Europa 1957—2017: im Dorf.

Wie ist die Zeit europäischen Wandels — Erweiterung und Vertiefung der EU — in einem norddeutschen Dorf, etwa 2000 Einwohner, erlebt worden? Da helfen Erinnerungen, heute nicht mehr als Bruchstücke.

Eine Gemeindeverwaltung und der Gemeinderat 1957.

Immense Aufgaben: Bauland und Wohnungen für Flüchtlinge aus Schlesien, Ostpreußen, aus der DDR. Trinkwasserleitungen, Kanalisation, Kläranlage, Straßen-, Wegebau, Flurbereinigung, Flussbegradigung gegen Hochwasser, Gewerbeflächen ausweisen. Standesamt: Handwerker/Geselle heiratet Verkäuferin, Näherin, Krankenschwester, beide Anfang 20. Damals typische Aufgebote.

Heute: Alles weg. Eingegliedert seit über 40 Jahren einer 10 km entfernten Kleinstadt.

Kaufmann, Landmann, Handwerksmann 1957.

Mehr als ein Dutzend selbständige, hoch angesehene Handwerksmeister: Tischler, Bäcker, Maurer, Maler, Sattler-Polsterer, Schneider, Friseur, Schlachter, Zimmerer, Dachdecker, Gärtner, Schlosser, Schmied, Elektriker, Müller. Heute gibt es noch zwei oder drei, soweit ihr Betrieb regional aufgestellt ist.

Sieben kleine Geschäfte für Lebensmittel und Kolonialwaren. Läden für Obst und Gemüse, Kurz- und Strickwaren, Eisenwaren, Drogerie-Artikel. Alle weg, in einem Supermarkt aufgegangen.

Ein Dutzend selbständige bäuerliche Groß- und Kleinbetriebe. Heute wirtschaften noch drei wettbewerbsfähige Landwirte.

Drei Gasthäuser — eins mit Kino- und Tanzsaal, eins mit Kegelbahn und Tischtennis, eins mit Getränkeladen — boten abendliche, sportliche und manchmal festliche Geselligkeit. Alles aus, vorbei!

Jedoch nicht die Geselligkeit. Die findet überwiegend privat statt oder wie eh und je im Fußball- oder Schützenverein, im Gesangverein oder bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ein sehr reges und erfreulich anzusehendes dörfliches Gemeinschaftsleben. Und das allerbeste Netzwerk für den lokalen und inzwischen weit wichtigeren regionalen Arbeitsmarkt.

Drei Kirchen/Gebeträume und vier Religionen gab es 1957. Vor allem durch Flucht und Vertreibung traten zu der protestantischen Mehrheit Menschen katholischen, neu-apostolischen und adventistischen Glaubens. Gerade diese besonders hilfsbereiten Gläubigen leisten Vorbildliches bei der Integration heutiger Migranten.

Von den Kirchen ist nur die evangelische geblieben, die übrigen Gebäude wurden „profanisiert“, das heißt anderen Verwendungen zugeführt.

Unverändert heilen seit 60 Jahren ein Allgemeinarzt und ein Zahnarzt. Ein Apotheker ist vor Jahren dazugekommen. Sarg, Beerdigung und Grabpflege auf den beiden Friedhöfen werden auch heute noch im Dorf besorgt.

Nun wird es höchste Zeit für heitere Erinnerung: Wer waren die dörflichen Stars im Jahre 1957?

Hier sind natürlich nicht die hochverdienten Persönlichkeiten gemeint, deren Wirken bereits im Rahmen des wirtschaftlichen „Strukturwandels“ gewürdigt wurde. Auch die Damen bleiben außer Ansatz.

Beschränken wir uns vorsichtshalber auf drei Illustre aus dem Jahr 1957.

Der „Gemeine“.

Besonders umtriebig geboren, ragte er hochgewachsen, witzig und experimentierfreudig heraus. Geschäftliche Versuche mit Eisdiele etc., lange bevor Italiener einstiegen, wurden vielleicht eine Spur halbherzig verfolgt. Wegen der regionalen Tanzböden. Sein Markenkern: Benzin auf den Sonntagszwirn als Hinweis auf Wohlstand und Autobesitz. Und dann zu Damen, die sich noch nicht auskannten: Du bist nicht von hier? Ausgebombt? Bei mir kannst Du Heimat finden …

Der „Feine“.

Ein legendärer Profi, auf dem landwirtschaftlichen Gut unentbehrlich. Als „Schweizer“ verantwortlich für das Melken im größten Kuhstall des Dorfes. Sein Status als Fachmann verpflichtete ihn zu erlesenen Manieren. Dies ließ sich am Samstagabend beobachten, wenn der „Schweizer“ vom Gut zum Gasthaus schritt. Alle 20 Meter griff er in die Brusttasche, entnahm und entfaltete ein Tuch, schnäuzte sich damit und warf es elegant auf die Straße. Tempo-Taschentücher — eine Neuheit im Dorf — säumten seinen Weg.

Der Nachwuchsstar.

King Sandy war — von überlokaler Prominenz — ein 15-jähriger Kraftmensch, mit blonder Mähne, die am Hinterkopf zur „Ölrinne“ führte. Sandys Anweisungen an die Fahr-Schüler — Gang zur Schule oder auch nicht — hatten Gesetzeskraft.

Sandys Personenkult beruhte auf seiner Statur und seinen Ich-Erzählungen. Eine sei erinnert.

„Gestern Abend, stockduster, in unserem Nest nichts los. Na, ich raus, weg von den Alten, mal sehen, was sich machen lässt. Ich hatte mir richtige Eisen unter die Absätze gehauen. Guckt euch das an! Fast wie Hufeisen, was? Dann über das Kopfsteinpflaster in unserm Drecknest. Kinder, das hämmerte. Fenster gingen auf, eine Alte schreit, was für`n Krach. Dann brachte ich diesen hier“ — es folgte ein Stakkato, Stepptanz auf den Hacken, das knallte wie MG-Feuer im Kino — „Kinder, war das ´ne Show!“

Leider keine Ahnung, wie solch illustre Persönlichkeiten heute auftreten. Deshalb zurück zum Thema Europa!

1957 bis 2017 — 60 Jahre Europäische Integration. 2004 bei der Europawahl in Deutschland 43 Prozent Wahlbeteiligung, 2014 immerhin 48 Prozent.

Aber jetzt festgehalten: 2014 beteiligten sich im Wahlkreis dieses kleinen norddeutschen Dorfes 61 Prozent an der Europawahl!

Ein kleines norddeutsches Dorf mit seinen aufgeschlossenen, europäisch orientierten Bürgerinnen und Bürgern. Deren Familien in den letzten sechs Jahrzehnten ungeheuren Strukturwandel bewältigten.

Die von Politikern in Medien immer wieder hörten, wenn Lasten und Vorschriften für Haus, Grund und Gewerbe drückten: „Das ist Brüssel gewesen!“ Obwohl nicht „Brüssel“, sondern die nationalen Regierungen, die Regierungen der EU-Staaten, die Gesetze machen.

Politiker, sagt den Bürgern die Wahrheit, wenn ihr Gesetze und Vorschriften in Bund und Ländern beschließt! Mit dem verlogenen Fingerzeig auf „Brüssel“ muss 60 Jahre nach den Römischen Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften endlich Schluss sein!

Denkt an die europäisch gesinnten Bürger — in einem kleinen norddeutschen Dorf!