Zu viele Paradigmenwechsel.

Das Fremdwort Paradigma steht laut Duden u.a. für ein „Denkmuster, das … die Weltsicht einer Zeit prägt.“ *1) Im Berufsleben werden nicht wenige erfahren haben, dass eitlere Chefs das volltönende Wort vom Paradigmenwechsel gern mit ihrem Amtsantritt verbinden.

Dies dürfte derzeit auf vielen Ebenen beim „VEB-VW“ (Volkswagen AG) zu beobachten sein. Dabei geht es doch nur darum, jahrelangen Betrug an Käufern von Dieselfahrzeugen einzustellen und Schadenersatz sowie Strafzahlungen zu leisten. Und getäuschte Kunden fragen, wo blieb die Aufsicht des Landes Niedersachen (20 % Stimmrechtsanteil), die Mitbestimmung, der starke Einfluss der IG-Metall?

Wie konnte es sein, dass sachkundige Mitarbeiter, von den betrügerischen Software-Manipulationen wissend, angeblich nicht wagten, den detailversessenen Vorstandsvorsitzenden Winterkorn zu informieren. „Martin Winterkorn ist jeden Cent wert“, hatte Bernd Osterloh, der Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrats der Volkswagen AG, dessen 15 Mio. Euro Jahresgehalt bejubelt. *2)

Aber trotz Staatsbeteiligung, Mitbestimmung und Gewerkschaftsmacht gab es offenbar keinen Schutz für potentielle „whistleblower“, die deshalb nicht wagten, vor existenzgefährdendem Betrug zu warnen. Weder durch den mächtigen Konzernbetriebsrat Osterloh, noch durch den bedeutenden Sozialdemokraten und IG-Metaller Dr. Karlheinz Blessing, Personalvorstand des Volkswagen Konzerns.

Kein Wunder, dass jetzt die Wolfsburger Spatzen den großen strategischen Paradigmenwechsel vom Himmel pfeifen. Kein Wunder, dass uns VW-Diesel-Kunden (Wiederverkaufswert!) das Wortgeklingel über die „Dieselthematik“ (Matthias Müller) verärgert.

Zähneknirschend vertrauen wir dem Versprechen, jetzt „die Innovationskraft“ des VW-Konzerns zu stärken, das Matthias Müller als neuer Vorstandsvorsitzender des Volkswagen Konzerns gab: „Um Innovationen zu beschleunigen, werden wir uns auch ganz gezielt Impulse von außen holen … Für ein ingenieursgetriebenes Unternehmen wie unseres ist das gewiss ein Paradigmenwechsel.“ *3)

Schon allergisch gegen das Wort Paradigmenwechsel?

Nun es kommt noch mehr.

Wenn wir schon trotz dicker Staatsbeteiligung und Mitbestimmung über den „VEB-VW“ nicht hinreichend informiert waren, über den drohenden Großkonflikt mit der Türkei wissen wir gar nichts. Viel zu wenig jedenfalls, um die Entwicklung in diesem EU-Partnerland gelassen abzuwarten.

Samuel P. Huntington hatte uns versichert: „Vereinfachte Paradigmen .. sind für das menschliche Denken und Handeln unentbehrlich.“ Wir können sie „bewusst zur Orientierung unseres Verhaltens einsetzen.“ Die Notwendigkeit solcher Orientierungshilfen zu bestreiten, weil man sich von „objektiven Fakten“ leiten lasse, führe zum Selbstbetrug. Denn wir unterliegen im „Hintergrund unseres Bewusstseins verborgene(n) Annahmen, Vorlieben und Vorurteile(n), die bestimmen, wie wir die Realität wahrnehmen.“ *4)

Huntington hatte eine Reihe von Paradigmen, die für die internationale Politikanalyse bedeutsam sind, kritisch untersucht. Wir verdanken ihm auch wichtige Hinweise auf die Türkei, ihre Staatsidee des Kemalismus und den Islam. Modernisierung, Industrialisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Türkei erforderten nach “kemalistischer“ Strategie, dass „die einheimische Kultur aufgegeben oder abgeschafft werden muss und dass die Gesellschaft, um sich erfolgreich modernisieren zu können, sich vollkommen verwestlichen muss.“ (*4), S. 105).

1923 hatte — so Huntington — Mustafa Kemal Atatürk (Kemalismus) „aus den Trümmern des Osmanischen Reiches eine neue Türkei geschaffen und massive Anstrengungen unternommen, das Land sowohl zu verwestlichen als auch zu modernisieren.“ Diese durchaus gewaltsame laizistisch-nationalistische Modernisierung gegen die islamische Tradition und Prägung großer Teile der multiethnischen Gesellschaft „machte aus der Türkei ein ´zerrissenes Land`“. (*4), S. 107 ff.).

Der von Atatürk durchgesetzte Paradigmenwechsel — so analysierte Huntington — hatte viele muslimische Menschen tief traumatisiert, ihre uralte Kultur zerstört und an deren Stelle eine aus der europäischen Zivilisation importierte völlig neue Kultur gesetzt.

Nach dem Scheitern der säkular orientierten Nachfolger des Kemalismus, den Atatürk begründet hatte, folgte mit dem religiösen Führer Recep Tayyip Erdogan seit 2001 erneut ein gravierender Paradigmenwechsel: „2001 implodierte die türkische Wirtschaft … Nach einem Jahrzehnt der Misswirtschaft durch säkulare Parteien wählte das türkische Volk mit großer Mehrheit Erdogans Partei an die Macht … Die neue Regierung … erreichte, wozu in Jahrzehnten keine Vorgänger-Regierung fähig war. Innerhalb weniger Jahre verdreifachte sich die türkische Wirtschaftsleistung (Bruttosozialprodukt).“ *5)

Hoffnung für das „zerrissene Land“, die Spaltung nachhaltig zu überwinden? In den militärischen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Eliten zumindest dürfte die trennende Kluft nicht eingeebnet worden sein. Trotz langjähriger bedeutender wirtschaftlicher Entwicklung.

Das zeigte sich seit dem verhängnisvollen Freitag, 15. Juli 2016. Zunächst überwog sicher vielfach die Freude, dass der Militärputsch gegen die mit absoluter Mehrheit und sehr hoher Wahlbeteiligung (88 %) im November 2015 bestätigte Regierung Erdogan gescheitert war. Aber derzeit wächst in den europäischen Partnerländern, vor allem in Deutschland mit drei Millionen türkischstämmigen Mitbürgern, die Sorge vor unverhältnismäßiger Vergeltung.

Massive Drohungen aus der Regierung Erdogan: Einführung der Todesstrafe, Kündigung des Flüchtlingsabkommens mit der EU, fast erpresserische Fristsetzung zum Anspruch auf Visa-Freiheit für Reisen in die EU, Demonstrationen von Erdogan-Anhängern heute in Köln, mit Gegenprotesten, die den Einsatz von 2700 Polizisten erfordern — schon wächst die Hoffnung vieler europäischer Demokraten auf einen Paradigmenwechsel für liberal-rechtsstaatliche türkische Politik.

Aber auf welche politischen Kräfte — innerhalb oder außerhalb der Regierungspartei Erdogans — sollte sich solche Hoffnung stützen? Es scheint derzeit keine verlässlichen Analysen zu geben; bis hin zur Bundeskanzlerin wird nichts als „Sorge“ geäußert.

Nein, die Sommerpause hat begonnen, Schluss mit den ärgerlichen unternehmerischen und politischen „Paradigmenwechseln“.

Greifen wir lieber ins volle Menschenleben. Denn auch in den Lebenseinstellungen der Bürger, die letztlich so viele Sorgen haben aushalten müssen, gibt es grundlegende Paradigmenwechsel. Die gelegentlich, wie eine geschätzte Kommilitonin gerade aus dem Inselurlaub berichtet, eher Freude bereiten.

Hier ist zur Erholung der Inselbericht vom Paradigmenwechsel.

Vor 50 Jahren hatte ein junger Mechaniker, nennen wir ihn Heinrich Bekewitz, auf einer Nordseeinsel Arbeit gesucht und reichlich gefunden. Viele Altbauten aus Holz waren am Ende ihrer wirtschaftlichen Lebensdauer. In den Reihen ihrer Fremdenzimmer wuchs der Reparaturaufwand. “Bengalische Zimmer“ nannte Heinrich, was er sah, mit den „Gelegenheiten“ am Ende des Ganges und auch sonst sehr einfachen Einrichtungen für die Leibeshygiene. Wie der Reparaturaufwand wuchs jedoch auch der Unwille vieler Feriengäste, sich mit dem „bengalischen“ Komfort abzufinden.

Ein Bau- und Modernisierungsboom brachte Heinrich Bekewitz, seiner Frau Alma und ihrer Tochter Hanna weit mehr als Arbeit ein. Installationen, Reparaturen, Fahrradverleih, Waschsalon — die kleine Familie Bekewitz arbeitete hart, Mechanik bestimmte ihr Leben. Am späten Feierabend erst gönnten sie sich Muße und lauschten der Meeresbrandung. Tochter Hanna, ein stiller Mensch, entlastete die Eltern, und vor allem half sie dem Vater geschickt und bald unentbehrlich bei sämtlichen Mechanikerarbeiten. Heinrich und Alma hatten sich einen ruhigen Lebensabend in südlichen Gefilden verdient, gewünscht und vor einigen Jahren in die Tat umgesetzt.

Tochter Hanna, wie gesagt, ein stiller Mensch, inzwischen  Anfang Vierzig, blieb der Insel treu. Aber nicht dem Paradigma der Mechanik, das ihre Eltern orientiert hatte. In kürzester Frist erkannten viele Feriengäste die Früchte ihrer stillen Zurückgezogenheit. Eine profunde Bildung in fernöstlicher Lebensführung und der Weisheit des Taoismus. Hannas Kurse und Übungen für innere Ruhe, ihre Kenntnis der Lehre von Yin und Yang, dem ewigen Werden und Vergehen … all dies überzeugte Erholung Suchende so sehr, dass Hannas Angebote mit der Nachfrage kaum Schritt halten konnten.

Vom frühen Morgen bis in den späten Nachmittag hinein konnte der Wanderer am Flutsaum und in Dünentälern Hannas Gruppen sehen — in tiefer Innerlichkeit und Einkehr versunken. Und dann Hannas wohlklingende Stimme hören: „Wasser und Sonne, Sand und Wind, die heilenden Elemente sind. Den Atem spüren. Die Zeit steht still. Die Seele kann öffnen, wer es nur will.“

Von der Mechanik zur Mystik — welch ein Paradigmenwechsel, der Frau Hanna Bekewitz in stiller Zurückgezogenheit gelang. Wahrscheinlich der einzig erfreuliche, von dem in diesem Sommer zu berichten ist.

*1) Duden Fremdwörterbuch. 5. Aufl. 1990.

*2) VW-Betriebsrat Bernd Osterloh „Herr Winterkorn ist jeden Cent wert“. Ein Interview von Marcus Gatzke und Tina Groll; zeit.de, 5. Juni 2014.

*3) Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender des Volkswagen Konzerns. Rede. Pressekonferenz „TOGETHER – Strategie 2025″, am 16. Juni 2016 Autostadt, Wolfsburg. (Hervorhebung RS).

*4) Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, München, Wien, 1996, S. 32. (Hervorhebung RS).

*5) What Caused the Turkish Coup Attempt. President Erdogan’s uncompromising approach to rule was bound to produce a violent backlash—but this wasn’t the way to go. By AMB. W. ROBERT PEARSON. July 16, 2016; (W. Robert Pearson served as U.S. ambassador to Turkey from 2000 to 2003 and is currently a scholar at the Middle East Institute, a think tank in Washington, D.C.); www.politico.com/. (Übersetzung RS).