Wahlkampf – Streitkultur.

Die Landtagswahl in Niedersachsen wird als Beginn eines politischen Wechsels dargestellt.

Rechtfertigt dies Wahlkampfmethoden, die wir Bürger derzeit beobachten?

Zwei wichtige Themen des Wahlkampfes in Niedersachsen vermitteln den Eindruck, dass gerade die Schwächsten und Schutzbedürftigsten der Gesellschaft für Wahlkampf-Polemik herhalten müssen.

1. Thema „Betreuungsgeld“.

Schon die Polarisierung um das Thema „Betreuungsgeld“ hat ganze Freundeskreise, Nachbarschaften und Familien gespalten. Auch Fachleute beurteilen diese Politikkontroverse unterschiedlich.

Das sollte gerade den Parteien, die sozialen Zusammenhalt proklamieren, Behutsamkeit und Zurückhaltung nahelegen. Einfach, um nicht die Gefühle vieler Mütter und Väter zu verletzen, aus Respekt vor den persönlichsten Entscheidungen junger Familien.

Im TV-„Duell“ mit Ministerpräsident McAllister sah es für diesen Bürger-„Journalisten“ wegen landespolitischer Detailkenntnis nach knappem Punktsieg für den Herausforderer Oberbürgermeister Weil aus. Dennoch, zum Thema Betreuungsgeld keine Spur von Zurückhaltung bei Herrn Weil!

Warum sagt uns der OB von Hannover, das Betreuungsgeld sei frauenfeindlich? Warum unterstellt er Ärmeren und Zuwanderern die Haltung „Ich nehm` das Geld mit“?

Nicht wenige Bürger mag dies abstoßen: Punkten mit Werturteilen gegen Eltern. Wahlkampf mit den Schwächsten und Schutzbedürftigsten in unserer Gesellschaft, Kleinkinder unter drei Jahren.

2. Thema „Privatisierung psychiatrischer Landeskliniken“

Ganz kurz vor der Wahl wird ein Jahre zurückliegender Vorgang plötzlich skandalisiert. Acht psychiatrische Landeskliniken seien zwischen 2005 und 2007 verscherbelt, die Qualität der psychiatrischen Versorgung sei nur „unzureichend abgesichert“ worden.*)

Dies stelle ein vertraulicher (!) Prüfbericht des Niedersächsischen Landesrechnungshofs fest. Dieser vertrauliche Bericht scheint ganz kurz vor der Wahl – wohl zufällig – in die Hände von Journalisten geraten zu sein.

Die wesentliche Prüfbeanstandung: Der Verkaufserlös von gut 100 Mio. Euro für die Kliniken habe rd. 250 Mio. Euro unter ihrem tatsächlichen Wert gelegen. Angeblich sei kein Versuch der Wertermittlung vorgenommen worden. Andererseits wird moniert, dass fast 5 Mio. Euro Honorar für die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers (PwC) gezahlt wurden.

Soll hier ein Ruch enormer Korruption, Verdacht auf kriminelles Handeln der Landesregierung Wulff geschürt werden? Wie soll der Wähler diesen Vorgang so kurz vor der Wahl noch beurteilen und bewerten können?

Zu den zentralen Dienstleistungen von PwC gehört die Bewertung von „Transaktionsobjekten“, z.B. Unternehmen im Falle eines Verkaufs. Wie wäre denn erklärbar, dass die Bewertung der Kliniken nicht Gegenstand der PwC-Beratung vor ihrem Verkauf war?

PwC beschreibt sein Leistungsangebot wie folgt. Bei „Bewertung von Transaktionsobjekten … stellt sich regelmäßig die Frage nach dem fairen Wert oder welcher Preis maximal gezahlt oder mindestens erzielt werden soll. In den seltensten Fällen haben die Verhandlungsparteien zu Beginn der Transaktion übereinstimmende Preisvorstellungen. Entscheidend bei der Preisfindung ist die Klarheit darüber, welche Faktoren tatsächlich wertrelevant sind, und in welcher Höhe diese den Preis beeinflussen. Basis einer (Unternehmens-)Bewertung ist vor allem eine zukunftsgerichtete Analyse des Bewertungsobjekts.“**)

Was anderes als Beratung bei der „zukunftsgerichteten“ Bewertung im Zuge des Verkaufs der psychiatrischen Krankenhäuser sollte denn PwC für 5 Mio. Beratungshonorar unternommen haben?

Die politische Attacke „Tafelsilber verschleudert“ (Cornelia Rundt, Mitglied im „Team Weil“ für Soziales)***) richtet sich gegen den damaligen Ministerpräsidenten Wulff und seine Sozialministerin Frau von der Leyen. Das erweckt etwas wohlfeilen Eindruck. Für Herrn Wulff rührt sich niemand. Und das Neueste auf Frau von der Leyens Website ist ihre Teilnahme am Silvesterlauf.

Ohne dass der Bürger den von Frau Rundt unterstellten Skandal nachvollziehen kann, hagelt es nun in den Medien von „Privatisierungswahn“ (Thomas Oppermann, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion)*). Was bezweckt die SPD mit der alt-linken Position, dass Krankenhäuser nur in die Hand des Staates gehören? Warum weigerte sich OB Weil im TV-Duell, eine Koalition mit der LINKEN auszuschließen? Deutet sich ein Strategiewechsel gegenüber der LINKEN an? Nach dem SPD-Wechsel-Motto: „Erst Hannover dann Berlin“?

Und Frau Rundt legt neben „Dilettantenstück“ noch den schweren Vorwurf nach: „Gleichzeitig hat Frau von der Leyen damals billigend in Kauf genommen, dass das Land jedwede Einflussnahme auf die Qualität der Patientenversorgung verliert.“***)

Genau mit der Qualität der Behandlung der Patienten aber hatte die Sozialministerin von der Leyen seinerzeit die Privatisierung begründet: Neue Betreuungsplätze seien in den Landeskrankenhäusern nicht mehr finanzierbar. „Niedersachsen (fehlt) seit Jahren das Geld, 200 notwendige neue Betten im Maßregelvollzug zu schaffen … Wir müssen handeln, wir haben die Investitionsmittel nicht, deshalb brauchen wir einen starken Partner.“*)

Der heutige Sprecher des zuständigen niedersächsischen Sozialministeriums, Thomas Spieker, behauptet nun: „Der beim Verkauf durch das Bieterverfahren erzielte Preis in Höhe von insgesamt 102 Millionen Euro war angemessen, deshalb hat der Niedersächsische Landtag dieser Veräußerung auch zugestimmt. Das Projekt ist in jeder Hinsicht ein Erfolg. Durch den Verkauf konnten leistungsfähige, regional verankerte Strukturen zur Behandlung psychisch kranker Menschen ausgebaut werden.“****)

Der Bürger steht vor einem Dilemma: Entweder er glaubt dem einen Lager, den Skandalrufern, oder er glaubt dem anderen Lager, den Erfolgsmeldern. Wie reagiert der Bürger, der vor solch extreme Entscheidung gestellt wird?

Am 13. Dezember 2012 sprach Klaus von Dohnanyi in der TV-Runde von Frau Illner derartige Situationen an. Wenn keine sachliche Erörterung zwischen den Lagern mehr stattfindet, wenn die Fakten verbogen werden, wenn die politischen Lager einander jeweils vorhalten „Alles falsch“, dann glaubt der Bürger keinem. Die gesamte politische Klasse wird dann als unglaubwürdig beurteilt werden. Gerade die Volksparteien sollten dem im Interesse demokratischer Streitkultur entgegenwirken.

Wenige Tage vor der Landtagswahl in Niedersachsen: Die Schwächsten und Schutzbedürftigsten unserer Gesellschaft, Kleinstkinder unter drei Jahren und psychisch kranke Menschen, werden in aggressiv geführten Wahlkampfkontroversen instrumentalisiert.

Wie empfinden ihre Familien diese Methoden politischen Wettbewerbs? Wird im Kampf um Landtagsmandate und politische Karrieren überhaupt noch ein Gedanke an demokratische Streitkultur verschwendet? Nicht wenige Bürger sehen Politik und Politiker mit Zynismus – allesamt Lügner.*****)

*) Spiegel Online, 10. Januar 2013 , Wulff-Regierung verkaufte Kliniken unter Wert.

**) pwc.de/de/transaktionen/bewertung

***) spdnds.de/… Cornelia Rundt, Zum Skandal um die Privatisierung der Landeskrankenhäuser,10. Januar, 2013.

****) NDR Norddeutscher Rundfunk, 09. 01. 2013, Niedersächsischer Landesrechnungshof kritisiert Privatisierung der Landeskrankenhäuser. RS: Zum „Bieterverfahren“: „Das Bieterverfahren überlässt es .. dem Interessenten, ein Preisangebot zu unterbreiten. Um zu einem guten Ergebnis zu kommen, organisiert der beauftragte Makler Besichtigungsveranstaltungen, auf denen zum gleichen Zeitpunkt mehrere Interessenten durch das Objekt geführt und Fragen von Interessenten beantwortet werden.“ (http://oldlexikon.immobilien-fachwissen.de/) Dem Bieterverfahren, wie immer je nach Gegenstand des Verkaufs organisiert, wird als Vorzug zugeschrieben, dass es mehrere Interessenten in transparentem Bieterwettbewerb zusammenführe.

*****) Der Prozentsatz der Befragten, die denken, dass die Parteien den Wählern vor der Wahl nicht ehrlich sagen, was sie danach politisch durchsetzen wollen, beträgt rd. 60% (in Bezug auf die Grünen) und rd. 80% (in Bezug auf die FDP). Das Urteil über die anderen Parteien liegt zwischen diesen Prozentsätzen, um die 70%. (infratest-dimap.de; ARD-DeutschlandTrend, Januar 2013. Alle Parteien haben ein Glaubwürdigkeitsdefizit.)