Blick auf das Partnerland Ungarn.

Bestürzende Nachrichten in den Medien aus Ungarn.

Dort entwickeln sich sehr ernste Konflikte um einen Rückfall in autoritäre Methoden durch die Regierung Orbán/Fidesz, die eine parlamentarische Zwei-Drittel-Mehrheit missbrauche. So kommentieren glaubwürdige Repräsentanten Ungarns.

Wie sollten sich Bürger der Bundesrepublik Deutschland in dieser Situation verhalten? Wir wüssten, was in solchem Fall im eigenen Land zu tun wäre. Aber gegenüber dem Partnerland Ungarn und seiner Regierung ist vorschneller Protest aus Deutschland sorgfältig zu überdenken.

Zum einen hat Viktor Orbán unbestreitbare Verdienste erworben. Sowohl bei der Befreiung seines Landes von der Sowjetherrschaft, als auch in der Vorbereitung Ungarns auf den Beitritt zur Europäischen Union. Überdies reflektiert sein Wahlsieg, der zu einer parlamentarischen Zwei-Drittel-Mehrheit führte, sicher ein berechtigtes Urteil der ungarischen Bürger über die sozialdemokratische Vorgängerregierung.

Zum anderen steht gerade Deutschen gegenüber den östlichen Partnerländern zurückhaltende Urteilsbildung gut an. Nun sind wir jedoch als Partner und Bürger der Europäischen Union zum offenen Dialog über die gemeinsamen demokratischen Werte verpflichtet. Und da ist die Enge des „Das geht uns nichts an, sondern nur die Ungarn selbst“ nicht zu akzeptieren.

Alle Bürger des demokratischen EU-Staatenverbundes sollten sich über ihre Partnerländer informieren und auch Position beziehen. Dies klingt leicht, ist es aber keineswegs. Denn wir europäisch engagierten Bürger sind beim besten Willen keine Spezialisten zur Beurteilung politischer Vorgänge in Ungarn. Es geht also um eine Methodik für eine Reise ins Unbekannte.

Wenn wir uns also den Konflikten zwischen Regierung und den Oppositionellen in Ungarn nähern wollen, sind Bescheidenheit, angemessener Informationsversuch und zurückhaltendes Urteil geboten.

Aus dieser Einstellung des Respekts gegenüber den Denkweisen und politischen Positionen der Bürger im Partnerland Ungarn mag ein erster Grundsatz folgen: Wir blicken nicht auf Ungarn und seine Menschen aus der Perspektive unserer deutschen politischen Bindungen. Wer sein Urteil über Ungarn und seine Bürger abhängig davon macht, ob ihm die gewählte Regierung aus parteipolitischen Überzeugungen heraus gefällt oder nicht, hat die Europäische Union nicht verstanden: Einheit in Vielfalt.

Der zweite Grundsatz für den Blick auf Ungarn ist daher aus objektiven Kriterien herzuleiten: Die Kopenhagener Kriterien, die Voraussetzung für den Beitritt zur Europäischen Union sind, bieten sich an.

Dabei kommt dem „politischen Kriterium“ entscheidende Bedeutung zu; denn ist nicht zumindest dies erfüllt, können Verhandlungen über den Beitritt eines Landes zur EU gar nicht erst aufgenommen werden. „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muß der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben.“ Wer diesen Maßstab nicht erfüllt, gehört nicht in die demokratische Europäische Union. Dieser Vorgabe sollten sich erst recht die Mitglieder der EU unterwerfen.

Würde das politische Kopenhagener Kriterium durch die ungarische Regierung verletzt, wäre ein dritter Grundsatz für die Haltung gegenüber der Regierung Orbán: „Es ist legitim, dass die EU Druck auf Ungarn ausübt. Dieser Druck kann nicht im Namen des nationalen Selbstbestimmungsrechts abgewehrt werden: Wer Mitglied eines Klubs von Demokratien sein will, muss sich an allseits geteilte Mindeststandards von Demokratie halten.“ (Professor Jan-Werner Müller; zit. nach bpb-eurotopics, Europäische Presseschau, NZZ, 03.01.2012).

In welcher Weise und wie schwerwiegend hat nun die Regierung Orbán gegen demokratische Prinzipien verstoßen? Hier liegt ein vierter Grundsatz nahe: Dies sollten zunächst Bürger Ungarns bewerten. Dazu finden sich unterschiedliche Stellungnahmen.

Die Philosophin Ágnes Heller kritisiert die mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament durchgesetzte neue Verfassung: „Alle sind gegen die Verfassung, und alle sind gegen die Regierung, also gegen Fidesz. Man tritt ein für Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Demokratie, die von der neuen Verfassung beschnitten werden. Und für die Menschenrechte, die ebenso mit der neuen Verfassung nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Abgesehen davon, dass diese Verfassung den lächerlichen Versuch unternimmt, eine bestimmte Version der ungarischen Geschichte grundgesetzlich festzuschreiben. Schon ein Lehrer, der eine andere Version vorträgt, käme mit ihr in Konflikt.“ (FAZ, 04.01.2012).

Eine weitere Sichtweise vermittelt die österreichische Zeitung „derStandard“ vom 05.01.2012. Frau Teresa Eder befragt den ungarischen Politikwissenschaftler Professor Zoltán Kiszelly:

derStandard.at: International wird mit großer Sorge nach Ungarn geblickt. Kommentatoren sprechen davon, dass in Ungarn ein autoritäres Regime implementiert wird. Können Sie diese Ängste teilen?

Kiszelly: So schlimm ist es bei weitem nicht. Es findet eine ungewöhnliche Zentralisierung und Machtkonzentration in Händen der Regierung statt, um eine vermeintliche aufholende Modernisierung über die Bühne zu bringen. Die Regierung hat nur vier Jahre Zeit, deshalb diktiert sie ein so schnelles Tempo. Dort, wo sie auf starken gesellschaftlichen Protest im Inland stößt, nimmt sie Maßnahmen zurück. Kritik aus dem Ausland wird in Ungarn traditionell nicht ernst genommen. Ich nehme aber an, dass Fidesz – wie 2002 – die Macht nach einer verlorenen Wahl 2014 abgeben wird.

derStandard.at: Schwindet das Vertrauen der Ungarn in die Partei durch die starke Änderung der Verfassung?

Kiszelly: Nein, nicht aufgrund der neuen Verfassungsgesetze. Fidesz gräbt sich eine Grube mit der derzeitigen Wirtschaftspolitik.

Diese durchaus unterschiedlich nuancierenden Stimmen ungarischer Bürger führen

zum fünften Grundsatz, wie europäische Staatsbürger mit der Verfassungs-Kontroverse in Ungarn umgehen könnten.

Auf die Frage Frau Eders, ob Sanktionen der EU denkbar wären, antwortet Herr Kiszelly: „Ich denke nicht. Die EU hat beschränkte Handlungsmöglichkeiten. Es wird sehr schwierig sein, gegen die Verfassung vorzugehen. Die Grundrechtecharta der EU nennt zwar die Vorgaben, aber einen Satz darunter steht auch, dass die konkrete Verwirklichung in Gesetzen immer den Mitgliedstaaten überlassen bleibt.“

Frau Professor Heller sagt dazu, „dass Ungarn sich selbst aus diesem Schlamassel herausziehen sollte.“

Beide ungarischen Wissenschaftler eint sicher die Überzeugung, dass es „im Selbstinteresse der EU (liegt), dieser fatalen ungarischen Entwicklung ein Ende zu setzen.“ (Ágnes Heller). Professor Kiszelly betont: „Politischer Druck wird die Situation in Ungarn nicht ändern, nur wirtschaftlicher Druck.“

Als Bürger Europas sollten wir also befürworten, wenn politische Verhandlungen mit der Regierung Orbán durch „wirtschaftlichen Druck“ flankiert werden. Dies gebietet europäische Solidarität mit den ungarischen Bürgern, die für demokratische Werte und Gesetze kämpfen.

Allen Einrichtungen, die der demokratischen Opposition Ungarns in dieser schweren Zeit beistehen, vor allem denen, die in Ungarn mit ihren Partnern arbeiten, gebührt besonderer Dank und Anerkennung.