2016 — vom Krähennest.

Politiker und Seefahrer verwenden gelegentlich gemeinsame Sprach-Bilder. Kurs bestimmen und halten. In Krisen, Unsicherheit, rauer See und unbekannten Gewässern: navigieren auf Sicht mit Kompass und Ausguck vom Krähennest.

Aus der Hafenstadt Hamburg und sehr passend aus der Mastkorb-Perspektive informiert „Spiegel Online“, was in Deutschland „2016 politisch wirklich wichtig“ wird. *1)

Auf den Plätzen 1 bzw. 3 der Liste von sechs Themen stehen die Fragen zur Führung unseres Staates durch Bundespräsident bzw. Bundeskanzler. Eine zweite Amtszeit unseres Staatsoberhauptes Joachim Gauck wünschend, wird Frage 1 hier nur am Schluss gestreift.

Die wohl bereits „gesetzte“ Bundeskanzlerin Merkel wird derzeit wegen ihrer wetterwendischen „Willkommenspolitik“ gegenüber der „Völkerwanderung“ Richtung Deutschland zwar kritisch beobachtet. Aber die eigentlich wichtige Kanzlerfrage laute, so der SPIEGEL: „Fordert Gabriel Merkel heraus?“ Die Antwort bleibt Frage: „Will Gabriel überhaupt?“ *1)

Umfragen „Wer soll SPD-Kanzlerkandidat werden?“ nähren solche Zweifel. Infratest Dimap hat Anfang Dezember 2015 bei berufstätigen und wahlberechtigten Bürgern erhoben: Vizekanzler und SPD-Vorsitzender Gabriel erreicht 17 Prozent Zustimmung, während Außenminister Steinmeier 44 Prozent genießt. *1)

BILD zitiert eine Forsa-Umfrage unter „SPD-Anhängern“: Könnten diese den Bundeskanzler direkt wählen, stimmten 32 Prozent für die CDU-Vorsitzende Merkel. „Nur 43 Prozent würden sich für ihren eigenen Partei-Chef entscheiden.“ *2)

Und in BILD am Sonntag (BamS) leistet sich Finanzminister Schäuble eine ganz besondere Härte gegen seinen Kabinettskollegen Vizekanzler Gabriel: „Als SPD-Vorsitzender hat er mein vollstes Mitleid, weil er Vorsitzender einer innerlich gespaltenen Partei ist.“ *3)

BILD sieht diese Situation Sigmar Gabriels mit Recht als Ergebnis einer Abfolge von „Tiefschlägen“. *2) Erinnern wir, dass der große Staatsmann und Sozialdemokrat Helmut Schmidt die Politik einmal als „Kampfsport“ beschrieben hatte. Dann können die „Tiefschläge“ gegen Gabriel als eine Regelverletzung bewertet werden, die für Führungspositionen in der SPD disqualifiziert. Gerade liberale Sozialdemokraten, die den Kurs Gabriels unterstützen, der auf dem SPD-Bundesparteitag vom 10. – 12. Dezember 2015 hart umkämpft war, mögen so urteilen.

Sicherheitspolitische Vorratsdatenspeicherung gegen Terror und Organisierte Kriminalität, ISIS militärisch vernichten, wirtschaftsfreundliche Politik für Wachstum und Beschäftigung, Absage an eigentums- und leistungsfeindliche Steuerpläne, Werbung für die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP — dies sind politische Landmarken, mit denen Sigmar Gabriel Führungskraft gegen linken Widerstand beweist.

Diesen politischen Weg wird der SPD-Vorsitzende mit einem langen Atem gehen müssen, denn die unberechenbare SPD ist seine Achillesferse. Schließlich hat der politische Kurswechsel dem SPD-Vorsitzenden die Wiederwahl mit gerade 74 Prozent eingebrockt — ein „Tiefschlag“ (BILD).

Wird Gabriel seinen durch den Bundesparteitag 2015 legitimierten Anspruch auf die Partei- und auf eine kommende Regierungsführung unmissverständlich klarstellen? Wird das SPD-Führungspersonal den Kurswechsel „Zurück zur arbeitenden Mitte“ an der Seite Gabriels durchkämpfen? Das erwarten viele SPD-Mitglieder, die dem Eintritt in die Regierung der Großen Koalition (GroKo) mit großer Mehrheit zugestimmt haben.

DIE WELT analysiert, was „die SPD tun muss, um Kanzlerpartei zu werden“. *4) Mit solchen Analysen ist ein offensichtlich bestens informierter Journalist, Herr Torsten Krauel, hervorgetreten.

Im März 2015 schreibt Krauel *5): „Die SPD aber möchte erkennbar nicht mehr die Nummer eins sein. Ihr fehlt der unbedingte Wille zum Kanzleramt, zur Richtlinienkompetenz, zur Mehrheitspartei. Sie tritt nur noch als Mehrheitsbeschafferin in Erscheinung …“.

Keine vier Wochen später heißt es bei Krauel *4): „Der SPD-Chef Gabriel überzeugt nicht … Steinmeier hingegen hat nicht ohne Grund in der Beliebtheit mit Angela Merkel gleichgezogen. Heute gehört zu seinem Persönlichkeitsbild, dass er … in einer gefährlichen Weltlage als Außenminister Ruhe ausstrahlt, ohne sich gegen Merkel profilieren zu wollen … Er macht seine Arbeit.“ „Seine“ Arbeit!

Entweder unbedingter Wille zum Kanzleramt oder arbeitsame Ruhe ausstrahlende Beliebtheit — wodurch überzeugt ein Parteivorsitzender der SPD?

Hätte nicht Gerhard Schröder auf solche Frage mit homerischem Gelächter geantwortet? In jener schon legendären nächtlichen Stunde im Herbst 1982, als er gegen das Tor des Kanzleramtes in Bonn stieß und brüllte: „Ich will hier rein!“ In jener Zeit, als Bundeskanzler Helmut Schmidt sein Amt an Helmut Kohl verlor. Nicht zuletzt durch das machtpolitische Rebellentum der Generation Gerhard Schröder.

Ein vermeintlicher Widerspruch zwischen den beiden zitierten Artikeln Krauels, die im übrigen hohe analytische Qualität auszeichnet, ist hier nicht weiter zu erörtern. Zumal das Urteil Krauels über die SPD, das er im Frühjahr 2015 fällte, überzeugend begründet ist.

Hochrangiges Führungspersonal der SPD selbst bestätigte seinerzeit Krauels Skepsis gegen die Sozialdemokratie und Sigmar Gabriel. Ausgerechnet ein Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Axel Schäfer, hatte sich für Martin Schulz, den Präsidenten des EU-Parlaments, als Kanzlerkandidat ausgesprochen: „Wer einen Europawahlkampf so gut meistert wie Martin Schulz, ist auch prädestiniert für die führende Rolle in einem Bundestagswahlkampf.“ *6) Ein „Tiefschlag“ gegen den SPD-Vorsitzenden und Vizekanzler Gabriel, von dem Schäfer überdies erwarte, „die Entscheidung darüber ´Anfang 2017`zu treffen.“ *6)

Die SPD widmete sich wieder einmal ihrer bevorzugten Aktivität — Beschäftigung mit sich selbst. Zur Freude der Presse ließen die meistdiskutierten Kanzler-„Kandidaten“, Steinmeier und Schulz, dieser Debatte über Wochen ihren Lauf. Steinmeier, wohl Favorit der WELT, wenn man dem Journalisten Krauel folgt, „tut das einzig Richtige. Er schweigt dazu.“ *4)

Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz könnte triftige Gründe haben, die SPD-Kanzler-Debatte für eigene Zwecke zu nutzen: Nach einer Vereinbarung zwischen den beiden größten Fraktionen im EU-Parlament — Europäische Volkspartei (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) — muss Martin Schulz zur Halbzeit der Legislaturperiode Mitte Januar 2017 „sein Amt aufgeben und die Präsidentschaft einem EVP-Politiker überlassen.“ *7)

Was dann? Schon fordern die Sozialdemokraten im EU-Parlament über den italienischen S&D-Fraktionsvorsitzenden Gianni Pittella den Bruch der interfraktionellen Vereinbarung: Schulz sei „der ´beste Präsident`, den das Parlament ´je gehabt` habe. Deshalb solle er noch weitere zweieinhalb Jahre Parlamentspräsident bleiben.“ *7)

Und weil diese Forderung Pittellas eher belangloses Gerede bleiben wird — Martin Schulz als Kanzlerkandidat der SPD? Weil andere politische Schwergewichte der SPD nicht wollen oder den Willen nicht zeigen? *8)

Es könnte sich als schwerer Fehler der SPD-Führung erweisen, dass sie dieser öffentlichen Debatte und damit einer Abdrift von Kurs und Kapitän Vorschub leistet, ihr nicht durch sofortige Klarstellung begegnet.

Martin Schulz kommt schon deshalb nicht für eine Kandidatur als möglicher Regierungschef Deutschlands in Frage, weil ihm die unerläßliche Erfahrung in führenden landes- und bundespolitischen Positionen der Bundesrepublik fehlt. Treffend vermerkt der Journalist Torsten Krauel: Martin Schulz sei als EU-Politiker „für deutsche Wähler ein Mann aus dem Ausland … und eine Partei, die sich auf einen solchen Kandidaten einlässt, verstärkt nur das Empfinden, sie sei ratlos.“ *4)

Viele Staatsbürger würden ein Ende des unwürdigen Schachers um angesehenes politisches Führungspersonal begrüßen.

Als Kanzlerkandidat der Sozialdemokratie: Wer denn sonst als der amtierende Vizekanzler und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel? Wie sollte denn ein Verzicht Gabriels auf Führung des SPD-Regierungteams begründet werden? Ausgerechnet dann, wenn es bei der Bundestagswahl 2017 um die Leistungsbilanz und um die Regierungsmacht geht? MdB Axel Schäfer mag ja verrückt sein, aber doch nicht die gesamte SPD-Spitze!

Manchen Sozialliberalen mag die Vorstellung erheitern, Sigmar Gabriel könnte die politische Strategie anwenden, mit der Oppositionsführer Helmut Kohl 1980 den Rivalen Franz-Josef Strauß aus der Bundespolitik nach Bayern verabschiedete: Mache den deiner Machtpolitik lästigsten Quertreiber zum Kanzlerkandidaten, damit der sich selbst erledigt. Diese Methode würde sicher bei Ralf Stegner als SPD-Kanzler-Kandidat verfangen.

Mit maximal 19 Prozent für die Stegner-SPD wären dann Gabriel, seine Partei, liberale Sozialdemokraten und die wirtschaftlich besorgte Wählermitte von linksgewirkten Drohungen Stegners und seiner Anhänger befreit. Nur — Strauß hatte damals sowohl den Durchblick, Kohl zu durchschauen, als auch den Mut, sich trotzdem auf das Wagnis der Kanzlerkandidatur einzulassen. Letzteres wäre bei Stegner nicht anzunehmen. Soviel zur Kanzlerfrage.

Die politische Vorausschau des SPIEGEL für 2016 hatte auf den Platz 1 der wichtigen Entscheidungen die etwas befremdlich formulierte Frage gesetzt: „Tritt Gauck erneut an?“ Sicher wird Bundespräsident Joachim Gauck den Bürgern Deutschlands, bei denen er allerhöchste Achtung genießt, seine Absicht dann darlegen, wenn er es für angemessen hält.

Die Frage nach einem künftigen Nachfolger für unseren Bundespräsidenten Gauck sollte derzeit nicht von politisch Verantwortlichen thematisiert werden, vielmehr sollten sie unserem Staatsoberhaupt die Wiederwahl antragen. Sicher würde eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland eine zweite Amtszeit des in diesen Krisenjahren erprobten Bundespräsidenten Gauck begrüßen.

Wie immer sich Bundespräsident Gauck entscheidet — in einer Zukunftsperspektive mit weitem Blick aus hohem „Krähennest“ könnte ein Kandidat für unser höchstes Staatsamt in Sicht kommen.

Die noch ungelösten Krisen der letzten Jahre haben in ihrer Häufung „eine ernsthafte Gefahr, dass die EU zerfallen kann“, bewirkt. *9) Diese Warnung des deutschen EU-Komissars Günther Oettinger wird von maßgeblichen Europapolitikern und Experten geteilt.

Gerade Bundespräsident Gauck hatte in seiner „Rede zu Perspektiven der europäischen Idee“ *10) heutige Probleme der EU vorausgesehen und Deutschlands Position für uns und unsere europäischen Nachbarn geklärt. Unser Staatsoberhaupt betonte: Es „macht mir Sorge, wenn die Rolle Deutschlands im europäischen Prozess augenblicklich bei einigen Ländern Skepsis und Misstrauen auslöst … Aus tiefer innerer Überzeugung kann ich sagen: Mehr Europa heißt in Deutschland nicht: deutsches Europa. Mehr Europa heißt für uns: europäisches Deutschland!“ *10)

Dieses „europäische Deutschland“ könnte eines Tages überzeugend vertreten werden durch Martin Schulz. Für sein Amtsverständnis als Präsident des EU-Parlamentes wurde Martin Schulz 2015 der „Internationale Karlspreis zu Aachen“ verliehen: „Martin Schulz stärkt die repräsentative Demokratie, nimmt die Anliegen der europäischen Bürger ernst und stärkt so die Identifikation der Bevölkerung mit Europa.“ *11)

Gibt es eine bessere Empfehlung für höchste repräsentative Aufgaben und als Hüter der Verfassung eines „europäischen Deutschlands“?

Mit bestem Dank an „Spiegel Online“ für sein anregendes Meisterstück politischer Vorausschau schließt der Blick vom Krähennest.

*1) Deutschland: Das wird 2016 politisch wirklich wichtig. Von Christina Hebel und Vera Kämper; 30. Dezember 2015, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/. Ein zweiter Teil dieser „Jahresvorschau“ thematisiert: „Was die Welt 2016 bewegt.“

*2) Neuer Tiefschlag für Gabriel. 32 Prozent der SPD-Anhänger würden für Merkel stimmen; bild.de, 22.12.2015.

*3) „Ich hoffe, 2016 wird ein gutes Jahr“. Im Interview mit der Bild am Sonntag vom 27. Dezember 2015 spricht der Bundesfinanzminister …; www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Interviews/2015/2015-12-28-bams.html?view=renderPrint.

RS: Immerhin sollte diese Aussage Schäubles im Kontext der Interview-Frage bewertet werden. „BamS: SPD-Chef Gabriel hat Ihnen mit Ihrer Euro-Sparpolitik die Schuld am Erstarken des Front National in Frankreich gegeben…“

*4) Bundestagswahl. Was die SPD tun muss, um Kanzlerpartei zu werden. Von Torsten Krauel. 09.04.2015; http://www.welt.de/139240066. (Hervorhebung RS).

*5) Warum die SPD in ihrem 25-Prozent-Turm gefangen ist. Von Torsten Krauel. 11.03.2015; http://www.welt.de/138268097. (Hervorhebung RS).

*6) Wahlkampf. SPD-Fraktionsvize für Martin Schulz als Kanzlerkandidat, 03. April 2015; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-fraktionsvize-fuer-martin-schulz-als-kanzlerkandidat-a-1026981.html.

*7) Sozialdemokraten wollen verlängerte Amtszeit für Schulz. 27. Dezember 2015; derstandard.at/2000028135678/.

*8) Vgl.: Geheime SPD-Diskussion. Wird Martin Schulz Kanzlerkandidat? Von Rolf Kleine; 31.03.2015, bild.de.

*9) EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) hat vor einem Zerfall der Europäischen Union gewarnt.

DTS-Meldung vom 30.12.2015.

*10) Bundespräsident Joachim Gauck, Rede zu Perspektiven der europäischen Idee, Schloss Bellevue, 22. Februar 2013, „Europa: Vertrauen erneuern – Verbindlichkeit stärken“; http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/02/130222-Europa.html.

*11) http://www.karlspreis.de/de/preistraeger/martin-schulz-2015/begruendung-des-direktoriums.