SPD-Sturz ins Bergfreie?

Wer wollte das Bemühen der SPD um maximale innerparteiliche Demokratie herabsetzen?

Keine Partei Deutschlands ist durch die Geschichte so eindrucksvoll demokratisch legitimiert wie die SPD. Die SPD ist die älteste demokratischen Partei unseres Landes, sie wurde von Ferdinand Lassalle 1863 gegründet. Die SPD ist die einzige demokratische Partei, die durch ihren Partei- und Fraktionsvorsitzenden Otto Wels am 23. März 1933 das Ermächtigungsgesetz Hitlers im Reichstag ablehnte. Otto Wels trotzte als Demokrat den Nazi-Drohungen: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

Und dennoch kann heute gefragt werden: Sind Mitgliederbefragungen notwendig und zweckmäßig, wenn nach 70 Jahren praktizierter Demokratie in Deutschland gerade bei der SPD außer Zweifel steht, dass “ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entspricht“? (Vgl. Artikel 21,1 Grundgesetz).

Sind Befragungen von Mitgliedern einer Partei gebotenes Instrument, um Entscheidungen der Führungsgremien zusätzlich demokratisch zu legitimieren? Oder sind sie eher Ausdruck einer Führungskrise, einer Ratlosigkeit, einer Führungsschwäche?

Beim Entscheid über den Parteivorsitz durch die SPD-Mitglieder nach dem plötzlichen Rücktritt der Vorsitzenden Andrea Nahles sind jedenfalls ähnliche Probleme zu beobachten wie bei nicht wenigen Volksabstimmungen/Referenden.

Das Ergebnis von Basis-Abstimmungen über einzelne Sach- oder Personalfragen können kleine, aber schlagkräftig organisierte Gruppen dominieren. Das ist bei der SPD-Mitgliederbefragung für den Parteivorsitz mutmaßlich passiert: Die von Kevin Kühnert stramm organisierten 80.000 Jusos sind ihrem Anti-GroKo-Ziel nahe, indem sie die GroKo-skeptische Kandidatur Esken/Borjans durchgesetzt haben.

Das mag als organisationspolitisches Meisterstück Kevin Kühnerts gesehen werden.

  • Die SPD-Mitglieder sind überwiegend alt (54 % sind über 60 Jahre alt) und männlich (68 % Männer). *1)
  • Wundert es — alt, männlich, also nörgelig und eher gleichgültig? — wenn bei der inzwischen dritten SPD-Mitgliederbefragung *2) gerade mal 51 % gültige Stimmen zusammen kamen?
  • Die 80.000 Jusos machen zwar nur 19 % der 425.630 Mitglieder aus. Dennoch dürften sie durch vollen Einsatz mit bis zu 37 % der 216.721 gültigen Stimmen ihr effektives Stimmengewicht fast verdoppelt haben.

Der Wille der SPD-Mitglieder, Regierungsverantwortung der SPD mitzutragen, scheint dramatisch gesunken, wie die inzwischen drei Mitgliederbefragungen seit Ende 2013 nahelegen:

  • Koalitionsvertrag 2013 zwischen CDU/CSU und SPD: 76 % Zustimmung.
  • Koalitionsvertrag 2018 zwischen CDU/CSU und SPD: 66 % Zustimmung.
  • Mitgliederstimmen 2019 für die GroKo-Skeptiker Esken/Borjans 53,06 %, für die GroKo-Befürworter Geywitz/Scholz 45,33 %.

Wie urteilt der SPD-Parteitag, der am 06. Dezember 2019 beginnt, über das Interesse der Wähler an stabiler Regierungsführung für unser Land in krisenhafter Zeit? Wird wieder nur “in die Partei hinein gehorcht“ (SPD-Generalsekretär Klingbeil) statt in die Wählerschaft, dann droht der SPD-Sturz ins Bergfreie. *3)

*1) Hannoversche Allgemeine. Deutschland / Welt Statistik. Die Mehrheit der SPD-Mitglieder ist alt und männlich. 22.02.2018; https://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Die-Mehrheit-der-SPD-Mitglieder-ist-alt-und-maennlich

*2) Beim Mitgliedervotum der SPD zum Koalitionsvertrag 2018 betrug der Anteil der gültigen Stimmen 78 %. 66 % bejahten die Abstimmungsfrage: „Soll die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) den mit der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der Christlich-Sozialen Union (CSU) ausgehandelten Koalitionsvertrag vom Februar 2018 abschließen?“ https://de.wikipedia.org/wiki Mitgliedervotum_der_SPD_zum_Koalitionsvertrag_2018. Dem Koalitionsvertrag 2013 zwischen CDU/CSU und SPD hatten noch 76 % der SPD-Mitglieder zugestimmt.

*3) Hinweis zur umgangssprachlichen Wendung “jemanden ins Bergfreie fallen lassen (Verstärkung)“: jemanden sitzen lassen, aufgeben, fallen lassen, (plötzlich) im Stich lassen … ASSOZIATIONEN: (die) Hilfe verweigern, nicht helfen, seinem Schicksal überlassen … (völlig) allein, allein auf weiter Flur; https://www.openthesaurus.de/synonyme/(jemanden)+ins+Bergfreie+fallen+lassen+(Verstärkung)