DOOF & LEO.

Dass Finanzberater ihre Kunden als doof und „leicht erreichbare Opfer“ (leO) einschätzen, wundert erfahrene Bürger überhaupt nicht. *1) Dass auch Politiker und manche ihnen gewogene Wissenschaftler uns Wähler, uns „Stimmvieh“ also, genauso beurteilen, mögen Insider längst wissen. Dass dies bei richtigem politischem Ärger aber dem Bürger direkt gesagt wird, ist neu, schamlos und dumm obendrein.

Dies zeigt die Affäre um Petra Hinz. Diesem Beitrag geht es nicht um Teilnahme an der Hetzmeute, das können die NRW-Ministerpräsidentin Kraft und ihr Justizminister Kutschaty ohnehin besser *2). Hier geht es um die Beurteilung des Wählers, die uns aus Versuchen entgegenschlägt, die Affäre Hinz zu relativieren: DOOF & LEO.

„Der Wähler schaut nicht auf den formalen Lebenslauf“, behauptet der erfahrene grüne Lebenslauf-Kosmetiker Omid Nouripour, MdB. *3) Und Professor Martin Morlok, Direktor des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, empfiehlt der SPD zum Fall Hinz: „Als Partei würde ich damit offensiv umgehen und sagen, überall haben wir eben auch Leute, die einen Fehler machen … ein vernünftiger Bürger wird das anerkennen.“ *4)

Umso willkommener mag der SPD diese Empfehlung erscheinen, als Prof. Morlok vorgibt, die Wirkung des Falles Hinz auf unsere Wahlentscheidungen zu kennen: „Also, wenn Sie mich konkret nach den Wahlen fragen, dann würde ich sagen: so gut wie keine. Wahlentscheidungen sind zusammengesetzt aus sehr, sehr vielen Faktoren und so eine Personalie, die kocht im Moment hoch, aber in drei Monaten redet da niemand mehr drüber, da bin ich einigermaßen sicher.“ *4)

MdB Omid Nouripour und Parteienforscher Prof. Morlok sagen uns Wählern also: Der Lebenslauf von MdBs und auch seine Fälschung — „in drei Monaten redet da niemand mehr drüber“ (Morlok).

Ist den Herren in ihrem Drang nach Beschwichtigung entfallen, wie der Deutsche Bundestag gewählt wird? *5)

Bei jeder Bundestagswahl entscheiden wir Wähler über unsere Erst- und unsere Zweitstimme. Mit der Erststimme wählen Bürger den Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis. Dabei können sie von Kriterien geleitet sein wie: Familie, Berufsausbildung, Berufstätigkeit, Lebenserfahrung, praktische politische Tätigkeit. So mögen Wähler prüfen: Wird die direkt zu wählende Persönlichkeit im Deutschen Bundestag fachlich qualifizierte, der Arbeitswelt und nicht der Ideologie verpflichtete Beiträge erwarten lassen?

Deshalb könnten nicht wenige SPD-Sympathisanten z. B. im Wahlkreis „Rhein-Sieg-Kreis II“ 2013 mit der Erststimme die Rechtsanwältin Bettina Bähr-Losse gewählt haben. *6) Ebenso hätten sich solche Wähler wohl auch von der Eignung eines qualifizierten Facharbeiters mit langjähriger Berufserfahrung oder eines Handwerksmeisters überzeugen lassen.

Aus dieser Einstellung heraus ist die Relativierung der Affäre Hinz durch Prof. Morlok dem politischen Wahlakt nicht angemessen: „Überall haben wir eben auch Leute, die … auch einen schlimmen Fehler machen. Und sie bekennen, dass das nicht gut war, und dann muss der Bürger eben sagen: Ja, ein vernünftiger Bürger wird das anerkennen.“ *4) Abwegig erscheint Morloks Aufruf zu vernünftiger Bürgerpflicht, einen auf Betrug basierenden Zugang in die wichtigste Institution unseres Staates, den Bundestag, als „Fehler“ hinzunehmen, wenn er zugegeben wird. Nach einem Jahrzehnt im Falle Hinz!

Leider ist der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel der Empfehlung Morloks zu „offensivem“ Umgang mit der Affäre Hinz gefolgt: „Was meinen Sie, wie viele Menschen auch in der Politik und in der Gesellschaft in ihren Leben Fehler, auch größere Fehler machen?“ *7) Der Bürger mag kaum glauben, dass dieser karnevaleske „Wir sind doch alle Sünderlein“-Kommentar vom Bundesvorsitzenden der ältesten Partei Deutschlands stammt.

Sorgfaltspflicht der SPD bei der Auswahl und der Vorstellung ihrer Kandidaten für den Deutschen Bundestag — im Wahlkreis (Direktkandidat) und auf der Landesliste? Anscheinend kein Gedanke bei Gabriel, dass wir Wähler solche Sorgfaltspflicht erwarten müssen! Als Gegenleistung für die Parteienfinanzierung aus Steuermitteln! Hohe staatliche Zuwendungen, damit die Parteien „bei der Willensbildung des Volkes mitwirken“ (Artikel 21,1 Grundgesetz)! *8)

Fehler seien doch menschlich — mit dieser Frivolität hat Gabriel das Ansehen der SPD beschädigt. In Qualitätsmedien wird der Schaden benannt:

Erstens, die SPD ist beschädigt als „eine Partei, die vom Grundgesetz mit der Personalauswahl beauftragt ist und der die Wähler vertrauen, dass Qualität drin ist, wo SPD draufsteht“. *9)

Zweitens, die Glaubwürdigkeit der SPD als Partei gerechter Bildungschancen ist beschädigt: „Gabriel unterschlägt durch seine relativierenden Bemerkungen, dass der Betrug der Petra Hinz — ähnlich wie in den Fällen Schavan und zu Guttenberg — auch ein Betrug an der Bildungsrepublik Deutschland ist.“ *7)

Wenn Sigmar Gabriel mit dieser „offensiven“ Haltung zum Fall Hinz durchkommt, dann wissen wir Wähler, wie die SPD-Spitze uns sieht: DOOF & LEO.

*1) Altersvorsorge nach der Finanzkrise. Meine Bank ist pleite, ich auch. Die „Lehman-Opfer“ galten in Banken als alt und doof oder „leo“ – „leicht erreichbare Opfer“; www.sueddeutsche.de › Geld; 03.08.2016.

*2) Lebenslügen-Affäre. Petra Hinz will Bundestagsmandat zum 31. August niederlegen. 10.08.2016; http://www.derwesten.de:„Es wäre umso wichtiger gewesen, schnell und sauber damit umzugehen. Die Konsequenz konnte nur lauten:´Sofortige Rückgabe aller Parteiämter und auch des Bundestagsmandats`, sagte Kraft.“ (RS Hinweis: Petra Hinz, SPD, MdB aus Essen seit 2005, hatte ab etwa 1985 in ihrem Lebenslauf fälschlich behauptet, nach einem Abitur Jura studiert und mit dem Ersten und Zweiten Staatsexamen abgeschlossen zu haben. Dies sollen SPD-„Parteifreunde“ in Essen schon lange gewusst haben.)

*3) Deutschland. Omid Nouripour. „Der Wähler schaut nicht auf den formalen Lebenslauf“. Der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour wurde vor Jahren von einem Journalisten wegen falscher Lebenslaufdaten geoutet. Wie denkt er heute über den Fall Petra Hinz? Von Lisa Caspari; www.zeit.de. 05. August 2016.

*4) Interview „Ein Parteiausschluss-Verfahren ist eine symbolische Reinigung“. Causa Petra Hinz. Martin Morlok im Gespräch mit Sarah Zerback. DLF; 04.08.2016. Causa Petra Hinz. Martin Morlok im Gespräch mit Sarah Zerback.

*5) „Bei der Wahl zum Bundestag hat jeder Wähler zwei Stimmen: Mit der Erststimme kann ein Direktkandidat gewählt werden. Die Zweitstimme entscheidet, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag erhält … Mit der Erststimme entscheiden sich die Wähler für einen der Kandidaten. Der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt und bekommt einen Sitz im Bundestag. Das System der Erststimme stellt sicher, dass alle Regionen in Deutschland im Bundestag vertreten sind … Mit der Zweitstimme können die Wähler für die Liste einer in ihrem Bundesland zugelassenen Partei stimmen. Auf dieser sind die Kandidaten der jeweiligen Partei in einer festen Reihenfolge aufgelistet. Der Anteil an Zweitstimmen für eine Partei entscheidet, ob und wie viele Sitze der Partei im Bundestag zustehen.“ Wahl des Bundestages 28.8.2013; http://www.bpb.de/politik/grundfragen/24-deutschland/40438/wahl-bundestag.

*6) Bundestagswahlkreis Rhein-Sieg-Kreis II. Bettina Bähr-Losse stellt sich den Wählern vor: „Ich wurde am 28.01.1967 in Braunschweig geboren und bin verheiratet. Ich habe in Braunschweig das Abitur gemacht und Rechtswissenschaften in Regensburg, Göttingen und Bonn studiert. Das Referendariat habe ich in Köln absolviert. Ich arbeite als Rechtsanwältin hauptsächlich im Bereich des Familienrechts. Seit 1992 lebe ich mit meinem Mann im Rhein-Sieg-Kreis; erst einige Jahre in Königswinter – Frohnhardt und seit 1997 in Sankt Augustin – Hangelar. Von Februar 2005 bis März 2006 war ich stellvertretende Ortsvereinsvorsitzende der SPD Sankt Augustin. Von 2006 bis 2010 war ich Ortsvereinsvorsitzende der SPD Sankt Augustin und seit Oktober 2011 bin ich Kreisvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen im Rhein-Sieg-Kreis. Von 2008 bis 2010 war ich Mitglied im Kreisvorstand der SPD Rhein-Sieg; dort bin ich seit Oktober 2011 beratendes Mitglied. Von 2009 bis 2014 war ich im Rat der Stadt Sankt Augustin. Seit 2009 bin ich Kreistagsabgeordnete im Rhein-Sieg-Kreis. Bis 2012 war ich Beisitzerin im Stadtsportverband der Stadt Sankt Augustin. Ich arbeite seit 2011 ehrenamtlich in einem Frauenhilfeverein.“

*7) Der Fall Petra Hinz. Das ist keine Kleinigkeit, Herr Gabriel! Kisslers Konter: Eine SPD-Bundestagsabgeordnete hat sich eine Karriere als Juristin erschwindelt. Ihr Parteivorsitzender relativiert das Vergehen. Aber akademische Hochstapelei ist keine Petitesse. Von Alexander Kissler am 4. August 2016; http://www.cicero.de/berliner-republik/der-fall-petra-hinz-das-ist-keine-kleinigkeit-herr-gabriel.

*8) In den letzten vier Jahren bezogen die Parteien allein durch direkte staatliche Zuwendungen rd. 145 Mio. Euro pro Jahr; die SPD ist mit 48 Mio. Euro dabei. Quelle: Die Finanzierung der Parteien in Deutschland. Heinrich Pehle. 22.5.2015; http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/42042/finanzierung.

*9) Petra Hinz und die SPD. Total verrannt. Ein Kommentar von Thomas Darnstädt. 03. August 2016; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fall-petra-hinz-vergehen-gegen-die-demokratie-a-1105999.html.

**) Nachtrag 20.8.2016. Die harten Urteile in der Qualitätspresse über den Fall Petra Hinz und die relativierende Reaktion des SPD-Vorsitzenden Gabriel darauf zeigen insgesamt positive Wirkung.

Neuerdings erscheine im Lebenslauf von Politikern, so berichten Medien, nach Angaben wie z. B. “Studium der Geschichte, Politik und Philosophie“ öfter der Zusatz „ohne Abschluss“.

Oder es werden gesetzlich nicht geschützte Berufsbezeichnungen verwendet: Seelsorger, Journalist, Dolmetscher etc.. Damit kann sich jeder schmücken, soweit wenigstens der Anstand gewahrt bleibt, sich nicht auf eine Stufe neben jene zu stellen, die auf solchen Gebieten hart gearbeitet und Ergebnisse vorzuweisen haben.

Bei wohlklingenden internationalen akademischen Titeln empfiehlt sich genaues Hinsehen: „The abbreviated name of the university (Oxon, Cantab or Dubl) is therefore almost always appended in parentheses to the initials ´MA` in the same way that it is to higher degrees, e.g. ´John Smith, MA (Cantab), PhD (Lond)`, principally so that it is clear (to those who are aware of the system) that these are nominal and unexamined degrees.“ (Master of Arts. From Wikipedia, the free encyclopedia.).

Wähler würdigen ehrliche und genaue Angaben bei der Vorstellung von Parlamentskandidaten.