Weckruf für Europa.

Der Staatspräsident der Französischen Republik, François Hollande, hat ein europäisches Gespräch mit fünf Journalisten geführt. *1) Vor entscheidenden Wahlen in EU-Ländern und in einer Zeit europapolitischer Herausforderungen bieten die Gedanken des Staatsmannes Hollande den EU-Bürgern wertvolle Orientierung. Hollandes Überlegungen sind sein europapolitisches Vermächtnis als Staatspräsident und ein Weckruf zugleich. Sie werden hier zusammenfassend referiert.

Herausforderung für die EU: Der Rechtspopulismus

Falls Marine Le Pen als Kandidatin des Front National am 7. Mai 2017 die Wahl für das Amt des Staatspräsidenten gewinnen sollte, „würde sie sofort mit dem Austritt aus der Euro-Zone beginnen — und sogar aus der EU“.

Dies wäre das Ende des Europäischen Einigungswerkes sechs Jahrzehnte nach seiner Gründung durch Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Am 25. März 1957 hatten die Regierungen dieser sechs Gründungsstaaten in Rom die „Römischen Verträge“ unterzeichnet, mit denen die Europäischen Gemeinschaften ihr Werk für Frieden und Wohlstand begannen.

François Hollande verspricht: „Es ist meine letzte Pflicht, alles zu tun, dass Frankreich nicht eine derartig schwere Verantwortung auf sich lädt.“ *1a)

Herausforderung für die EU: Trump

Staatspräsident Hollande beurteilt die neue transatlantische Lage und empfiehlt eine deutliche Botschaft der EU.

Die US-Präsidentschaft Donald Trumps sei nun „eine politische Realität, für vier Jahre. Wir kennen inzwischen seine Leitlinien: Isolationismus, Protektionismus, Abschottung gegen Immigration und die Flucht in eine expansive Haushaltspolitik“.

Trumps Unkenntnis über die Europäische Union (EU) zwinge diese, „ihm den politischen Zusammenhalt der EU zu demonstrieren, ihr wirtschaftliches Gewicht, ihre strategische Unabhängigkeit.“ *1a)

Herausforderung für die EU: Putins Russland

François Hollande hebt zwei Aspekte der aggressiven Außenpolitik Putins hervor:

Erstens, Russland betreibe Machtpolitik gegenüber jenen Räumen, die einst zur Sowjetunion gehörten (Ukraine) und suche den eigenen Vorteil durch Intervention bei Konflikten (Syrien).

Zweitens, Russland teste den Widerstand der westlichen Demokratien durch den Versuch, mit neuen Technologien über die sozialen Netzwerke eine „Strategie der Einflussnahme“ auf unsere öffentliche Meinung zu realisieren.

Diese „ideologischen Operationen“ seien zu entlarven. „Wir müssen klar sagen, wer gehört zu wem, wer wird von wem finanziert. Und warum alle rechtsextremen Bewegungen mehr oder weniger mit Russland verbunden sind.“

Durch Dialog und Handeln sei dieser Politik Russlands entgegenzutreten. Russland werde nur dann eine „dauerhafte und ausgewogene Beziehung“ zur EU pflegen, „wenn Europa einig und stark ist.“ *1a)

Herausforderung für die EU: Entscheidungsprozesse, nationale Egoismen.

François Hollande empfiehlt also gegenüber den Herausforderungen der Europäischen Union (EU) durch Rechtspopulismus, durch Trumps America First-Abschottung, durch Putins aggressive Machtpolitik: Auf politischen Zusammenhalt, wirtschaftliche Stärke und strategische Unabhängigkeit setzen!

Hier jedoch analysiert Hollande eine Schwachstelle der EU: Die europapolitischen Entscheidungsprozesse seien zu langsam gegenüber Krisen in der heutigen Welt.

Zwar seien EU-Entscheidungen „meist richtig — aber zu spät, immer zu spät!“ Diese Feststellung illustriert Hollande mit Blick auf fünf Probleme der letzten Jahre:

  • Wie lange habe der Verhandlungsprozess sich hingezogen, bis schließlich im Juli 2015 eine Vereinbarung zur griechischen Staatsschuldenkrise erreicht worden sei.
  • Drei Jahre habe es gedauert, um die Regeln und die Aufsichtsorgane der Bankenunion einzuführen. (Hier geht es vor allem um Sicherung der Banken wegen „fauler“ Kredite durch strengere Auflagen für Eigenkapital, RS)
  • Wie viel Zeit sei verstrichen, um der Flüchtlingskrise mit Küstenschutz, mit „hot-spot“-Registrierungszentren und dem Abkommen mit der Türkei zu begegnen.
  • Und die Suche nach einer Verstärkung der Instrumente im Kampf gegen den Terrorismus dauere an.
  • Europa verteidige nicht hinreichend seine wirtschaftlichen Interessen. Der Glaube an den Freihandel sei dem Eindruck gewichen, dass den Schwellenländern handelspolitisch zu sehr nachgegeben werde. Es gehe nicht um Protektionismus, aber es sei notwendig, alle Formen des Dumping zu bekämpfen.

Die Entscheidungsprozesse der EU seien den Herausforderungen der heutigen Welt, einem Zeitalter der Dringlichkeit, nicht mehr angemessen. Eine wirkungsvolle EU benötige Entscheidungsträger, die schnell handeln können. „Das sei die große Lehre aus diesen Jahren der Krise.“ *1a)

Die „Rückkehr nationaler Egoismen“ — so Staatspräsident Hollande — sei seine größte Sorge um den Bestand der EU. Immer öfter höre er den Einwand “Wir wollen nicht mehr zahlen, als wir rausbekommen.“ Das sei die Wiederkehr der Formel von Madame Thatcher ´I want my money back!`: „Großbritannien macht sich davon — aber der schlechte Geist bleibt!“

Staatspräsident Hollande warnt die Europäer: „Ohne einen neuen europäischen Geist wird die Union verwässern und früher oder später untergehen.“ *1a)

Europas Zukunft: Differenzierte EU.

Mit dem Ziel, die Zukunft der Europäischen Union zu festigen, empfiehlt Staatspräsident Hollande: Die EU der 27 dürfe nicht in die „Falle der Uniformität“ stürzen. Der Zwang, das EU-Handeln an die Zustimmung von 27 Mitgliedsstaaten zu binden, führe in das „Risiko, absolut nichts zu machen“. *1b)

Die EU sollte sich für die Organisationsform des „differenzierten Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ entscheiden. *1b)

Die Zukunft der EU sieht Hollande in einem gemeinsamen Vertrag, dem gemeinsamen Binnenmarkt und nur für einige Länder in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (Eurozone). Manche EU-Mitglieder würden nie der Eurozone beitreten. Deshalb könne mit der Vertiefung der Integration, d.h. immer engerer Gemeinsamkeit, in der Eurozone begonnen werden; dafür schlägt Hollande eine gemeinsame Haushaltspolitik vor.

„Kein Land kann die anderen daran hindern, schneller voranzugehen“ — bei der Verteidigung, der Forschung, der Harmonisierung von Steuern oder Sozialleistungen oder bei der Kultur seien „unterschiedliche Stufen der Integration“ denkbar.

Die Idee des „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, lange abgelehnt, sei heute für die Zukunft der EU unabdingbar: „Sonst explodiert Europa“. *1a)

EU-Vision: Westliche Weltmacht.

Die Europäer, vor allem die Menschen in Polen und den baltischen Staaten, erwarten von der NATO und auch deren EU-Mitgliedern solidarische Sicherheit: „Wenn ein Land angegriffen wird, müssen ihm die übrigen beistehen.“ *1b)

Die transatlantische Allianz NATO sei sicherheitspolitisch notwendig. Sie begründe beiderseitige Verpflichtungen, nicht nur budgetäre, sondern auch die Pflicht, die gemeinsamen Werte zu verteidigen. *1b)

Diese solidarische Gegenseitigkeit betreffe die Beistandspflichten der neuen US-Administration gegenüber ihren europäischen Partnern wie auch die Verantwortung der Europäer, ihren Beitrag zur Verteidigung zu erhöhen. So habe Frankreich entschieden, in den kommenden fünf Jahren seinen Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes anzuheben. *1b)

Auf dieses Ziel habe sich Frankreich zwar schon vor der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten verpflichtet. Dennoch habe die (inzwischen zurückgenommene, RS) Ankündigung eines Rückzugs der USA aus der NATO in Europa das „Bewusstsein geschärft, jede Abhängigkeit zu vermeiden“. *1a)

Dieses Bewusstsein müsse in der EU umgesetzt werden „mit besserer Koordination unserer Verteidigungspolitik, mit der Integration unserer Streitkräfte, mit einer Stärkung unserer Rüstungskapazitäten“.

An diesem Europa der Verteidigung, der EU-Verteidigungsunion, müssten sich nicht alle EU-Länder beteiligen, wenn sie diese traditionelle Zusammenarbeit nicht kennen. Aber das Vereinigte Königreich sollte im Rahmen einer europäischen „strukturierten Kooperation eingebunden werden — selbst wenn es außerhalb der EU ist.“ *1a)

Der absehbare Rückzug der Trump-Administration von der bisher gewohnten internationalen Rolle der USA eröffne für die EU den Raum und die Gelegenheit zugleich, international als „ein Europa der Stärke, der Macht“ zu wirken. Für entwicklungspolitische Zusammenarbeit und mit dem Ziel, die Bürger der EU besser vor den Gefahren des Terrorismus zu schützen und Europas Grenzen zu sichern.

Weil die EU die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt sei, habe sie die Mittel, um als internationaler Akteur für diese Ziele zu handeln.

Aber Hollande fragt: „Haben wir Europäer auch den Willen dazu? Da hängt alles von den Wahlen der nächsten Monate in Frankreich, Deutschland und Italien ab“. *1a)

Das ist Staatspräsident Hollandes Weckruf an die Bürger der Europäischen Union: Im sechsten Jahrzehnt nach der Gründung des europäischen Integrationsprojektes durch die Römischen Verträge — erneuert den Willen, das Europäische Einigungswerk zu erhalten!

*1) Das Interview mit dem Staatspräsident der Französischen Republik, François Hollande, führten Angelique Chrisafis (The Guardian), Sylvie Kauffmann (Le Monde), Lluís Uría Massana (La Vanguardia), Marco Zatterin (La Stampa) und Christian Wernicke (Süddeutsche Zeitung) in Zusammenarbeit mit Gazeta Wyborcza.

Entsprechend der in Frankreich üblichen Praxis wurden die Stellungnahmen des Staatspräsidenten vor der Veröffentlichung geprüft und genehmigt.

*1a) Süddeutsche.de. Politik. 6. März 2017. Interview mit François Hollande. „Sonst explodiert Europa“. Interview von Christian Wernicke.

*1b) LOS RETOS DE LA UE. „Europa debe avanzar a diferentes velocidades; si no, explotará“. LLUÍS URÍA, París, 06/03/2017. (Übersetzung, RS).

Wenn nicht ausdrücklich auf *1b) hingewiesen wird, sind Staatspräsident Hollandes Stellungnahmen und deren Zitate der Quelle *1a) entnommen. Die Beiträge *1a) und *1b unterscheiden sich etwas im Umfang der verteidigungspolitischen Passagen des Interviews.