Zukunft der Sozialdemokratie.

Viele Stunden am TV, den SPD-Parteitag beobachtend, zeigten harte Arbeit der über 600 Delegierten und den notwendigen Streit.

1. Kritische Debatte statt „Einheit, Einheit, Einheit“.

Warum war der Streit notwendig und nicht das vom Schatzmeister Dietmar Nietan proklamierte Ziel „Einheit, Einheit, Einheit“?

  • Nicht einer “Einheitspartei“ wird es gelingen, aus dem 16.4 %-Tief der Wahlniederlage zu führen: Mit dem verheerendem Niedergang an Spenden, an Mitgliedern, an deren finanziellen Beiträgen und darüber hinaus an der staatlichen Teilfinanzierung. 
  • Schatzmeister Nietans Aufruf „Einheit, Einheit, Einheit“ scheint der Individualität, der Eigenverantwortung politisch denkender Menschen zu widersprechen, auch dann, wenn sie Parteitags-Delegierte sind. 
  • Die SPD als die älteste demokratische Partei Deutschlands ist keine „Sozialistische Einheits-Partei“, sondern wie jede Partei nur Teil eines vielfältigen demokratischen Ganzen. Die SPD-Führung hat weder gegenüber ihren Mitgliedern, noch gegenüber der Wählerschaft ein Vorgabe-Monopol auf politische Vertretung der “Verteilungsgerechtigkeit“, der Sicherung des “Friedens“, schon gar nicht des “Gemeinwohls“.
  • Der Vertrauensverlust, den die SPD bei den Menschen erlitten hat, ist dem Parteivorstand zufolge weitgehend „hausgemacht“. *1) Als langjähriger Beobachter der Politik meine ich: durch vorgetäuschte “Einheit“, durch zugekleisterte Widersprüche, durch eine „Spagat“-Kommunikation, die gegensätzliche Partei-Meinungen verschleiert, um interne Konflikte vor der Wählerschaft zu verbergen. 

2. Kompromisse verteidigen und erklären.

Der Eintritt in die Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD bringt neue Herausforderungen, um für die SPD Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu erarbeiten: Eine „Einheitsposition der SPD“ zu jedem Arbeitsthema muss in einer Koalitionsregierung notwendig in Widerspruch geraten zu den “Kompromissen“, die politische Stabilität sichern.

Gerade in heutiger Krisenzeit werden “Kompromisse“ der verantwortlichen Regierung erarbeitet, um Konflikte infolge der Vielfalt konkurrierender Interessen und Positionen praktisch zu lösen. Im politischen Wettbewerb der Parteien sind diese “Kompromisse“ der Wählerschaft zu erklären. Ist es immer klug, dabei die Positionen des Koalitionspartners CDU/CSU herabzusetzen, um Applaus der Delegierten zu bekommen? Hilft dies, in einer Koalitionsregierung die notwendige Kompromissbereitschaft zu erhalten? Bürgerinnen und Bürger, die Parteitage beobachten, mögen eher an stabiler und funktionsfähiger Regierung interessiert sein als an Parteikarrieren von Delegierten …

Große Wahlsiege der Sozialdemokratie wurden von Tony Blair errungen, weil der seine Partei auf einen Dialog mit den Wählerinnen und Wählern verpflichtete: „Labour listens, Labour learns, Labour leads“ — der Dreiklang des Erfolgs durch Überzeugung der britischen Wählerschaft. *2) Es hatte sich bewährt, nicht allein in „die Partei hineinzuhorchen“, wie Lars Klingbeil versprach *3), sondern vor allem in die Wählerschaft, um ihre Sorgen und Wünsche zu ermitteln. 

Dem Parteitag „Einheit, Einheit, Einheit“ zuzurufen, wie Schatzmeister Nietan, wird nicht genügen, um nach einem 16 %-Wahlresultat wieder Volkspartei zu werden. 

3. Die Sorgen der Menschen aufgreifen.

Zu empfehlen ist allen Sozialdemokraten, Langzeitstudien (seit 1992) zur Kenntnis zu nehmen, mit denen die R+V-Versicherung die Menschen unseres Landes nach ihren Sorgen fragt. Die Rangfolge der zehn größten Ängste der Deutschen — im Jahr 2024 geäußert von den in repräsentativer Studie 2400 Befragten ab 14 Jahren — sind: *4)

1. Steigende Lebenshaltungskosten (57 % der Befragten)

2. Überforderung des Staates durch Geflüchtete (56 %)

3. Wohnen in Deutschland unbezahlbar (52%) 

4. Spannungen durch Zuzug ausländischer Menschen (51 %)

5. Steuererhöhungen/Leistungskürzungen (50 %)

6. Überforderung der Politiker und Politikerinnen (49 %)

7. Spaltung der Gesellschaft (48 %)

8. Schlechtere Wirtschaftslage (48 %)

9. Weltweit autoritäre Herrscher immer mächtiger (46 %)

10.Politischer Extremismus (46 %)

Welche Schlüsse über die Sorgen der Deutschen legen diese Ergebnisse nahe? Die Menschen in Deutschland scheinen vor allem besorgt, dass durch unkontrollierte und ungesteuerte Migration der mühsam erarbeitete Wohlstand, die Soziale Sicherung und die Lage am Wohnungsmarkt belastet werden könnten. Zumal russische Kriegsdrohungen und Klimawandel die wirtschaftlichen Aussichten nicht verbessern.

Die Redebeiträge des SPD-Spitzenpersonals auf dem SPD-Parteitag erlauben dennoch Zuversicht: Die gewählten SPD-Vorsitzenden Bärbel Bas, Lars Klingbeil und die stellvertretenden Vorstandsmitglieder sind politisch bewährte Persönlichkeiten, denen der Auftrag bewusst ist, den Menschen in Deutschland zu dienen.

Sie werden den Menschen innerhalb und vor allem außerhalb der Partei zuhören, von ihnen lernen, und schließlich mit solchen politischen Angeboten führen, die von der Wählerschaft als erreichbar und erwünscht beurteilt werden können. 

Denn davon hängt die Zukunft der Sozialdemokratie in Deutschland ab.

*1) SPD Parteivorstand. Antrag L01: Veränderung beginnt mit uns. Dort heißt es: „Die Gründe für unsere Wahlniederlage sind vielfältig: Es ist ein ganzes Bündel aus strukturellen langfristigen Entwicklungen in Wähler*innenschaft, Parteiensystem und zugleich enttäuschte Erwartungen an die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der abgewählten Bundesregierung, welche weder kommunikativ noch politisch den Puls der Zeit getroffen hat. Und auch wenn uns akute externe Faktoren, wie die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen nach der Coronapandemie, die Folgen des Ukrainekrieges, die hohe Infation sowie ein verändertes, zunehmend unberechenbares politisches Umfeld besonders herausgefordert haben, ist der Vertrauensverlust in weiten Teilen hausgemacht.“ 

*2) Tony Blair ist in der britischen Nachkriegsgeschichte der Labour-Politiker, der am längsten als Premierminister gedient (2. Mai 1997 bis 27. Juni 2007) und der einzige, der seine Partei in drei Wahlsiege hintereinander geführt hat; https://en.wikipedia.org/wiki/Tony_Blair

*3) SPD. Klingbeil nach K-Frage-Klärung: Bin kein Basta-Vorsitzender. In der SPD hält die Kritik an den innerparteilichen Diskussionen über die Kanzlerkandidatur auch nach dem Verzicht von Verteidigungsminister Pistorius an. 22.11.2024; https://www.deutschlandfunk.de/klingbeil-nach-k-frage-klaerung-bin-kein-basta-vorsitzender-100.html (Klingbeil sagte dort, er „wolle in die Partei hineinhorchen und ernst nehmen, was dort diskutiert werde.“) 

*4) Die größten Ängste der Deutschen: hohe Lebenshaltungskosten und Folgen der Migration. Berlin, 9. Oktober 2024. Steigende Lebenshaltungskosten bereiten in diesem Jahr den Menschen die meiste Angst (57 Prozent). Sie belegt Platz eins in der repräsentativen Studie „Die Ängste der Deutschen 2024“ des Infocenters der R+V Versicherung. An zweiter Stelle folgt eine gesellschaftspolitische Sorge: 56 Prozent der Befragten befürchten, dass die Zahl der Geflüchteten die Deutschen und ihre Behörden überfordert. Die Ergebnisse stellen vor: Prof. Dr. Isabelle Borucki, Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg, Grischa Brower-Rabinowitsch, Leiter der R+V-Studie „Die Ängste der Deutschen“, Wiesbaden; https://www.ruv.de/dam/jcr:d711cc3a-fa0d-4c97-83c3-70d9d1b8e458/ruv-aengste24-pi-bundesweit.pdf