Wahlkampfaussichten 2017.

Dass die Zeichen in Deutschland auf einen personell spannenden, inhaltlich jedoch eher banalen Wahlkampf deuten, war für mich eine Überraschung. Mein Irrtum: die gegenteilige Erwartung.

Überraschung Nr. 1: Dass die Kandidatur von Martin Schulz für die SPD derartig vom „Reiz des Neuen“ *1) profitiert, und dass dieser Effekt nachhaltiger scheint als in der Politik üblich. Dies mag zeigen, wie wenig die Europäische Union mit ihrem wortmächtigen Ex-Parlamentspräsidenten Martin Schulz in Deutschland interessiert hat. Für europapolitisch informiertere Bürger ist erstaunlich, dass der alte, wohlbekannte Martin Schulz den „Reiz des Neuen“ ausstrahlt. In der EU fiel er nicht selten durch besonderen Einsatz und Verständnis für Länder wie Hellas auf, denen die Stabilitäts-Regeln für finanzpolitische Solidität der Eurozone wenig bedeuten. Da hatte der Politico wohl mehr an seine Wahl als Spitzenkandidat der EU-Sozialdemokraten durch die EU-Wähler der Südländer gedacht als an Deutschlands Interessen. Falls Griechenland die Bedienung der Hilfskredite aus den Euro-Rettungsschirmen verweigern sollte, würde Deutschland mit rd. 40 Mrd. Euro als Bürge in Haftung genommen. *2)

Überraschung Nr. 2: „Union nervös“. *1) Diese Feststellung belegt die ausgezeichnete Beobachterin der Berliner Politik, Frau Birgit Baumann, mit Äußerungen führender Politiker aus CDU und CSU.

Überraschung Nr. 3: „Merkels Ruhe“. *1) Dies sollte nicht verwundern, wenn das gute Vierteljahrhundert politischer Erfahrung in Spitzenpositionen von Frau Merkel berücksichtigt wird.

Merkels beste Wahlkampfmunition liegt nicht in Konfrontation mit dem Redner Martin Schulz, sondern in der Agenda als Regierungschefin.

Dies mag die an Gleichgültigkeit grenzende Haltung der Kanzlerin gegenüber den Wahlkampfauftritten ihres Herausforderers Schulz erklären. Auf ihre durchaus nachlässige politische Sprache dazu ist noch einzugehen. (s. *4))

Überraschung Nr. 4: Martin Schulz‘ „Kernaussage, dass es in Deutschland nicht gerecht zugehe“. *1)

Das ist der Start für eine Kampagne, bei der „Managergehälter“ in DAX-Konzernen (VW!), die von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern in hälftig mitbestimmten Aufsichtsräten abgesegnet wurden, eine kaum glaubwürdige Polit-Attacke darstellen.

Deshalb soll eine Menge weiterer „Ungerechtigkeiten“ einer rot-rot-grünen „Neidkampagne“ Schwung verleihen. Dies wird an der Unglaubwürdigkeit, dass Politiker den Armen Wohlstand bringen wollen, nicht viel ändern. Wohlstand entsteht in unserer Sozialen Marktwirtschaft bekanntlich durch Fleiß, Sparsamkeit und etwas Glück.

Von den Gehalts- und Versorgungsprivilegien der Politiker in Deutschland und in der EU sei beim Thema glaubwürdige Politik für Gerechtigkeit abgesehen. Abgesehen sei auch davon, dass die SPD im Bund in 15 von den letzten 19 Jahren Regierungsverantwortung trug. „Die SPD läuft ins eigene Messer“, sagt der Politikbeobachter Nikolaus Blome voraus. *3)

Die SPD hat leider die bedeutenden Innovations-Ziele der Agenda 2010 ihres Bundeskanzlers Gerhard Schröder diskreditiert oder nicht verstehen wollen. Diese Ziele waren, was Schröder ehrt, von der großen „Ruck“-Analyse der Reformdefizite in Deutschland durch Bundespräsident Roman Herzog (1997) inspiriert.

Nicht wenige Sozialdemokraten konstatieren mit Kopfschütteln: Erst hat die SPD der CDU/CSU die Agenda-Politik Schröders für den Arbeitsmarkt abgetreten, nunmehr auch noch Schröders Innovationsthemen. Weg von Schröders modernem Ziel „Innovation und Gerechtigkeit“, hin zur altbackenen „tax and spend“-Umverteilungspolitik, während die CDU/CSU eine Agenda 2025 vorbereitet.

Deshalb wohl „Merkels Ruhe“ — vermutlich wartet sie geduldig ab. Wartet ab, ob die bisher aus Umfragen absehbaren SPD-Verluste bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die Regierung von Hannelore Kraft (SPD) im Mai 2017 in eine rot-rot-grüne Koalition zwingen. Dann hätten CDU und CSU die SPD am gewünschten politischen Standort.

So mögen die Wähler sich vor einem „spannenden“ Wahlkampf wähnen. Nicht weil es um moderne Zukunftspolitik für ein demographisch alterndes Land geht. Sondern weil der Demosthenes Martin Schulz durch Reden für „Gerechtigkeit“ der davon gelangweilten Kanzlerin Merkel einheizen könnte. *4)

*1) Deutschland: Merkels Ruhe macht die Union nervös. BIRGIT BAUMANN AUS BERLIN, 27. Februar 2017; derstandard.at/2000053273855/.

*2) Bisherige Euro-Rettungspakete. So viel Geld floss nach Griechenland. Stand: 14.11.2016.

Auf rund 248 Milliarden Euro summieren sich die bisherigen Zahlungen aus den drei Rettungspaketen an Griechenland. Das Geld floss teils in Form direkter Kredite der Euro-Staaten, teils über die Rettungsschirme EFSF und ESM und teils über den IWF.

Von David Rose, tagesschau.de; https://www.tagesschau.de/wirtschaft/rettungspakete-101.html.

Das ist nur ein kleinerer Teil der Lasten, die bei einem Euroaustritt Griechenlands auf Deutschland zukämen.

*3) WIE GUT GEHT’S DEUTSCHLAND? Die SPD läuft ins eigene Messer. Von: NIKOLAUS BLOME, veröffentlicht am 27.02.2017; bild.de.

*4) Birgit Baumann (*1)) hatte Merkel mit ihrer nachlässigen Sprache gegen die Schulz-Rhetorik zur Kritik an der Agenda 2010 zitiert: „Als wir an die Macht kamen (2005, Anm.), da war Deutschland der kranke Mann Europas, heute sind wir der Stabilitätsanker.“ *1)

Solche Redensarten kommen in unserem Nachbarland Österreich nicht gut an. Man verfolge die lebhaften Debatten der Leser des Standard mit ihren verständlicherweise anonymisierten Decknamen — z.B. der „DreiGoschnOpa“.

Hier zwei Kommentare zu Merkel *1):

gap the mind: „´Als wir an die Macht kamen …` Interessantes Wording — der übliche Sprachgebrauch würde wohl lauten: ´als wir an die Regierung kamen`. Aber das fällt Machthabern schon gar nicht mehr auf.“

Dazu florus silentius: „naja, zu viele Termine mit Erdogan zeigen Wirkung.“

Mit Dank und Gruß an die Kommentatoren in den Kaffeehäusern von Wien.