Bundespräsident Steinmeier und die Demokratie.

Bundespräsident Steinmeier hat uns Demokraten versichert: „Wer für die Demokratie streitet, hat mich an seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben.“ *1) Worte unseres Staatsoberhauptes, die überzeugte Demokraten ermutigen können.

Diese Hoffnung hat jedoch einen schwerwiegenden Rückschlag erlitten. Durch den Bundespräsidenten selbst. Steinmeier hat in einem Interview auf die Frage “Wie stehen Sie zu einer Verlängerung der Legislaturperiode im Bund auf fünf Jahre?“ geantwortet: *2)

  1. Die Debatte führen wir schon sehr lange.
  2. Ich kann der Überlegung viel abgewinnen, dem Bundestag mehr Zeit für die gesetzgeberische Sacharbeit zu geben.
  3. Gerade in einer Zeit sich überlagernder Krisen.
  4. In vielen Bundesländern ist eine Legislaturperiode von fünf Jahren im Übrigen längst Normalität.
  5. Noch längere Wahlperioden hielte ich allerdings für problematisch. Wir dürfen nicht vergessen, dass Abgeordnete eine Rechenschaftspflicht vor den Wählerinnen und Wählern haben und sich deren Urteil stellen müssen.

Wegen der demokratiepolitischen Bedeutung habe ich die wörtlich zitierten Antwortsätze des Bundespräsidenten nummeriert, um ihnen Satz für Satz andere Sichtweisen gegenüberzustellen.

Zu 1. “Die Debatte führen wir schon sehr lange.“

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform, die am 9. 12. 1976 ihren Schlussbericht vorlegte, *3) umfasste Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Vertreter der Länder und Wissenschaftler, … „um die Empfehlungen der Kommission von einer breiten Mehrheit getragen zu wissen.“ *3) S. 3). Vor- und Nachteile einer Verlängerung der Wahlperiode seien von den jeweiligen Befürwortern dargelegt worden. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform habe die vorgetragenen Argumente für die verlängerte Legislatur abgewogen, „sich jedoch diesen Argumenten im Ergebnis nicht anzuschließen vermocht.“ *3) S. 38, 39)

  • „Sie ist der Auffassung, daß die weitere Verminderung der effektiven politischen Einflußrechte der Bürger, die durch eine Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre eintreten würde, nicht hingenommen werden kann …
  • Es ist auch keineswegs sicher, ob die Arbeitseffizienz und Entscheidungsfähigkeit des Bundestages durch eine Verlängerung der Wahlperiode wirklich verbessert werden würde;
  • eine fünfjährige Wahlperiode kann ebenso dazu führen, die Gesetzentwürfe nicht zügig zu behandeln, sondern vor sich herzuschieben. Die Erfahrungen in den Bundesländern, die eine fünfjährige Wahlperiode bereits eingeführt haben, sind nicht dazu angetan, solche Zweifel auszuräumen.
  • Die vierjährige Wahlperiode übt insofern einen heilsamen Fristendruck auf das Parlament aus.“

Steinmeier hat zwar zu Recht auf die langen Jahre der Debatte verwiesen, aber deren Argumente führten mitnichten zu seiner heutigen Position für eine 5-Jahres-Wahlperiode im Bund.

Zu 2. “Ich kann der Überlegung viel abgewinnen, dem Bundestag mehr Zeit für die gesetzgeberische Sacharbeit zu geben.“

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform von 1976 hat auch zur Frage der “Zeit für die gesetzgeberische Sacharbeit“ des Deutschen Bundestages abgewogen argumentiert *3), S. 38): „Die Dauer der Wahlperiode muß so bemessen sein, daß

  • eine Erfüllung seiner Aufgaben als Gesetzgebungsorgan, als politisches Kontrollorgan gegenüber der Exekutive und als Teilnehmer an der materiellen Regierungstätigkeit nicht durch zu häufige Neuwahlen, den damit verbundenen Zeitaufwand für Einarbeitung und Wahl(kampf)vorbereitung erschwert und behindert und vor allem um ihre Maßgeblichkeit für die Ausübung der staatlichen politischen Entscheidungsgewalt gebracht wird.“
  • „Zum andern gebietet es gerade die Stellung des Parlaments als zentrales demokratisches Verfassungsorgan, die Erneuerung seiner demokratischen Legitimation durch den Wähler in relativ kurzen zeitlichen Abständen erfolgen zu lassen, damit eine wirkliche Einflußnahme des Volkes als Staatsträger auf die Staatstätigkeit sowie die demokratische Legitimität des staatlichen Handelns gesichert wird bzw. gesichert bleibt.“

Die Kommission von 1976 betonte „gegenüber den Argumenten für eine Verlängerung der Wahlperiode“, dass „deren sachliches Gewicht … nicht verkannt worden ist.“ Dennoch hätte die Kommission vor allem „Gesichtspunkte(n) der demokratischen Legitimationserneuerung und der Erhaltung eines effektiven Bürgereinflusses“ den Vorrang gegeben. *3) S. 39). Ähnliche Argumente finden sich im Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat vom 05.11.1993; (https://dserver.bundestag.de/btd/12/060/1206000.pdf; S. 94 f.)

Zu 3. “Gerade in einer Zeit sich überlagernder Krisen.“

Bundespräsident Steinmeier wird mit diesem Satz die Klimakrise und die Sicherheitskrise Europas durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine gemeint haben.

Die Klimakrise erfordert eine wirtschafts- und energiepolitische Neuorientierung. Die Träger des Wirtschaftsnobelpreises, die Professoren Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus, haben gegenüber dem Klimawandel eine rationale Politik befürwortet, die mit Augenmaß die Wahrscheinlichkeiten für Schäden abschätzt, die großenteils sehr weit in der Zukunft liegen. Dies bezieht sich vor allem auf besonders alarmierende Vorhersagen: *4)

„Änderungen der Meeresströmungen, die Europa in Alaska verwandeln; Dürrezeiten, die Weizenfelder zu Wüsten machen; große Ströme, die austrocknen, weil Gletscher verschwinden; Extrem-Wetter mit Stürmen, die ganze Völker in tieferen Regionen bedrohen; polare Eisschmelze, die den Meeresspiegel um 6 m bis 15 m ansteigen lasse; ansteckende Tropenkrankheiten, die sich nach Norden ausbreiten, und die gemäßigten Zonen dezimieren; durch zerstörte Umwelt verursachte Migration, die Grenzen auf der Suche nach Land überrennt, wo noch Leben möglich ist.“

Daher sollten die „Gesellschaften heute vorausschauend auf einen Teil ihres Volkseinkommens verzichten, um der globalen Erwärmung über kommende Jahrhunderte entgegen zu wirken.“ *4)

Die Klimakrise wird derzeit von der Sicherheitskrise in Europa “überlagert“ (Steinmeier), die durch den von Präsident Putin befohlenen Aggressionskrieg gegen die Ukraine ausgelöst wurde.

Im Lichte der bisher gezeigten Widerstandsfestigkeit der deutschen und europäischen Wirtschaft und in ihrer Politik gegenüber diesen Krisen ist nicht erkennbar, warum deshalb der Deutsche Bundestag nur alle fünf Jahre gewählt werden sollte.

Zumal die Nachkriegsgeschichte Europas und Deutschlands auch eine Geschichte schwerster Krisen darstellt.

  • Das Grundgesetz unseres Landes wurde 1949 in einem geteilten und verwüsteten Land geschaffen.
  • Deutscher Politik gelang ab 1949 die Integration in die Europäischen Gemeinschaft und in die NATO. Trotz harter Kontroversen über das Angebot der UdSSR, gegen Neutralität die Wiedervereinigung zu ermöglichen. Die Regierung von Bundeskanzler Adenauer hielt dagegen fest am Kurs der Bindung an den demokratischen Westen. Eine umkämpfte Entscheidung, die Henry Kissinger als “heroisch“ bewertete. *5)
  • 1962 stand die freie Welt in der Kubakrise vor der Drohung eines Atomkrieges zwischen den USA und der UdSSR, die schließlich vor der festen Haltung von US-Präsident John F. Kennedy einlenkte und ihre Raketen aus Kuba abzog.
  • 1973-1976 schien die Erdölkrise alle Perspektiven auf stetiges Wirtschaftswachstum zu zerstören.
  • Der Terrorismus durch die “Rote Armee Fraktion (RAF)“ etwa ab 1970 wurde durch Politik und Gesellschaft abgewehrt.
  • Ab 1990 wurde die ungeheure Herausforderung der Deutschen Vereinigung angenommen. Die Deutsche Einheit gelang der Kohl-Genscher-Regierungskoalition zügig Ende 1989/90 gegen Widerstand aus der SPD (durch Oskar Lafontaine als SPD-Kanzlerkandidat).
  • 2008-2009 waren Jahre schwerster Finanz- und Wirtschaftskrise, der dann die Staatsschuldenkrise (Euro-Krise) 2012 folgte.
  • Die Coronapandemie im Jahre 2020 hat zu einem in der Nachkriegsgeschichte nie erlebten Rückgang der Wirtschaftsleistung geführt.

Alle diese Krisen und Herausforderungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden bewältigt ohne Debatte über eine angeblich notwendige Verlängerung der Wahlperiode des Bundestags.

Selbst in den schwersten Zeiten unseres Landes hat die Wählerschaft alle vier Jahre eine Bundesregierung gewählt, die ihrem Wunsch nach stabiler Entwicklung mit sozialem Ausgleich entsprach. Auch politische Machtwechsel wurden nach Wahlen ermöglicht. Dass binnen vier Jahren eine Bundesregierung bestätigt oder abgewählt werden kann, hat die „Gefahr antiparlamentarischer Einstellungen oder außerparlamentarischer Aktivitäten“ *3) S. 39) begrenzt und damit zur politischen Stabilität der deutschen Demokratie beigetragen.   

Zu 4. “In vielen Bundesländern ist eine Legislaturperiode von fünf Jahren im Übrigen längst Normalität.“

Die “Normalität“, die Bundespräsident Steinmeier auch in  einer Legislaturperiode von fünf Jahren im Bund sieht, wird in der politischen Diskussion höchst kontrovers beurteilt.

Zwar mögen qualifizierte Sachverständige und viele Mitglieder des Deutsches Bundestags Steinmeiers Meinung zu den Vorteilen der 5-jährigen Wahlperiode im Bund teilen. Dennoch lehnen namhafte, demokratisch profilierte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eine 5-jährigen Wahlperiode im Bund ab.

Einige dieser Persönlichkeiten und ihre Positionen seien kurz benannt:

  • Prof. Dr. Heribert Prantl: “Wer den Bundestag nur alle fünf Jahre wählen lässt, schrumpft die Demokratie. Es müssen daher gleichzeitig die Rechte der Bürger auf andere Weise gestärkt werden — durch Plebiszite.“ *6)
  • Prof. Dr. Jürgen Falter: „Das ist reine Interessenpolitik. Die Abgeordneten sind mit vollen Diäten ein Jahr länger im Amt, verbessern ihre Pensionen und müssen sich ein Jahr lang weniger Sorgen um ihre Zukunft machen. Der Bürger verliert im Gegenzug aber an Mitspracherecht. Das kommt einer Entdemokratisierung gleich.“ Im Ergebnis, so Falter, blieben “schlechte Regierungen ein Jahr länger im Amt, während gute Regierungen mit der jetzt gültigen Regelung früher wiedergewählt werden“ könnten. *7)
  • Professor Dr. Christoph Degenhart: „Es entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe: Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung werden über Monate hinausgezögert — dann folgt die Erkenntnis, dass die Legislaturperiode an sich zu kurz sei und deshalb auf fünf Jahre verlängert werden müsse … Nicht zuletzt die unter erheblichem Zeitdruck erfolgte Rettungsgesetzgebung in Banken- und Eurokrise hat ebenso wie die Gesetzgebung zur Energiewende gezeigt, dass Bundesregierung und Bundestag auch komplexe Vorhaben kurzfristig zu bewältigen in der Lage sind … Im Ergebnis ist eine Verlängerung künftiger Wahlperioden auf fünf Jahre .. verfassungsrechtlich möglich, verfassungspolitisch aber wenig sinnvoll. Sie ließe das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 2 GG nicht unberührt — der Grundsatz der Volkssouveränität, das demokratische Recht des Staatsvolks, seinen Willen in Wahlen kund zu tun, würde geschwächt.“ *8)
  • Prof. Dr. Frank Decker: “Eine längere Wahlperiode bedeutet weniger Demokratie. Das Hauptargument, es könne dann besser regiert werden, zieht nicht, da im föderalen Deutschland zwischendurch immer Landtagswahlen anfallen und auch diese den Politikbetrieb im Bund beeinflussen. In den Ländern gilt zwar bereits die fünfjährige Periode, aber im Gegenzug wurden die Möglichkeiten für Volksentscheide erweitert. Das soll im Bund nicht geschehen, selbst die Grünen sind davon abgerückt. Auch dieses Argument zieht also nicht. In zwei Drittel aller parlamentarischen Demokratien gelte die Vier-Jahres-Periode. Es ist nicht überzeugend, warum ausgerechnet Deutschland da ausscheren sollte. Demokratie ist nun mal lästig, aber damit müssen die Abgeordneten leben.“ *9)
  • Der Journalist Ludwig Greven feierte 2017 die Wählerschaft Bremens. Denn in der ersten Volksabstimmung im Stadtstaat Bremen „stellten sich (die Bremer) jetzt mit knapper Mehrheit quer. Sie wollen sich ihr Wahl- und Kontrollrecht über den Senat und die Bürgerschaft nicht beschneiden lassen, indem sie nur noch alle fünf statt bisher alle vier Jahre über deren Zusammensetzung entscheiden dürften“ *10)
  • Kai Doering, stellvertretender Chefredakteur des vorwärts, Zeitung der deutschen Sozialdemokratie seit 1876, argumentierte 2015 gegen die Position des Bundestagspräsidenten Lammert (CDU), dass die ständigen Wahlkämpfe die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestags “faktisch erkennbar“ einschränkten: „Es ist alles halb so schlimm. Selten ziehen derart viele neue Abgeordnete in den Bundestag ein wie nach der vergangenen Wahl 2013. Die meisten arbeiten einfach weiter als kämen sie aus den Sommerferien. Hinzu kommt, dass Regierungen durchaus nicht nach jeder Wahl wechseln, die Zeit der Koalitionsverhandlungen und der damit verbundene Stillstand im Parlament auch recht kurz sein können. Und dass eine neue Regierung selbst nach 16 Jahren Opposition im ersten halben Jahr eine Menge auf den Weg bringen kann, hat Rot-Grün 1998 eindrucksvoll gezeigt. Auch das letzte Jahr vor der nächsten Wahl muss nicht zwangsläufig dem Wahlkampf geopfert werden. Da ist es an den Politikern selbst, diszipliniert weiterzuarbeiten und das zu tun, wofür sie für vier Jahre gewählt wurden: Gesetze auszuarbeiten, sie zu debattieren und zu beschließen.“ *11)

Gelegentlich haben grundsätzliche Gegner einer 5-Jahres-Wahlperiode für den Bundestag sich zustimmend geäußert, wenn zum Ausgleich dem Volk Plebiszite auf Bundesebene zugestanden würden. (s.o. Prof. Prantl).

Dieser Weg ist von allen Kommissionen zum Wahlrecht (1976, 1993, 2023) abgelehnt worden: Plebiszite oder Mitwirkungsrechte der Bürger über Verbände seien “kein Äquivalent“ für die direkte Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Sie stellten, „ebenso wie die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung, nur eine mittelbare Einflussnahme dar.“ *3) S. 39).

Überdies hat der Politikwissenschaftler Dr. Michael Edinger 2017 gegen solche Angebote einer “Kompensation“ für “weniger Demokratie“ eingewendet: „Empirisch lässt sich .. zeigen, dass … die soziale Schieflage bei der Beteiligung an Referenden größer ist als bei Wahlen.“ *12)

Zu 5. “Noch längere Wahlperioden hielte ich allerdings für problematisch.“

Der Bundespräsident verbindet diesen Satz mit der Mahnung: „Wir dürfen nicht vergessen, dass Abgeordnete eine Rechenschaftspflicht vor den Wählerinnen und Wählern haben und sich deren Urteil stellen müssen.“ *2) Dies wirft einige Fragen an den Bundespräsidenten auf.

Erstens kann der Wählende fragen, bei wem Steinmeier derartige Vergesslichkeit vermuten könnte. Doch gewiss nicht bei der Wählerschaft unseres Landes! Denn eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa für die „Bild“ habe ergeben: „Eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf statt bisher vier Jahre findet keine Mehrheit bei den Deutschen. 45 Prozent der Befragten lehnt sie (eher) ab. Etwa ein Drittel (34 Prozent) findet die seltenere Wahl hingegen (eher) gut. 17 Prozent ist dieses Anliegen egal und weitere fünf Prozent können oder wollen keine Auskunft dazu tätigen.“ *13)

Zweitens, eine weitere Frage muss die Wählerschaft dem Bundespräsidenten stellen: Allen Kommissionen (1976, 1993, 2023), die sich mit dem Wahlrecht auseinandersetzten, sind typische Feststellungen gemeinsam: *14)

  • Es sei „keine parlamentarische Initiative bekannt .., die allein deshalb gescheitert wäre, weil die Legislaturperiode nur vier Jahre gedauert hätte und höchstwahrscheinlich erfolgreich gewesen wäre, wenn die Legislaturperiode fünf Jahre betragen hätte.“
  • In der Wissenschaft sei festgestellt worden, „dass der überwiegende Teil eines Koalitionsvertrages in der ersten Hälfte der Legislaturperiode umgesetzt werde und schwierige Vorhaben regelmäßig nicht aus Zeitmangel, sondern aufgrund fehlenden politischen Konsenses gescheitert seien.“
  • „Auch die Zeit, die es für eine Regierungsbildung brauche, sei kein Argument für eine Verlängerung, da dies den Deutschen Bundestag nicht in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtige.“

Da dies seit mittlerweile 47 Jahren durch die Verfassungskommissionen (1976, 1993, 2023) immer wieder festgestellt wurde, ist kaum verständlich, dass der Bundespräsident sich für die 5-Jahres-Wahlperiode im Bund einsetzt. Zumal er selbst einräumt, dass damit die Wahlperiode für den Deutschen Bundestag bis an die Grenze des Zeitraums ausgedehnt würde, die zu überschreiten, Steinmeier selbst für “problematisch“ hält. Wähler fragen zu Recht, warum dann die Wahlperiode überhaupt bis an diese Problem-Grenze ausgeweitet werden soll.

Drittens, richtet sich eine letzte Frage an den Bundespräsidenten: Die hier benannten namhaften Persönlichkeiten unseres Landes, die sich gegen eine 5-Jahres-Wahlperiode für den Bundestag ausgesprochen haben, weil das “die Demokratie schrumpft“ (Prof. Prantl), streiten ganz gewiss für die Demokratie.

Mit seinem einseitigen Votum für die 5-Jahres-Wahlperiode für den Bundestag entwertet Bundespräsident Steinmeier seine Aussage: „Wer für die Demokratie streitet, der hat mich auf seiner Seite.“ *1)

Höchste politische Repräsentanten unseres Staates — wie 2014 Bundestagspräsident Lammert, wie gegenwärtig die Bundestagspräsidentin Bas und nun auch der Bundespräsident Steinmeier — sie befürworten die 5-Jahres-Wahlperiode für den Bundestag. Viele Wählende Deutschlands sehen dagegen ihr Wahlrecht verkürzt, ein Weniger an Demokratie, eine politische Enteignung der Wählenden ausgerechnet durch die Gewählten.

Auf wessen Seite haben sich unsere Staatsrepräsentanten mit ihrer Position gestellt?

Auf die Seite derer, die für die Demokratie streiten? Oder auf die Seite derer, denen sie ihre Wahl in das Spitzenamt verdanken, also auf die Seite der Bundestagsabgeordneten? Also auf die Seite ihrer “politischen Klasse“?

Fazit

Gewarnt sei abschließend vor extremistischer Ablehnung unserer “politischen Klasse“ durch ein Wahlgesetz, das die Rechte der Wählerschaft verkürzt, das Wissenschaftler als „Mitnahme-“ oder „Interessenpolitik“ bewerten — zugunsten der gesetzgebenden MdBs selbst.

Die “Klimakleber“ werden höhnen: Ihr klebt doch mehr als wir — an euren Amtssesseln! Und die Gegner der Demokratie von rechts- und links-extremer Seite werden den Anlass „weniger wählen heißt weniger Demokratie“ nutzen und den Staat erst recht verachten und bekämpfen.

*1) Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Wer die Demokratie angreift, wird mich als Gegner haben“. Stand: 13.02.2022; https://www.spdfraktion.de/themen/demokratie-angreift-mich-gegner-haben

*2) Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Reden und Interviews. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung ein Interview gegeben, das am 17. Mai erschienen ist; https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Interviews/2023/230517-Interview-FAZ-Paulskirche.html (RS: Das Thema einer 5-Jahres-Wahlperiode im Bund habe ich seit 2012 regelmäßig bearbeitet (s. Fußnote *2) in meinem zusammenfassenden Blog “Das ´Weihnachtsgeschenk` der Frau Bas“ vom 27. Dezember. 2022)).

*3) Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode Drucksache 7/5924. Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages – Drucksache 7/214 (neu) – 09.12.1976; https://dserver.bundestag.de/btd/07/059/0705924.pdf, Kapitel 3, S. 39

*4) Paul A. Samuelson, William D. Nordhaus; Economics. International Edition. 15th Edition. 1995. S. 354 ff. (William D. Nordhaus wurde 2018 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet: “for integrating climate change into long-run macroeconomic analysis”; https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/2018/nordhaus/biographical/ ). (Übersetzung RS). Die Empfehlung der beiden Nobelpreisträger, Teile des Einkommens für die Klimapolitik einzusetzen, bedeutet nach heutigem Wissensstand etwa folgendes. (RS Der begrifflichen Einfachheit halber setzen wir 1 Euro = 1 US-Dollar und verwenden nicht in USA, sondern in Deutschland übliche Zahlennamen): Der IWF schätzte 2022, dass die Klimaschutz-Ziele nach dem Abkommen von Paris (2015) globale Investitionen von ca. 3 bis 6 Billionen Euro pro Jahr bis 2050 erfordern. Das weltweit erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt (BIP, Einkommensindikator) lässt sich (nach Statista) für 2022 mit etwa 100 Billionen Euro beziffern. Das bedeutet, dass vom weltweit erwirtschafteten Einkommen ungefähr 3 bis 6 Prozent jährlich für den Klimaschutz aufgewendet werden sollten. Eine durchaus machbar erscheinende Aufgabe angesichts der weltweit erkannten Bedeutung des Klimawandels.  Siehe: https://www.imf.org/en/Publications/staff-climate-notes/Issues/2022/07/26/Mobilizing-Private-Climate-Financing-in-Emerging-Market-and-Developing-Economies-520585) und https://de.statista.com/themen/1181/weltwirtschaft/#:~:text=Das%20globale%20BIP%20lag%20im,23%20Billionen%20US%2DDollar).

*5) American Council on Germany. A Dinner in honor of Dr. Henry Kissinger. November 20, 1996. New York City. (U. a. Reden von Außenminister Hans Dietrich Genscher und von Henry Kissinger sowie einer persönlichen Botschaft von Bundeskanzler Helmut Kohl an Henry Kissinger, vorgelesen durch Botschafter Jürgen Chrobog.)

*6) Prantls Blick. Weniger Wahlen, mehr Demokratie? 21. Mai 2023; https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-1.5868630?

*7) “MITNAHME-MENTALITÄT“. Parteienforscher gegen 5-Jahre-Bundestag. Absage an SPD-Vorstoß: Parteienforscher Jürgen Falter lehnt 5-Jahre Legislatur für den Bundestag ab. Von: FRANZ SOLMS-LAUBACH, veröffentlicht am 07.01.2018; http://www.bild.de/politik/inland/bundestag/parteienforscher-falter-lehnt-lange-legislaturperiode-ab-54403878.bild.html.

*8) Verlängerung der Wahlperiode: Bundesregierung für ein halbes Jahrzehnt? Von Prof. Dr. Christoph Degenhart. 03.01.2014; http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/wahlperiode-fuenf-jahre-bundesregierung-lammert/.

*9) Politikwissenschaftler gegen längere Wahlperiode. Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker hat eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre abgelehnt. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 23.12.2022; https://www.nachrichten-heute.net/973319-politikwissenschaftler-gegen-laengere-wahlperiode.html

*10) Legislaturperiode. Bremen gegen den Strom. Die Bremer wollen, anders als alle anderen Bundesländer, nicht nur alle fünf Jahre wählen dürfen. Gut so. Das Wahlrecht ist das höchste Gut der Demokratie. Ein Kommentar von Ludwig Greven. 25. September 2017; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/legislaturperiode-bremen-volksabstimmung-wahlrecht-demokratie

*11) Pro & Contra. Bundestag: Warum vier Jahre reichen – oder eben nicht. Robert Kiesel. Kai Doering. 03. August 2015; https://www.vorwaerts.de/artikel/bundestag-vier-jahre-reichen-eben.

*12) Neue Politiker braucht das Land? Attraktivität und Besetzung politischer Ämter. Michael Edinger. 31.3.2017. Aus Politik und Zeitgeschichte; http://www.bpb.de/apuz/245586/neue-politiker-braucht-das-land-attraktivitaet-und-besetzung-politischer-aemter?

13) Umfrage: Mehrheit der Deutschen gegen Absenkung des Wahlalters. Insa befragte insgesamt 1.001 Bundesbürger im Zeitraum vom 19. bis 22. Mai (2023). Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 24.05.2023.

*14) Unterrichtung durch die Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit* (* Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 16. März 2022 (Bundestagsdrucksache 20/1023)). Abschlussbericht. Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode – 39 – Drucksache 20/6400. Vorabfassung – wird durch die endgültige Fassung ersetzt. 12.05.2023. Siehe dort: 4 Verlängerung der Dauer der Legislaturperiode. Fundstelle im Text: Fußnotenanzeige 196 bis 198.