Turkey matters.

„Turkey matters“ (Andrew Finkel) — wer so denkt, den fesselten in den Nachtstunden am Samstag die Bilder und Informationen zum dortigen Militärputsch bei BBC und CNN. Als der von Erdogan im Mai entlassene Premier Davutoglu feststellte, dass der Putsch gescheitert sei, glaubte ich an den Sieg der Menschen in Istanbul und Ankara über das militärische Verbrechen, an den Sieg der Demokratie in der Türkei.

Die Macht der nächtlichen Bilder mag bei mir positive Voreingenommenheit für den tapferen türkischen Widerstand eingepflanzt haben. Vielleicht sehe ich deshalb ein Missverhältnis zwischen deutscher Mediendarstellung des Verbrechens der Putschisten und den medialen Warnungen an Erdogan und seine Anhänger.

„Oettinger droht“ *1) dem Präsidenten Erdogan mit dem Ende der EU-Beitrittsverhandlungen. Gewiss, Erdogan droht den Putschisten mit der Einführung der Todesstrafe. Vor seinen Anhängern, die er zum Widerstand aufgerufen hatte, die Hunderte Tote beklagen, von Putschisten umgebracht.

Und die in Deutschland vorherrschende Kommentarlage? Schon am Sonntagabend im TV bei Frau Will galt die offenbar größte Sorge dem vermuteten Streben Erdogans nach „Präsidialdemokratie“, „totalitärer Reaktion“, „Beseitigen aller Staatsfeinde“, wie es MdB Röttgen formulierte. Der „Mut der Menschen habe mit Demokratie nichts zu tun“, so General Kujat, der als Fachmann die “unsinnige Durchführung des Putsches“ bemängeln durfte.

Und seit gestern sehen wir im deutschen TV eher Mitleid erregende Bilder führender Putschisten, einige offenbar verprügelt.

Missverhältnis in der Wahrnehmung von Tätern und Opfern des Militärputsches? Missverhältnis zwischen EU-Drohung und Wirkung in der Türkei? Missverhältnis zwischen der wohl beiderseitigen Als-ob-Simulation von „EU-Beitrittsverhandlungen“ mit der Türkei und den realen Beitrittschancen des Landes im nächsten Jahrzehnt?

„Turkey matters“: Mehr als drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Deutschland; weit über 70 Tausend Unternehmen mit türkischem Hintergrund schaffen hier Arbeitsplätze und Wohlstand. Die Türkei ist kürzlich EU-Vertragspartner geworden, um die von der Bundeskanzlerin ausgelöste Flüchtlingskrise in unserem Land zu bewältigen. Als Zielland unserer Exporte ist die Türkei (Rang 14) wichtiger als Russland (Rang 16) *2). Die Türkei ist NATO-Partner mit der zweitgrößten Armee der Allianz. Die Türkei gehört zur G20-Gruppe der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sowie der EU, dem G20-Forum der Zusammenarbeit für eine weltweit stabile Finanz- und Wirtschaftsentwicklung. Die geopolitische Bedeutung der Türkei als Nachbar in der Krisenregion von Irak, Iran und Syrien ist gar nicht zu überschätzen.

„Turkey matters“ — deshalb erscheint das Missverhältnis zwischen der Bedeutung der Türkei für Europa und der Qualität politischer Debatte und Analyse über dieses Land bedenklich.

Der Türkeikenner und Autor Andrew Finkel analysiert: „Die Türkei ist ein Gewinn für ihre NATO-Partner, wenn sie zu einer Führungsrolle fähig ist. Sie kann zum Verlust werden, wenn ihre Probleme — etwa die Spannungen mit ihrer kurdischen Bevölkerung — die Grenzen überschreiten. Und sie kann zum Mühlstein um den Hals der Welt werden, wenn sie — wie am Freitag geschehen — entscheidet, sich selbst zu beschädigen … Der gescheiterte Putsch lehrt, dass die Türkei einen Staatsmann braucht, der die verschiedenen Teile einer gespaltenen Gesellschaft zusammenbringt — oder zumindest bereit ist, dies zu versuchen.“ *3)

In der Parteienlandschaft der Türkei deutet wenig darauf hin, dass es zu Staatschef Erdogan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) derzeit eine Alternative mit Aussicht auf Regierungsführung gibt. *4)

Warum sind Erdogan und seine AKP eine so mächtige Kraft in der Türkei?

Eine einleuchtende Antwort gibt W. Robert Pearson: *5)

„1999 wurde Recep Tayyip Erdogan, ein junger Politiker mit religiöser Überzeugung, angesehen als erfolgreicher Bürgermeister von Istanbul, einer der weltweit größten Städte, ins Gefängnis geworfen … Nach der Entlassung änderte er den Kurs, trat für liberalere und tolerantere Politikziele ein und gründete mit anderen 2001 die heutige Regierungspartei (AKP) … Sein Wandel war vielversprechend. Die alte politische Ordnung verfiel nach immer wiederkehrenden wirtschaftspolitischen Fehlschlägen der Traditionsparteien. 2001 implodierte die türkische Wirtschaft, die Währung verlor in wenigen Monaten die Hälfte ihres Wertes. Nach einem Jahrzehnt der Misswirtschaft durch säkulare Parteien wählte das türkische Volk mit großer Mehrheit Erdogans Partei an die Macht … Die neue Regierung ging gegen korrupte Finanzgruppen in der Türkei vor, implementierte rigorose Wirtschaftsreformen, brachte die galoppierende Inflation unter Kontrolle und unternahm neue Anstrengungen zum EU-Beitritt. Sie erreichte, wozu in Jahrzehnten keine Vorgänger-Regierung fähig war. Innerhalb weniger Jahre verdreifachte sich die türkische Wirtschaftsleistung (Bruttosozialprodukt).“

Die vier Erdogan-Kritiker der TV-Runde bei Anne Will hatten sicher für viele überzeugend den warnenden Finger erhoben — vor einem „zivilen Putsch“ (Cem Özdemir) durch Erdogan und seine AKP. „Wie es aber mit der Türkei weitergeht, wissen die vier auch nicht. Alle äußern die Sorge, dass das Land nun noch weiter ins Autoritäre abdriftet.“ *6)

Missverhältnis zwischen Sorge/Warnung und Analyse/Wissen bei doch maßgeblichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über ein so wichtiges Partnerland wie die Türkei?

Hier müssen die Bürger erwarten, dass dieser Zustand geändert wird: Zur Türkei nicht primär Befindlichkeiten, sondern Analysen mobilisieren!

Wenden wir uns mit dieser Erwartung einer spezialisierten Einrichtung zu: dem Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI); das ZfTI ist Institut an der Universität Duisburg-Essen.

Am Beispiel des ZfTI könnte leider das anscheinend spezifisch deutsche Missverhältnis zwischen Sorge/Warnung und Analyse/Wissen gegenüber der Türkei wieder bestätigt werden.

Die Ausstattung und Struktur des ZfTI erscheint für dieses auf „Türkeistudien“ spezialisierte Institut geradezu absurd: 30 Mitglieder in Kuratorium (v.a. Politiker) und Vorstand, bei gerade 23 Mitarbeitern und einer durchaus überschaubaren Zahl von Publikationen. *7)

Dieses Urteil gegen die Wissenschaftspolitik der NRW-Landesregierung ist nicht zu hart, vergleicht man das ZfTI mit der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die SWP hat ebenfalls etwa 30 Mitglieder in Stiftungsrat und Vorstand. Aber die SWP zählt 117 Wissenschaftler und rd. 3000 vielbeachtete Publikationen.

Deshalb dieser Bürger-Appell an die deutsche Politik und Forschungsförderung: Korrigiert das Missverhältnis zwischen Warnungen/EU-Simulationspolitik und politischer Analyse-Kapazität für die Türkei. Von solchem Missverhältnis ist es nicht weit bis zum grundlegenden Missverstehen, bis zum Bruch zwischen Deutschland und dem Partnerland Türkei.

Turkey matters: Die Türkei ist für Deutschland, seinen sozialen Zusammenhalt und seine Außenpolitik zu wichtig, um den derzeitigen Stand des Wissens und der Analysekapazitäten hinzunehmen.

*1) Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger hat den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eindringlich davor gewarnt, nach dem versuchten Militärputsch die Todesstrafe wiedereinzuführen. Oettinger droht der Türkei mit Scheitern der EU-Beitrittsverhandlungen; DTS-Meldung vom 19.07.2016. RS: Oettinger versteigt sich hier zu der Aussage: „Man kann sich die Partner nicht immer aussuchen. Manche trauern sogar den alten Zeiten mit Gaddafi nach, der alles andere als ein Demokrat war, aber Terroristen in Libyen keine Chance gegeben hat.“ Gerade die für Türken beleidigende Parallele Oettingers zu Gaddafi zeigt, wie wichtig es im Umgang mit der Türkei ist, die langfristig-strategische Bedeutung des Partners Erdogan/AKP zu berücksichtigen (s. unten Fußnote *4)).

*2) Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel. Statistisches Bundesamt; https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/…/RangfolgeHandelspartner.pdf? 20.06.2016. Die Türkei steht sogar an 5. Stelle deutscher Handelspartner mit der aus deutscher Sicht höchsten positiven bilateralen Handelsbilanz, dh. Deutschland erzielt im Warenhandel mit der Türkei den 5.-höchsten Überschuss der Ausfuhr über die Einfuhr; s. Abb. 2.2., S. 12 in: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Aussenhandel/Gesamtentwicklung/AussenhandelWelthandel5510006139004.pdf?_

*3) Turkey was already undergoing a slow-motion coup – by Erdoğan, not the army. Andrew Finkel. Saturday 16 July 2016; https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/jul/16/turkey-coup-army-erdogan. (Andrew Finkel has been a correspondent in Turkey for 25 years and is a cofounder of P24 – an initiative to support independent Turkish media. He is also the author of Turkey: What Everyone Needs to Know, published by Oxford University Press; https://www.theguardian.com/profile/andrew-finkel). (Übersetzung RS).

*4) Parlamentswahl November 2015: AKP 49.5 % (absolute Mehrheit der Parlamentssitze, 317 von 550). Die sich als sozialdemokratisch darstellende Republikanische Volkspartei (CHP) 25.3 %. Kürzlich beteiligte sich die CHP-Fraktion an der Aufhebung der Immunität kurdischer HDP-Abgeordneter durch die Erdogan-Regierung. Die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) 11.9 %. Die „pro-kurdische“ Demokratische Partei der Völker (HDP) 10.8 %, knapp über der 10%-Sperrklausel für den Weg ins Parlament. Zwar wurde der Wahlkampf von Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats als „unfair“ bewertet, aber die Wahlbeteiligung von 88.2 % wurde gewürdigt. Siehe: Wikipedia, Parlamentswahl in der Türkei November 2015.

*5) What Caused the Turkish Coup Attempt. President Erdogan`s uncompromising approach to rule was bound to produce a violent backlash—but this wasn`t the way to go. By AMB. W. ROBERT PEARSON. July 16, 2016; (W. Robert Pearson served as U.S. ambassador to Turkey from 2000 to 2003 and is currently a scholar at the Middle East Institute, a think tank in Washington, D.C.); www.politico.com/. (Übersetzung RS).

*6) Gemeint sind: die deutsch-türkische Anwältin Seyran Ateş; Cem Özdemir, MdB, Bundesvorsitzender Grüne; Norbert Röttgen, als MdB der CDU Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, Deutscher Bundestag; Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr. Siehe: Nach dem Militärputsch in der Türkei. Der Erdoğan aus Solingen. Anne Will unterbricht ihre Sommerpause, doch die Sendung zum Putsch in der Türkei liefert kaum Erkenntnisse. Sie hat die falschen Leute eingeladen. TV-Kritik von Benedikt Peters. 18. Juli 2016; http://www.sueddeutsche.de/. (Hervorhebung RS).

*7) http://zfti.de/ueber-uns/kuratorium/. (RS: Stand: 19.07.2016).