2012 – Beunruhigender Dissens bei Ökonomen.

Rückt das neue Jahr heran, sollten sich Bürger die Stimmung eigentlich nicht durch Ökonomie trüben lassen.

Kaum eine Zeit erscheint bei oberflächlicher Betrachtung unwichtiger als der Jahreswechsel.

Deshalb legen die führenden Institute für Wirtschaftsforschung ihren Blick auf das jeweils kommende Jahr und ihr äußerst informatives Datenmaterial etwa Mitte Oktober vor („Herbstgutachten“). Kurz darauf, Anfang November, folgt das Jahresgutachten der „Wirtschaftsweisen“, des Sachverständigenrates (SVR) zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Es gibt in der empirischen Ökonomie kaum Besseres als diese Dokumente herausragender Institute und Fachleute. Damit stehen Analysen zur Verfügung, um sich ein Urteil zu bilden über das, was wirtschaftlich auf uns zukommt, und wie die längerfristigen („strukturellen“) Probleme der Bundesrepublik zu bearbeiten sind.

Bis jedoch diese Quellen studiert und verarbeitet sind, kann sich in Krisenzeiten die Lage gegenüber den Annahmen der Analysen ändern. Dann wird der Druck der Medien auf angepasste Kommentare so groß, dass sachverständige Äußerungen unvermeidlich werden. Und dann hören wir eben zum Jahreswechsel 2011/2012 leider Unerfreuliches.

Unser „reales Bruttoinlandsprodukt (BIP)“ eines Jahres ist grob definiert als die Wirtschaftsleistung in Deutschland, erbracht für Verbrauch und Investition der Privaten und der staatlich-öffentlichen Institutionen sowie für den Export – abzüglich des Wertes der Güterimporte, um  Doppelzählung zu vermeiden. „Real“ bedeutet hier, dass der in € ausgedrückte BIP-Wert von Preisänderungen „bereinigt“ wird, weil uns „mengenmäßiger“ Zuwachs des „Kuchens“ z.B. für Verteilungszwecke interessiert. Bewertet wird daher zu Preisen eines Basisjahres (Preisindex 2005).

Diese Wirtschaftsleistung wird im Jahre 2012 gegenüber 2011 nicht um 0,9 % zunehmen. So war es uns noch im November 2011 vom SVR in Aussicht gestellt worden. Vielmehr wird die Zuwachsrate des BIP 2012 sich voraussichtlich auf nur +0,5 % belaufen – so hörten wir Prof. Wolfgang Franz, den Vorsitzenden des SVR, kurz vor Silvester.

Einen Tag später schätzte Prof. Beatrice Weder di Mauro, Kollegin von Herrn Franz im SVR, in BILD das BIP-Wachstum auf +0,4 %. Und diese Rate wäre überhaupt nur bei „schneller Lösung der Eurokrise“ wahrscheinlich. Mit „Lösung“ meinte sie wohl das Rezept des SVR („Schuldentilgungspakt“).

Diese Empfehlung hatte die für Krisenpolitik verantwortliche Bundesregierung ignoriert. Vermutlich weil die SVR-„Lösung“ gegenseitige Garantien in der Eurozone beinhaltet, mit denen die Zinsen für Staatsanleihen gedrückt und eingeebnet werden sollen. Das aber könnte den wirksamsten Schutz vor fortgesetzter Schuldenmacherei, d.h. die Strafe durch höhere Zinsen, außer Kraft setzen. Diesen fragwürdigen Aspekt des SVR-Vorschlags thematisiert immer wieder mit Nachdruck Dr. Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank.

Sollte nun aber mangels rascher „Lösung“ eine anhaltende Eurokrise zu Einbrüchen im Welthandel führen, dann – so Frau Weder di Mauro – drohe Rezession, dann sei statt eines Anstiegs sogar ein Rückgang des BIP um 0,5 % zu erwarten.

Diese Warnung ist sehr ernst zu nehmen. Sie kann mit Bezug zu einer Äußerung der IWF-Direktorin Christine Lagarde von Anfang Dezember 2011 gesehen werden. Frau Lagarde hatte an die Staaten der Welt appelliert, vermeintlichen Schutz vor der Krise in den USA und Europa nicht in der Abschottung der eigenen Wirtschaft, also in Protektionismus, zu suchen. Solche Haltung habe die Rezession der 1930er Jahre zur Katastrophe verschärft. Eine sehr dankenswerte Ansage für die Regierungen und die Öffentlichkeit der Welt!

Denn wer nur einmal in die Statistiken des internationalen Handels schaut, sieht wie empfindlich der Außenhandel auf Rezessionen reagiert. Nur zur Illustration einige Zahlen aus dem Krisenjahr 2009. Die Exporte der USA brachen um 14 % ein, die Exporte der EU: -15 %, die Japans: – 25 %! Und dies bei BIP-Verlusten von „nur“ ca. 3,5 % in den USA sowie ca. 4-5 % in der Eurozone und in Japan. (s. www.wto.org/english/res_e/statis_e/its2010_e/…; nationale Statistiken; Geschäftsbericht Deutsche Bundesbank 2009).

Frau Prof. Weder di Mauros Zwischenruf blieb nicht ohne Resonanz. In Medien wird ihr Urteil im Vergleich zu dem von Fachkollegen als „pessimistisch“ bewertet (s. www.n-tv.de, 29. Dezember 2011). Daraufhin bekräftigte Prof. Franz, dass er „zuversichtlich auf das neue Jahr“ blicke, wie die SZ berichtet hatte. Prof. Franz hatte außerdem Frau Lagarde gerügt und ihr geraten, „bei ihrer Wortwahl zurückhaltender zu sein“; denn „Rezessionen lassen sich auch herbeireden.“ (www.sueddeutsche.de, 27.12.2011).

Ist dies die angemessene Reaktion eines unserer Top-Ökonomen auf den Appell der Geschäftsführenden Direktorin des IWF? Berücksichtigt diese Kritik des SVR-Vorsitzenden, dass der IWF neben der WTO (World Trade Organization) die einzige wirklich sachkundige Institution ist, die mit den Tricks und Versuchungen des verderblichen Protektionismus seit Jahrzehnten vertraut ist?

Frau Lagarde gebührt Dank für ihren Aufruf, nicht Kritik! Die ökonomische Fachöffentlichkeit der Welt sollte wachsam auf protektionistische Manipulationen ihrer Regierungen und der dahinter steckenden Lobby-Gruppen und mancher Gewerkschaften achten. Das gilt gerade auch für die USA im Wahljahr 2012. Wobei jedoch die traditionell auf offene Handelsbeziehungen gerichtete Politik deutscher Industriegewerkschaften positiv hervorzuheben ist!

Daher hat auch Pascal Lamy, Generaldirektor der WTO, am 15.12.2011, dem Beispiel Frau Lagardes folgend, einen dramatischen Aufruf gerade an die Regierungen der reichen Industrieländer gerichtet:

„Das Jahr 2011 wird wegen seiner Turbulenz und Instabilität erinnert werden. Als wir glaubten, die wirtschaftliche Krise des Jahres 2009 überwunden zu haben, verschlechterten sich die Aussichten für die Weltwirtschaft schwerwiegend. Hohe Volatilität in den Finanzmärkten und Sorge um die staatliche Verschuldung haben das Vertrauen der Unternehmen und der Konsumenten beschädigt. Über alle Länder hinweg stockt das globale Wachstum mit dem Ergebnis, dass sich der Güteraustausch verlangsamt … In unserer verflochtenen Welt … bildet das multilaterale System des Handels einen Anker für … unsere Werte offener Grenzen, der Nicht-Diskriminierung, der Transparenz und der Herrschaft des Rechts. Aber Stürme drohen den Anker loszureißen … Die Kosten intensiven Protektionismus bedrohen die Weltwirtschaft in einer Größenordnung von 800 Mrd. US-Dollar.“

Der von Herrn Lamy bezifferte Schaden für den internationalen Handel durch Protektionismus beläuft sich also auf rd. 619 Mrd. Euro (Wechselkurs vom 02.01.2012, RS). Das entspricht etwa einem Drittel des gesamten deutschen Volkseinkommens, d.h. der Summe aus Entgelten der Arbeitnehmer sowie der Unternehmens- und Vermögenseinkommen. Dies sollte den Bürgern eines exportorientierten Landes den Ernst der Lage bewusst machen.

Und so appelliert Herr Lamy: „Tragen Sie bei, globale Stabilität und Berechenbarkeit wieder herzustellen … Ein freieres, gerechteres und die Integration der Entwicklungsländer förderndes System des internationalen Handels ist Teil der Lösung … Steht auf für die Werte des Multilateralismus! Den wirtschaftlich starken Ländern gilt mein Aufruf, Führung auszuüben, politisch mutig zu handeln und für offeneren Außenhandel und Reformen zusammen zu arbeiten.“ (s. www.wto.org/english/news…; Übertragung, RS).

Die Warnungen von Frau Christine Lagarde und Herrn Pascal Lamy vor Protektionismus und handelspolitischer Abschottung nehmen wir Bürger dankbar zur Kenntnis. Und werden in diesem Sinne die politische Debatte aufmerksam verfolgen.

Wo ist nun der in Medien hervorgehobene Unterschied zwischen den Ausblicken der beiden SVR-Mitglieder, Frau Professor Weder di Mauro und Herrn Professor Franz, auf das neue Jahr 2012 zu sehen?

In der jeweils geschätzten BIP-Zuwachsrate von 0,4 % bzw. 0,5 % ? Bei einem jährlichen Bruttoeinkommen von 30.000 €, also knapp dem deutschen „nominalen“ Bruttoinlandsprodukt 2010 pro Kopf der Bevölkerung, würde dies einen Unterschied von 30.120 € gegenüber 30.150 € bedeuten („nominal“ heißt im Unterschied zu „real“: zu laufenden Preisen des Jahres 2010 bewertet, RS).

Für die gesamte Volkswirtschaft betrachtet, geht es hier allerdings nicht um Kleingeld, sondern um etwa 2,6 Mrd. Euro mehr (Schätzung Prof. Franz) oder nicht, wenn Frau Weder di Mauro die Zuwachsrate des BIP genauer voraussagt. Zur Illustration: Das reicht schon fast an die Gesamtausgaben der Pflegeversicherung für „häusliche Pflegehilfe durch professionelle Pflegekräfte für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung (sog. Pflegesachleistungen)“ im Jahr 2010 heran (s. Wikipedia u. Monatsbericht Deutsche Bundesbank, Dezember 2011, S. 59*).

Allerdings sind diese Schätzungen der BIP-Zuwachsrate mit solcher Ungewissheit behaftet, dass sich die Frage aufdrängt: Warum können sich diese beiden herausragenden Ökonomen nicht zu gemeinsamem „Peilen über den Daumen“ verständigen?

Beide sind schließlich – neben den gleichermassen angesehenen Professoren Peter Bofinger, Lars P. Feld und Christoph M. Schmidt – Mitglieder der gleichen bedeutenden Institution des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Auch der Nicht-Ökonom weiß, dass über die Wirtschaftsleistung und die ihr entsprechende Einkommensentwicklung in heutigen Zeiten der Ungewissheit wenig bekannt ist: Wer weiß schon Näheres über die geplanten Investitionsentscheidungen, die Auslandsnachfrage nach unseren Exportgütern oder gar die Gewinne des Jahres 2012? Lediglich die Klumpengröße volkswirtschaftlicher Aggregate und deren gewisse Trägheit erlaubt überhaupt grobe Abschätzungen des BIP.

Wie grob diese sind, zeigt z.B. der Blick auf die Schrumpfrate des USA-BIP 2009: Aktuell, US-amtlich, wird sie mit  minus 3,5 % angegeben; im Geschäftsbericht 2009 der Deutschen Bundesbank steht noch (Stand März 2010, S. 18): minus 2,4 %. Im allgemeinen vergehen 4 Jahre, bis endgültige Zahlen vorliegen. So erscheint beinahe belanglos, dass die Schätzwerte der BIP-Änderungsrate deutscher Institute für Wirtschaftsforschung für 2012 zwischen minus 0,1 % und plus 1,2 % streuen.

Wenn daher auch in den Medien ein Dissens zwischen der „pessimistischen“ Frau Professor Weder di Mauro und dem „zuversichtlichen“ Herrn Professor Franz thematisiert wird, ist dieser Unterschied wohl kaum durch die von ihnen unterschiedlich geschätzten BIP-Zuwachsraten erklärbar.

Unterscheiden sich so bedeutende Ökonomen in „pessimistischer“ oder eher „zuversichtlicher“ Einschätzung des Jahres 2012, ist daher eine fundamentale Differenz in der Analyse und Bewertung der Risikofaktoren zu vermuten.

Und dies wollte offenbar Professor Franz mit seiner Kritik an Frau Lagarde zugekleistert wissen. Hält er heute eine vernebelnde Seelenmassage à la Ludwig Erhard aus den 1960er Jahren für notwendig? Genau hier liegt der Grund, weshalb dieser Bürger-„Journalist“ mit erheblicher Sorge dem neuen Jahr 2012 entgegensieht.

Von unserem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wird in dieser kritischen Zeit mehr erwartet als Einzelinterviews!