Dann kamen die Panzer …

Am 15. Juni 2023 wurde im Deutschen Bundestag über die Erinnerung an den Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR debattiert. Dies war keine Feierstunde!   

Der Sozialdemokrat Carsten Schneider, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, berichtete, wie vor 70 Jahren „die Sowjetunion klargemacht (hatte), dass sie den Herrschaftsbereich mit Gewalt aufrechterhalten würde und konnte. Nach dem 17. Juni 1953 verschärfte die SED Repressionen, die Stasi und Einparteiendiktatur. Am Ende stand der Mauerbau.“ *1)

1. Erinnerung an den 17. Juni 1953: der “europäische Kontext“.

Carsten Schneider entwickelte eine bleibende Erkenntnis: Der 17. Juni 1953 sei nicht nur eines der wichtigsten Ereignisse der deutschen Demokratiegeschichte, seine historische Bedeutung werde deutlich, stelle man diesen Tag in den “europäischen Kontext“:

  • Dr. Christiane Schenderlein (MdB-CDU) hatte an die Opfer des  Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 erinnert: „Mindestens 55 Menschen starben, etwa 15 000 wurden verhaftet, weil sie für ihre Freiheit demonstrierten.“ *1)
  • Ungarn und Polen 1956. *2) In Polen folgten im Juni 1956 etwa 100.000 Menschen dem Arbeiteraufstand von Poznań (Posen). Die regierenden Kommunisten (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP)) ließen die Erhebung blutig niederschlagen. 57 Menschen wurden getötet. Im Oktober 1956 revoltierte das ungarische Volk gegen die kommunistische Diktatur. Dem 60-jährigen Imre Nagy vertrauten die Aufständischen. Reformkommunisten ernannten Imre Nagy zum Ministerpräsidenten. „In seiner kurzen Amtszeit während des Aufstands führte er das Mehrparteiensystem wieder ein und erklärte am 1. November 1956 Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt. Drei Tage später überrollten sowjetische Panzer das Land.“ *3) Erbitterte Kämpfe des ungarischen Widerstands gegen die Sowjet-Truppen zwischen dem 23. Oktober und dem 11. November 1956 haben mindestens 2700 ungarische Opfer gefordert. *2) Am 16. Juni 1958 wurde Imre Nagy durch ein sowjetisches Vasallenregime hingerichtet. 35.000 Gerichtsverfahren führten zu mehr als 200 Todesurteilen und harten Strafen. Zehntausende Menschen erlitten Haft in Internierungslagern. *2)
  • Tschechoslowakei (CSSR) 1968. Reformkommunisten um den Generalsekretär der CSSR-KP Alexander Dubcek wollten einen humanen Sozialismus durch die Reformen des „Prager Frühlings“ verwirklichen. Am 20. August 1968 besetzten etwa 400.000 Soldaten des Warschauer Pakts das Land (350.000 aus der Sowjetunion, 17.000 aus Ungarn, 24.341 aus Polen, 2.168 aus Bulgarien und mindestens 9 Verbindungsoffiziere aus der DDR). Einzig das Ostblockland Rumänien verweigerte, sich an der Invasion zu beteiligen. „Insgesamt 108 Todesopfer des Einmarschs wurden bis Ende 1968 gezählt, die meisten von ihnen wurden von Militär-Fahrzeugen überrollt oder durch Schüsse tödlich verwundet“. *4)
  • Die polnische Gewerkschaft Solidarnosc, vom Staat unabhängige gewerkschaftliche Massenbewegung, entstand 1980 nach der Danziger Vereinbarung zwischen den Streikenden und der polnischen Regierung. „Schon in den ersten Monaten wurden Millionen von Menschen Mitglieder der Gewerkschaft (9,5 Millionen im Jahre 1981).“ *5) Mit dieser Bewegung, die ganz Polen umfasste, begann der Zusammenbruch des von der UdSSR kontrollierten Warschauer Paktes.

Carsten Schneider stellt zum “europäischen Kontext“ des Widerstandes gegen den Sowjet-Kommunismus fest: „All diese Menschen stellten sich tapfer gegen die sowjetische Hegemonie. Überall dort musste die totalitäre Herrschaft Gewalt anwenden, um die Macht zu sichern, und überall dort wurde sie am Ende auch überwunden.“ *1)

Und: Die Vereinigung Deutschlands sei gelungen, „weil sie von Demokraten der europäischen Nachbarn im engsten Einvernehmen vorangetrieben wurde. Wir sind den anderen Demokratien Europas dankbar, dass wir Deutschland vereinigen konnten und Mitglied der Europäischen Union und der NATO sind.“ *1)

Dr. Christiane Schenderlein (MdB-CDU) und Carsten Schneider (MdB-SPD) leisteten politisch bedeutende Beiträge in der Debatte zum Aufstand des 17. Juni 1953. Beide MdBs haben den Widerstand nicht nur gegen das Aggressionsverbrechen Russlands in der Ukraine, sondern gegen alle diktatorische Willkür unserer Zeit mit jenem Tag verbunden: *1)

  • „Es gibt kein Ende der Geschichte, gelegentlich wiederholt sie sich sogar. Heute kämpfen Ukrainerinnen und Ukrainer entschlossen gegen ein imperialistisches Regime, das von einer neuen Sowjetunion träumt. Dieser Kampf begann übrigens schon 2013/2014 auf dem Maidan, ein Protest, an dem Menschen aus allen Schichten teilnahmen. Auch diese Verbindungslinie gibt es zum 17. Juni … Der 17. Juni 1953 sollte ein Gedenktag für Freiheit und Demokratie in ganz Europa sein.“ (Carsten Schneider).
  • „Fast ein halbes Jahrhundert hat die Sowjetunion Freiheit und Demokratie in Mittel- und Osteuropa mit Gewalt und Verfolgung verhindert. Und auch heute rollen wieder russische Panzer in Europa: 40 Millionen Ukrainer kämpfen für ihre Freiheit. 70 Jahre nach dem gescheiterten Freiheitsaufstand steht der 17. Juni 1953 symbolisch für alle Menschen, die auch heute Opfer von Willkür sind. Stellvertretend seien genannt: Alexej Nawalny in Russland, Joshua Wong in China, José García in Kuba und die Journalistinnen Mohammadi und Hamedi im Iran. Sie sind die Stimme für so viele Menschen, die sich nach einem Leben in Freiheit sehnen. Ihr mutiger Widerstand gegen Diktatur und Unterdrückung ist nicht umsonst; denn am Ende siegt immer die Freiheit! … Freiheit und Menschenrechte — Werte, die über 1 Million Demonstranten am 17. Juni 1953 einforderten — sind eben keine ostdeutschen, sondern europäische und universelle Werte.“ (Dr. Christiane Schenderlein (MdB-CDU).

2. Unwürdiger Missbrauch des 17. Juni 1953 durch AfD und LINKE.

Die AfD-MdBs Dr. Götz Frömming und Dr. Marc Jongen versuchten, die Opfer kommunistischer Gewalt auch als Opfer „der Verquickung und Verstrickung westdeutscher Parteien mit der SED und den kommunistischen Blockparteien der DDR“ darzustellen. Demgegenüber hege wohl nur die AfD “nationalpatriotische Gefühle“ (M. Jongen).

Carsten Schneider (MdB-SPD) entlarvte diesen durchsichtigen Versuch, die demokratischen Parteien SPD, FDP und CDU/CSU sowie die deutsche Friedenspolitik gegenüber den Ländern der östlichen Nachbarschaft zu diskreditieren: „Da ich gerade Sie von der AfD höre: Dieses Russland, für das Sie geradezu unterwürfig um Verständnis werben, untergräbt heute mit Trollfabriken, Fake News und finanziellen Mitteln für rechte Parteien unsere Demokratien in Europa.“ *1)

Auch der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Dr. Dietmar Bartsch, nutzte empörte Rhetorik über die Opfer des 17. Juni 1953 für fragwürdige politische Behauptungen. Dr. Bartsch, mit 19 Jahren bereits SED-Mitglied (1977) und damit das Modell der “jeunesse dorée“ der DDR, will als Lehre aus dem 17. Juni 1953 glauben machen: *1)

  • „Viele, auch aus der SED, die sich ein besseres Land wünschten, wurden ihrer Hoffnungen beraubt.“
  • „1989 war die Zeit vorbei, dass sowjetische Panzer demokratische Aufstände niederschlugen.“
  • Der 17. Juni 1953 war in der DDR „der letzte große politische Streik der Nachkriegszeit in Ost und West … Genau das gilt bis heute in Deutschland als nicht zulässig … Wir als Linke fordern das Recht auf politischen Streik, nicht zuletzt als Lehre aus dem 17. Juni.“

Hier zeigt sich der Wert dieser Debatte im Deutschen Bundestag. Die keine Feierstunde, sondern durchaus  politische Auseinandersetzung war. Die Wählerschaft sollte bewerten, was von der AfD und der LINKEN zum 17. Juni 1953 missbräuchlich geäußert wurde.   

3. Jugend in der DDR: Konformitätszwang

Katrin Budde (MdB-SPD), 1965 in der DDR geboren,  beschreibt das Gehörte und das selbst Erlebte:

„Das blutige Niederschlagen durch die russische Armee und die Sicherheitsbehörden der DDR war aber nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte, auf Unterdrückung und Bespitzelung eines ganzen Systems, das darauf ausgerichtet war, den Bürgerinnen und Bürgern ihre Freiheit zu nehmen.“ *1) Aber Katrin Budde hatte das Glück des Gegengewichts zum staatlich verordneten Konformitätszwang: „Ich bin in einem Elternhaus groß geworden, das unangepasst war und in dem offen über die tatsächlichen Ereignisse geredet wurde.“ *1)

In anderer Lage war Detlef Müller (Chemnitz) (MdB-SPD), 1964 in der DDR geboren:

Mit 15 habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und in meiner Schule im Staatsbürgerkundeunterricht nachgefragt, was denn eigentlich an diesem 17. Juni war. Die Antwort war so klar wie erwartbar:

  • eine versuchte Konterrevolution, ein faschistischer Putschversuch, organisiert von amerikanischen Agenten; westliche Provokateure und RIAS hätten den Aufstand gezielt vorbereitet und propagiert. 
  • Bitter für mich war, dass ich von meinen eigenen Eltern die nahezu wortgleiche Antwort bekam. Es war halt ein anderes Elternhaus als bei meiner Kollegin Katrin Budde. Und meine Eltern wussten bereits, dass ich in der Schule gefragt hatte.“

Der Zwischenruf von Kay-Uwe Ziegler (MdB-AfD), 1963 in der DDR geboren, belegt alle Bedenken, die sich gegen ihn und seine Fraktion richten: „Das ist aber ein schräges Elternhaus!“ *1)

Schluss

Wenn Wählerinnen und Wähler sich ein Urteil über die fachliche und menschliche Eignung ihrer MdBs bilden wollen — die Debatte zum 17. Juni 1953 im Deutschen Bundestag, die am 15. Juni 2023 stattfand, konnte bleibende Eindrücke vermitteln.

*1) Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Juni 2023; https://dserver.bundestag.de/btp/20/20109.pdf (ab Seite 13219).

*2) Bundeszentrale für politische Bildung. Vor 65 Jahren: Ungarischer Volksaufstand. 20.10.2021; https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/342325/vor-65-jahren-ungarischer-volksaufstand/

*3) Kathrin Lauer. Prozess um Ungarn-Aufstand. „Ich bitte nicht um Gnade“. 17. Mai 2010; https://www.sueddeutsche.de/kultur/prozess-um-ungarn-aufstand-ich-bitte-nicht-um-gnade-1.203905

*4) Holger Kulick. Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Pakts im Überblick. In der Nacht zum 21. August 1968 begann die militärische Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in der CSSR. Auch die DDR war beteiligt. 08.09.2018; https://www.bpb.de/themen/kalter-krieg/prag-1968/274360/der-einmarsch-des-warschauer-pakts-im-ueberblick/

*5) Bundesstiftung Aufarbeitung. Bartosz Kaliski, Jan Skórzyński. Historischer Hintergrund: Die Geschichte der Solidarność; https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/solidarnosc/geschichte