Verantwortungslose Mehrheit im EU-Parlament.

Inmitten der europäischen und weltweiten Finanz- und Schuldenkrise verweigern 325 EU-Abgeordnete durch „Nein“-Votum und 49 MEPs, die sich enthalten, die Berufung des herausragenden Finanzmarkt-Fachmanns Yves Mersch in das Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB).

Die 300 Befürworter der Ernennung Merschs reichten nicht aus. Dem Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz, ist dafür zu danken, dass er sich dieses Ausmaß von Verantwortungslosigkeit nicht hat vorstellen können und dem EU-Rat der Staats- und Regierungschefs bereits Zustimmung für Yves Mersch zugesagt hatte (Vgl. SZ, 25.10.2012, Streit um Spitzenposten bei Zentralbank).

Der Grund für die negative Entscheidung der Parlamentsmehrheit: Yves Mersch ist keine Dame! Zu Recht kommentierte SZ-Redakteur Claus Hulverscheidt diese Entscheidung des Europa-Parlaments: „Die Frauen-Quote ist richtig. Den Streit darüber aber auf dem Rücken von EZB-Direktoriumskandidat Mersch auszutragen, ist schäbig“.

Wie ist so etwas möglich? Ist es Senilität gemäß dem Satz „Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa“? Keineswegs! Das Husarenstück der Borniertheit findet sich gerade bei jüngeren Abgeordneten. Zwei Protagonisten solcher Haltung seien hier hervorgehoben:

„´Das Parlament hat den Rat lange vor der Nominierung gewarnt, dass hier die Geschlechtergleichheit auf dem Spiel steht`, sagt die französische Liberale Sylvie Goulard.´Ein EZB-Vorstand nur aus Männern ist im Jahr 2012 nicht zu akzeptieren. Rechtlich kann der Rat Yves Mersch jetzt bestätigen. Aber das wäre ein politischer Fehler und das falsche Signal.`“ Und: „Sven Giegold, finanzpolitischer Sprecher der Grünen, pflichtete Goulard bei:´Das Europaparlament hat heute Rückgrat bei der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen gezeigt. Wenn die Berufung durchgezogen wird, wird mit zweierlei demokratischem Maß gemessen.`“ (DIE WELT, 25.10.2012, Warum EZB-Kandidat Yves Mersch durchgefallen ist, Sebastian Jost).

Wenigstens bei Dummheit und Verantwortungslosigkeit steht hier also eine deutsch-französische Allianz, mit „Rückgrat“ (Giegold) sogar.

Allerdings könnte wirklicher Schaden, z.B. für die SPD und Peer Steinbrücks Kandidatur, von einer anderen Interpretation des Vorgangs ausgehen: „Mitglieder von CDU/CSU fühlten sich bestätigt, dass es den Gegnern von Mersch weniger um die Frauenquote als um dessen finanzpolitische Haltung ging. ´Grüne und Sozialisten haben die Frauenquote für ganz andere Zwecke benutzt. Sie wollen niemanden auf dem EZB-Posten haben, für den Stabilität die Priorität hat`, so der CDU-Abgeordnete Burkhard Balz. Die Euro-Finanzminister sollten bei ihrem Ja für Mersch, das sie bereits im Juli gegeben haben, bleiben.“

Diese Forderung sollte zügig umgesetzt werden; denn: „EZB-Präsident Draghi hat deutlich gemacht, dass die Notenbank mitten in einer Krise, die ihr mehr Arbeit beschert denn je, dringend ein voll besetztes Direktorium bräuchte. Die Zentralbanker hoffen darauf, dass der Rat das Parlament in seine Schranken weist – und sich über das negative Votum der Abgeordneten hinwegsetzt.“ (DIE WELT, a.a.O.).

Darüber hinaus ist sehr zu hoffen, dass Yves Mersch nicht hinschmeißt. Wer sich mit seinem fachlichen Hintergrund beschäftigt hat, und wer auf strikte Bindung der EZB an das Ziel Preisniveaustabilität und auf Verantwortung für Finanzmarktstabilität setzt, der kann die EZB-Berufung des eminenten Fachmanns Yves Mersch nur wünschen.

Bereits im März 2008 *) hatte Zentralbankgouverneur Yves Mersch die Finanzkrise, ihre Folgen, die Risiken für Banken, Versicherungen, Realwirtschaft und Finanzmarktstabilität analysiert. Und diese Risiken im wesentlichen auf drei fundamentale Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zurückgeführt: „Globalisation, De-Intermediation, Securitization“.

Seine Analyse macht die folgenden Zusammenhänge auch für den Laien dankenswert verständlich.

Globalisierung mag Risikostreuung begünstigen, zugleich verstärkt sie „Ansteckungseffekte“ auf den internationalen Finanzmärkten gerade auch durch die elektronischen Medien im Kapitalverkehr.

Die Rolle der Banken als Mittler, „Intermediär“, im Kreditgeschäft, die Verbindung zwischen Banken und Kreditnehmern ist zunehmend gelockert worden: De-Intermediation. Einerseits, weil große Kreditnehmer selbst als Kapitalmarktteilnehmer auftreten, andererseits, weil Banken zunehmend ihre Kreditrisiken auf Märkten abladen.

Das Instrument dafür war die Securitization, dh. Verbriefung von Kreditforderungen in handelbare Wertpapiere, die an die Stelle der Buchkredite (v.a. Darlehen, Überziehungskredite) treten. Im Prozess der Securitization ging die Verantwortlichkeit für das sorgfältige Monitoring der Kreditqualität verloren. Wertpapiere mit zweifelhafter Bonität der zugrundeliegenden Kreditforderungen wurden z.B. von US-Instituten weitergereicht. Nicht zuletzt an deutsche öffentlich-rechtliche Landesbanken, die – von Politikern und Gewerkschaftlern kontrolliert – durch nachlässiges Risikomanagement den deutschen Steuerzahler bereits Dutzende von Milliarden Euro kosteten.

In seiner wegweisenden Rede von Anfang 2008 hatte Yves Mersch aufgerufen, die Risikovorsorge und Aufsicht in der EU gegenüber dem Bankensektor zu stärken, die Vorschriften für Hinterlegung von Eigenkapital bei Securitization zu verschärfen. Ferner forderte er Zusammenarbeit und Informationsaustausch zwischen Zentralbanken, Bankenaufsicht und den für Finanzmarktregulierung verantwortlichen Regierungen. Schon damals warnte Zentralbankgouverneur Mersch vor der Persistenz sowie den finanz- und realwirtschaftlichen Folgerisiken der Finanzkrise.

Einen solch weit blickenden, mit dem Geschehen auf den Finanzmärkten so vertrauten Fachmann wie Yves Mersch will also eine Mehrheit von Abgeordneten des Europaparlaments als Direktoriumsmitglied der EZB verhindern.

Dieses unvorstellbare Ausmass von Frivolität, einer ausgerechnet frauenpolitisch bemäntelten Verantwortungslosigkeit, sollte der Bürger bei der Europawahl 2014 bestrafen. Entweder durch Wahl solcher MEPs, die nachweislich für die Berufung von Yves Mersch stimmten. Oder durch Wahlenthaltung, um diesem „Parlament“ solange Legitimität der Repräsentation zu verweigern, bis dort Vernunft einkehrt. 2009 lag die Europa-Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik bei gerade 43 Prozent.

*) The recent sub-prime turbulences and their consequences for Luxembourg, Speech by Mr Yves Mersch, Governor of the Central Bank of Luxembourg, at the Association of the Luxembourg Fund Industry (ALFI) Spring Conference, Luxembourg, 19 March 2008; Bank for International Settlements, Review 38/2008, S. 1 – 8).