Verbrecher unter sich.

Das ukrainische Brudervolk militärisch von seiner faschistischen Führung befreien, das russische Vaterland gegen den “Westen“ verteidigen — mit dieser Phrasen-Politik hat Präsident Putin Russlands Ansehen bei Demokraten weltweit ruiniert.

1. Risse in Putins Diktatur?

Nicht nur unter den Komplizen der Diktatur Putins leben die russischen Menschen, sondern auch unter einer willfährigen sogenannten “Elite“, allesamt als “Kleptokratie“ im gemeinsamen Interesse vereint, die Macht zu nutzen, sich zu bereichern.

Dieses “System“, von Fachleuten auch “Machtvertikale“ genannt, hat über gut zwei Jahrzehnte das russische Volk apathisch gemacht: Diktatur, politische Morde, Krieg und Zwang werden nicht nur hingenommen, sondern sogar unterstützt. Mutmaßlich aus Angst vor dem niederträchtigen Spiel mit den Begriffen Verrat, Bürgerkrieg, Chaos, Zerfall jeder Ordnung, das von Putins Regime propagandistisch monopolisiert wird.

Daher die weltweite Überraschung vom 23. bis zum 25. Juni 2023 über den “Aufstand“ der paramilitärischen Wagner-Gruppe unter Prigoschins Führung und ihrem nahezu unbehinderten “Marsch der Gerechtigkeit“ in Richtung Moskau.

Putin hatte erst mit Vernichtung der Verräter gedroht, um dann mit Hilfe seines Vasallen — Weißrusslands Präsident Lukaschenko — einen “Deal“ und Straffreiheit mit Prigoschin zu vereinbaren.

In den internationalen Medien spekulieren Fachleute, wie geschwächt Putin nach diesem Schauspiel von Handlungsunfähigkeit sei. Lukaschenko ersparte Putin nicht, dass er sich in einer politischen Schlüsselrolle für den “Deal“ sah: Ihm, Präsident Lukaschenko, sei klar gewesen, dass im Kreml beschlossen war, „die Wagner-Leute ´kaltzumachen`“ … er dagegen habe Sicherheitsgarantien und die Einladung nach Belarus ausgehandelt. Auch mit der Warnung an Prigoschin: Auf dem Wege nach Moskau “werden sie dich zerquetschen wie eine Wanze.“ *1) Wie gesagt, so reden sie: Verbrecher unter sich …

Aus der Zurückhaltung verantwortlicher Politiker im Westen ragt das Urteil des US-Außenministers Antony Blinken heraus: „Dies ist nur ein weiteres Kapitel in einem sehr, sehr schlechten Buch, das Putin für Russland schreibt … Aus dem eigenen Land wurde direkt Putins Autorität herausgefordert, wurden direkt Putins Vorwände bestritten, mit denen er seine Aggression gegen die Ukraine unternahm. Dies ist etwas sehr Wirkmächtiges, das zu Spaltungen führt.“ *2)

Dennoch scheint Putins Versuch, nach dem “Deal“ mit Prigoschin seine machtpolitischen Ränke fortzusetzen, sogar im Westen zu wirken: „Scheitert Putin, droht in Russland ein Bürgerkrieg. Das Gespenst des Chaos der 90er-Jahre steht im Raum. Machtkämpfe, politische Morde. Diesmal allerdings mit diversen Privatarmeen. Dann würde sich der Westen Putin wohl händeringend zurückwünschen. Auch damit die Atomwaffen unter Kontrolle blieben.“ *3)

Solcher Analyse wird von fachlich ausgewiesenen Russland-Beobachtern widersprochen:

  • Ist Putin nicht bereits gescheitert? Mit den offensichtlich verlogenen Vorwänden, das ukrainische Volk von Faschisten zu befreien? Selbst der Gangster Prigoschin hat diese Lüge entlarvt und damit seinen “Aufstand“ begründet. Prof. Thomas Jäger kommentiert: „Prigoschin erklärte auf seine drastische Art, dass die Gefahr, die Russland aus der Ukraine drohe, erstunken und erlogen sei. Es gäbe diese Gefahr nicht, es gab sie nie. Russland führe diesen Krieg seit 2014 nicht, weil die Ukraine Menschen im Donbass bedrohe, sondern weil sich korrupte Offiziere die Taschen vollmachten. Nicht „Nazis“ in der Ukraine, sondern die Korruption in Russland sei die Ursache des Kriegs. … Putins Märchen vom bedrohten Russland hat nach Prigoschins Tiraden keine Grundlage mehr … Vorher wussten viele, dass Putin lügt — jetzt wissen es fast alle“. *4) Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum bescheinigt Prigoschin Einfluss unter russischen Militärführern und Soldaten: Seine Behauptung, die Unterstützung des Krieges gegen die Ukraine beruhe auf reinem Eigeninteresse (Beförderung) und blanker Gier russischer “Eliten“ bei der Plünderung des ukrainischen Donbas und der Krim, zerstöre Putins gesamte Begründung für den Krieg gegen die Ukraine seit 2014. In Verbindung mit der schlechten Behandlung der russischen Soldaten und ihren hohen Verlusten hätten Prigoschins Vorwürfe Resonanz unter russischen Militärs gefunden. *5)
  • Droht in Russland ein Bürgerkrieg? Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, konstatiert, dass „die Bürger in Russland nicht auf die Straße gegangen“ sind, um gegen Progoschins Aufstand zu protestieren. „Diese apathische Reaktion zeigt auf der einen Seite, dass ein Bürgerkrieg nicht zu erwarten war, aber auch, wie weit der Kriegsverbrecher Putin und der Gangsterchef Prigoschin von der Bevölkerung entfernt sind.“ *6)

Ein apathisches russisches Volk beteiligt sich nicht an einem Bürgerkrieg. Eher dürfte die Gier von Kleptokraten, sich Vermögen von scheiternden Rivalen anzueignen, einen Gangsterkrieg antreiben.

„Scheitert Putin, droht in Russland ein Bürgerkrieg“ — dieser Satz spielt Putin in die Hände. Bis hin zu dem absurden Schluss, der Westen könnte sich „Putin .. händeringend zurückwünschen. Auch damit die Atomwaffen unter Kontrolle blieben“. *3) Welche Garantie der Atomwaffen-Kontrolle ist denn von dem Kriegsverbrecher Putin zu erwarten, der bereits wiederholt mit Nuklearschlägen gedroht hat? Was gerade von Bundeskanzler Scholz mit Sorge vor “Eskalation“ aufgegriffen wurde.

2. Bleibt Putins Aggressionspolitik eine Gefahr für Europa?

So vernünftig die in NATO und EU verbreitete Zurückhaltung erscheint — es ist jedoch fragwürdig, die Putsch-Episode als “innere Angelegenheit Russlands“ zu deklarieren. Auch ein scheinbar gescheiterter Machtkampf unter einem Diktatur Putin, der den Krieg in Europa begonnen hat, lässt sich nicht als “innere Angelegenheit“ dieses Regimes von Kriegsverbrechern abtun.

Dies verdeutlichen wesentliche Schlussfolgerungen aktueller Analysen einer Forschergruppe des Chatham House, führendes privates Forschungsinstitut für internationale Politik in London. *7) (Sie werden im folgenden zusammengefasst).

  • Trotz aller Verlautbarungen über Sicherheitsgarantien für Kiew, bis hin zur Mitgliedschaft in der NATO und der EU, seien die Ukraine und der demokratische Westen vor Russland nicht sicher. Nicht solange Putin im Amt ist und außerdem in der russischen Führung und bei vielen russischen Menschen geglaubt wird, die Ukraine müsse rechtmäßig von Moskau regiert werden.
  • Vielfältige Erfahrungen würden die Folgen eines vermeintlichen, jedoch falschen Friedens mit Russland belegen: Georgien nach der russischen Invasion von 2008; gebrochene Vereinbarungen über Waffenstillstand in Syrien; die beiden gebrochenen Minsker Abkommen nach Russlands ersten Invasionen 2014. Der Westen habe die russischen Besetzungen in Georgien und in der Ukraine hingenommen. Dies habe gezeigt, Russland könne weitergehen und sei somit zu dem Überfall auf die Ukraine ab Februar 2022 ermutigt worden.
  • Angesichts der Brutalität der russischen Kriegsführung seit 2022 müsse mit schwerwiegenden internationalen Auswirkungen gerechnet werden, wenn die Ukraine zu Verhandlungen mit dem Aggressor Russland genötigt werde. Die unabhängige Staatlichkeit und die territoriale Integrität der Ukraine würden verletzt. Das nächste Opfer Russlands könnte die Republik Moldau sein, die sich als Nachbar der Ukraine für einen Westkurs entschieden habe, nachdem sie im Mai 2023 aus dem russisch dominierten Commonwealth of Independent States (CIS) ausgetreten sei.
  • Sollte der demokratische Westen nicht bereit sein, der russischen Aggression in ihrer Nachbarschaft entgegen zu treten, wären auch die Baltischen Staaten und Polen gefährdet. Die USA und Großbritannien hätten als Garanten des Budapester Abkommens von 1994 nicht die territoriale Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine gegenüber Russland durchsetzen können. Damit stelle sich die Frage, ob und wie die allgemeiner gehaltenen Beistands-Verpflichtungen aus Artikel 5 des Nato-Vertrages im Falle eines Angriffs durch Russland auf Polen oder die Baltischen Staaten umgesetzt würden. (RS-Hinweis zu Art. 5: Jede NATO-Partei treffe „Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“)
  • Westliche Politiker wären zu leichtfertig mit dem Wort “inakzeptabel“ umgegangen: Aggressionskrieg, Annexion, Massenmord, Verletzungen der Genfer Konventionen, Einsätze radiologischer und chemischer Waffen, Ökozid durch Zerstörung des Nova Kakhovka-Dammes im Juni 2023 — so wurden immer wieder die maßlos feindlichen Verbrechen Russlands gegen seine Nachbarn und Gegner beschrieben. Russland seien jedoch bisher nicht hinreichend schwere Konsequenzen für seine Verbrechen auferlegt worden. De facto sei Russlands Verhalten damit als Norm hingenommen worden.
  • Die einstimmig gefasste Schlussfolgerung der Autoren des Chatham House laute daher: „Das einzige Ergebnis des Krieges, das die künftige Sicherheit Europas gewährleisten kann, ist ein überzeugender Sieg der Ukraine. Daher muss die westliche Militärhilfe für die Ukraine verdoppelt werden, bevor es zu spät ist.“

3. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Nur die baldige militärische Niederlage Russlands in der Ukraine, nur weitere hart wirksame Sanktionen gegen Russland, nur starker und langfristig garantierter Aufwuchs der Militärhilfe an die Ukraine lässt nach der Lektüre der Experten-Analysen *6) Raum für eine Hoffnung:

Verantwortungsbewusste Militärführer mit wichtigen Gouverneuren und Unternehmern Russlands könnten kriegswütigen warlords und gierigen Profiteuren Einhalt gebieten. Solche Persönlichkeiten könnten weitere Aggressions- und Kriegsverbrechen von Putin und Komplizen unterbinden, die ihrem Russland selbst schwersten Schaden zufügen, und sie könnten Stabilität in Russland herbeiführen, indem sie einen sinnlosen Aggressionskrieg beenden.

Es erscheint unvorstellbar, dass die bisher bekannten “Verbrecher unter sich“ die ganze Macht in Russland dauerhaft okkupiert haben könnten — es bleibt die Hoffnung auf eine andere Zukunft mit einer anderen Elite für dieses große Land und Volk.

*1) Newsblog zum Krieg in der Ukraine. Dienstag, 27. Juni. +++ Lukaschenko betonte erneut, dass er einen straffreien Abzug der Gruppe vermittelt habe; https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-zum-krieg-in-der-ukraine-100.html

*2) Blinken says Wagner insurrection shows ‘cracks’ emerging in Putin’s rule. By Shawna Mizelle, CNN. Updated 10:20 PM EDT, Sun June 25, 2023; https://edition.cnn.com/2023/06/25/politics/antony-blinken-russia-putin-wagner-cnntv/index.html (Übertragung RS).

*3) Jo Angerer. Nach Wagner-Vormarsch erscheint Putin schwach. Viele Russen zweifeln nun am Präsidenten und an Verteidigungsminister Schoigu. 25. Juni 2023; https://www.derstandard.at/story/3000000176229/viele-russen-zweifeln-nach-wagner-vormarsch-an-putin-und-schoigu

*4) Prof. Dr. Thomas Jäger. Warum Putin Prigoschin nicht stoppte – obwohl er genau wusste, was passiert. 26.06.2023; https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/politik-transparent-von-thomas-jaeger-warum-putin-den-aufstand-nicht-stoppte-obwohl-er-genau-wusste-was-passiert_id_197396045.html

*5) Siehe Anne Applebaum in Fareed Zakaria, the GLOBAL PUBLIC SQUARE (GPS): Wagner Chief Cuts Deal and Calls Off Insurrection … Aired June 25, 2023; https://transcripts.cnn.com/show/fzgps/date/2023-06-25/segment/01

  *6) Außen-Experte Christoph Heusgen zum versuchten Putsch. „Machtkampf in Russland berührt europäische Sicherheit nicht“. Interview/Berlin. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, über die Folgen des abgebrochenen Aufstands der Wagner-Söldnertruppe in Russland. Die Ukraine werde von dem Machtkampf profitieren, so der frühere außenpolitische Berater von Kanzlerin Angela Merkel. Interview von Holger Möhle. https://rp-online.de/politik/ausland/christoph-heusgen-lage-in-russland-keine-gefahr-fuer-europa_aid-92692797

*7) How to end Russia’s war on Ukraine. Safeguarding Europe’s future, and the dangers of a false peace. CHATHAM HOUSE REPORT. 27 JUNE 2023; https://www.chathamhouse.org/2023/06/how-end-russias-war-ukraine (Siehe vor allem die Einführung und die Analysen ab S. 46 ff)