ in der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag wäre ein politischer “Linksruck“ in Deutschland zu erwarten. Dies könnte das Lager des demokratischen “Westens“ gegenüber der Aggressionspolitik Putins schwächen, wie ständige Kritik des linken SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich an der Ukraine-Politik von Außenministerin Baerbock vermuten lässt. *6)

Der nach der Wahl in Niedersachsen vorhergesagte “Anfang vom Ende der Ampel“ *1) könnte auch der “Anfang vom Ende politischer Stabilität“ in Deutschland werden.

*1) NACH DER LANDTAGSWAHL. Der Anfang vom Ende der Ampel. EIN KOMMENTAR VON JASPER VON ALTENBOCKUM. 11.10.2022; faz.net. Hinweis: Landtagswahl Niedersachsen 2022. Vorläufiges amtliches Endergebnis (in %) sowie Gewinne/Verluste im Vergleich zur Landtagswahl 2017 (Prozentpunkte). Stand 11.10.2022: SPD (33.4; minus 3.5) CDU (28.1; minus 5.5) Grüne (14.5; plus 5.8) AfD (10,9; plus 4.7) FDP (4.7; minus 2.8) Linke (2.7; minus 1.9).    

*2) Vorläufige Ergebnisse und Vergleichszahlen. 03 Land Niedersachsen; https://wahlen.statistik.niedersachsen.de/LW2022/LW/000.pdf und Wikipedia: Landtagswahl in Niedersachsen 2022. Hinweis: Niedersachsen hat etwa 6.0 Mio. Wahlberechtigte, von denen rund 3.6 Mio. ihre Stimme für eine Partei abgaben (Zweitstimme), was eine Wahlbeteiligung von 60.3 % ergibt. Diese war niedriger als bei der Landtagswahl 2017 (63.1 %), der Bundestagswahl 2021 (74.7 %) und der Europawahl 2019 (61.5 %). Schon dies deutet auf Stärkung des Protestes oder zumindest Politikverdrossenheit  in Teilen der Wählerschaft.

*3) Landtagswahl Niedersachsen 2022. Welche Koalition wünschen sich die Wählenden? Stand: 10.10.2022 00:35 Uhr. Siehe insbesondere die auf Befragungen durch infratest dimap beruhenden drei Schaubilder: Landtagswahl Niedersachsen 2022. Bewertung Koalitionen/SPD-Wählende: Gute Koalition/Grünen-Wählende: Gute Koalition.

*4) Landtagswahl. Wie Wähler in Niedersachsen wanderten. Stand: 10.10.2022 06:32 Uhr; https://www.tagesschau.de/inland/waehlerwanderung-interaktiv-niedersachsen-101.html . Vereinfachter Hinweis: Das Institut für Datenerhebungen Infratest dimap, dessen Zahlen von den hier zitierten Quellen verwendet werden, schätzt den Umfang von Wanderungsströmen durch: Befragungsergebnisse (nach der Wahl, Befragung zur aktuellen und früheren Wahlentscheidung), Analyse geänderter Wählerzusammensetzung (u. a. Erstwähler, Sterbefälle, Zu- oder Wegzug), von Wahl- und Bevölkerungsstatistiken sowie dem Wahlresultat. Das Ergebnis dieser Schätzung sind die Wählerwanderungen  zwischen den Parteien und den Nichtwählern in gerundeten absoluten Zahlen. Damit wird geschätzt, welche Parteien oder die Nichtwähler von wem gegenüber der letzten Landtagswahl Wählende per Saldo hinzu gewinnen konnten oder verloren haben.

*5) Union. Zwei Skorpione im Glas. 20. Dezember 2021; https://www.sueddeutsche.de/bayern/union-markus-soeder-friedrich-merz-1.5492586?

*6) Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 12.10.2022. Baerbock warnt vor China. Bundesaußenminister Annalena Baerbock (Grüne) ruft zu mehr Vorsicht im Umgang mit China auf. Siehe dazu: „Kritik von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, sie solle sich im Ukraine-Krieg stärker für eine Verhandlungslösung einsetzen, wies sie (Baerbock) zurück. ´Seit dem 24. Februar tut die halbe Welt nichts anderes, als durch gemeinsame Initiativen Putin von diesem furchtbaren Krieg abzubringen`, betonte sie. ´Das sollte auch der SPD-Fraktionsvorsitzende mitbekommen haben`, fügte sie hinzu.“