C. N. Parkinson lebt.

„Mecker-Beck“ platzt der Kragen, beschreibt BILD am 4. Oktober den „Frust-Talk“ bei Maybrit Illner. Der Staat platzt aus allen Nähten – darum ging es in Wirklichkeit.

Denn die Mitte der Wähler hat die „Endlosschleife“ (Wolfgang Bosbach) von Rot-Grün gestoppt: Mehr Staat, mehr Steuern für Infrastruktur, Bildung, Kommunen, Familien, Schuldenabbau.

Dieser Interpretation des Wahlergebnisses hat sich Kurt Beck widersetzt – etwas vehement und reichlich unfair im Umgang mit Herrn Holznagel, Bund der Steuerzahler, und Herrn Bosbach, CDU-MdB. Herr Bosbach zeigte sich ohne Frust. Er hat seinen Wahlkreis 101, Rheinisch-Bergischer Kreis, mit 59 % vor dem SPD-Kandidaten (25%) gewonnen.

Bosbach fordert: Wir hatten nie höhere Steuereinnahmen. Der Staat muss einmal lernen, mit seinen Einnahmen auszukommen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Beck dagegen: Der Staat ist unterfinanziert. Dazu BILD: „Beck und Bosbach führen eine Art Mini-Sondierungsgespräch vor laufenden Kameras.“

Hätte BILD mit diesem Eindruck Recht – so unvereinbar schienen Bosbachs und Becks Positionen – könnten Neuwahlen kommen. Für diesen Fall warnt der Sozialdemokrat Heiko Maas, stellvertretender Ministerpräsident des Saarlandes, in einem TV-Kommentar: „Dann könnte sich die SPD sparen, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.“

Im Unterschied zu Herrn „Mecker-Beck“ (BILD) beschwört Sigmar Gabriel jetzt „Stil und Form“. Und verspricht für die Sondierungsgespräche: „Erwachsene wissen, wie man miteinander umgeht“. Damit besteht Hoffnung, dass es zu einer handlungsfähigen Großen Koalition kommen kann. Und wenn Herr Gabriel es „lustig findet“, dass seine „Seriosität gelobt wird“ (von Horst Seehofer!), dann sollten Sozialdemokraten von „Frust“ (s.o.) auf Humor schalten.

Damit kommen wir zum stärksten Argument für eine großen Koalition. Bleiben wir ein wenig beim Humor, den Politik und auch Bürger benötigen, wenn wir unseren Beitrag zu dem leisten müssen, was jetzt notwendig wird. Damit die bequeme „Endlosschleife“ ständig wachsender Staatsaufgaben, Staatsausgaben, Steuern und Schulden für „Bildung, Infrastruktur, Kommunen, etc. etc.“ beendet wird.

Schluss mit den Gewohnheiten wie beim Schlachter: „Darf es ein bisschen mehr sein?“ Nein, jetzt sollte es heißen: „Wiegen Sie bitte genau ab.“ Endlich Prioritäten setzen: Was ist wichtig und was wird mal gestrichen. Wenn ein Minister Mehrausgaben fordert, hat er Minderausgaben in mindestens gleicher Höhe in seinem Ressort zu garantieren. Mehr für Bildung und Forschung? Unbedingt! Dann aber Rückführung des verteilungspolitisch völlig intransparenten Sozialaufwands und von Subventionen an diese und jene Sektoren oder Regionen. Ist solcher Wandel der Mentalitäten zu schaffen? Diesen Wandel herbeizuführen, wäre Aufgabe und die einzige Rechtfertigung für eine große Koalition.

Vor 20 Jahren verstarb Cyril Northcote Parkinson. Er beschrieb einige Mechanismen, die auch uns Deutsche von knapp 33 % (1960) auf mehr als 45 % (2013) Staatsquote brachten. *2)

C. N. Parkinson lebt! Er hat der Menschheit sein Gesetz hinterlassen. Uns allen, die je im Umfeld des öffentlichen „Dienstes“ ihr Brot verdienten, zu fast täglicher Heiterkeit verholfen. Vor allem, wenn wir aus seiner Perspektive auf die „Vorgänge“ nicht nur im Eingangs-, sondern auch im Ausgangskorb blickten.

Erinnern wir seine zentralen Beobachtungen *3):

1) Arbeitszeit im Öffentlichen Dienst hat nicht immer mit Arbeit oder Resultaten zu tun, aber immer wird sie ausgeschöpft. 2) Jeder Mitarbeiter will „Untergebene“, aber keine „kritischen“ Kollegen oder gar Konkurrenten. 3) Über den „Dienstweg“ machen sich alle Mitarbeiter gegenseitig „Arbeit“. 4) Um den „Arbeitsfrieden“ in Behörden zu gewährleisten, sorgen „Gedönsräte“, Gewerkschaftler und die Behördenleiter dafür, dass im Ergebnis die Zahl der Bürokraten mit fester Zuwachsrate steigt.

Parkinsons zum Teil satirische Analysen von Staats- und auch Industriebürokratien haben Ende der 1950er Jahre große Aufmerksamkeit erfahren. Im SPIEGEL-Artikel aus jener Zeit *3) findet sich auch ein Plädoyer für die Bürokraten: „Keine Gruppe von Leuten … besitzt ein Monopol auf menschliche Dummheit.“

Ende des 19. Jahrhunderts hatte bereits der deutsche Finanzwissenschaftler Adolf Wagner das nach ihm benannte „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen, insbesondere der Staatstätigkeiten“ formuliert: Mit „dem Fortschritt der Kultur (ist) regelmäßig eine Ausdehnung der Staatstätigkeiten (und der gesamten öffentlichen durch die Selbstverwaltungskörperschaften neben dem Staat ausgeführten Tätigkeiten) verbunden, folglich nehmen auch die Staatsausgaben absolut und relativ zu.“ *4)

Professor Brümmerhoff fasst den empirischen Befund für den Zeitraum 1821 – 1981 zusammen: Für die Staatsausgabenquote „ergibt sich ein langfristiger Anstieg, der aber durchaus nicht kontinuierlich verlief … Berücksichtigt man (die Sozialversicherungen) so fallen die Ausgaben- und Steuerquoten gerade in den beiden letzten Jahrzehnten (1961 – 1981, RS) erheblich höher aus.“ (A.a.O. S. 184f.).

Für den Zeitraum 1960 – 1985 verzeichnet Brümmerhof einen Anstieg der Ausgabenquote von 33 % über 50 % (1983) auf 47 %. Da die Einnahmenquote langsamer wuchs, hat die staatliche Verschuldung entsprechend zugenommen. Der Anteil der Erwerbstätigen beim Staat (in Prozent aller Erwerbstätigen) verdoppelte sich von 8 % (1960) auf 16,1 % (1985). *4)

Parkinson lebt, mag man beim Rückblick auf diese Entwicklung denken. Doch wie sind die Befunde staatlicher Expansion gegenüber der Privatwirtschaft zu erklären?

Entwickelt sich auch die Marktwirtschaft zwangsläufig auf zunehmend planwirtschaftliche Staatswirtschaft hin, wie es Professor Jan Tinbergen, der holländische Nobelpreisträger, in seiner „Konvergenztheorie“ der Wirtschaftssysteme unterstellte? Damit hatte der Sozialdemokrat und überragende Pionier der Messung wirtschaftlicher Zusammenhänge (Ökonometrie) in den 1960er Jahren immensen Einfluss auf progressives Gedankengut.

Die Ergebnisse finanzwissenschaftlicher Forschung scheinen keine eindeutige Antwort zu liefern.

Der amerikanische Nestor der modernen Finanzwissenschaft, Richard A. Musgrave, behandelt zwei Faktoren, die zur Erklärung steigender Staats-Quoten beitragen. *5) Seine Analyse sei stark vereinfachend zusammengefasst.

Zunächst setzt Musgrave bei Tendenzen des politischen Systems an.

Da die Zahl der Wähler kleiner sei als die Zahl der Steuerzahler, bestehe ein starker Anreiz, spezielle Interessen auf Kosten der steuerzahlenden Allgemeinheit durchzusetzen. Wir beobachten auch in Deutschland deshalb immer wieder, dass linke, auf mehr Steuern erpichte Politiker ständig das Wort „für das Gemeinwohl“ im Munde führen.

Diese Tendenz können Bündnisse von Parteien mit Segmenten der staatlichen Bürokratie und gesellschaftlichen Gruppen fördern: von Unternehmen (z.B. Verteidigungsministerium), Gewerkschaften (Arbeitsministerium) bis hin zu Wohlfahrtsverbänden und Kirchen. Letztere sind wegen der Kirchensteuer-Erhebung besonders interessiert, dass die Lohn- und Einkommensteuer „für das Gemeinwohl“ zunimmt.

Wirtschaftliche Bestimmungsgründe steigender Staatsquote wirken dadurch, dass mit wachsenden Einkommen der Familien zunehmend Güter jenseits der Grundbedürfnisse nachgefragt werden. Dies ist das ehrwürdige Engelsche Gesetz, das der Statistiker Ernst Engel im 19. Jahrhundert empirisch nachwies; es hält bis heute.

Gehobene Ansprüche an Wohn- oder Transportqualität, Kinderbetreuung, Bildung, Gesundheitsdienste, an das Wohnumfeld in Stadt und Land können staatliche Aufgaben und Ausgabenquoten expandieren lassen.

Auch der technische Fortschritt, den höherer Einsatz modernen Sachkapitals begleitet, kann staatliche Investitionen in zivilen wie militärischen Aufgabenfeldern und Projekten verteuern.

Diese Faktoren führen auch zu steigenden Anforderungen an die Qualifikation des Öffentlichen Dienstes. Und dessen „professionelles“ Selbstbild treibt mit den dort i.d.R. besonders gut organisierten Gewerkschaften die Kosten der „Bürokratie“.

Musgrave scheint allerdings zurückhaltend, eine eindeutige Prognose über das kommende langfristige Wachstum der staatlichen Ausgabenquote zu wagen. Dazu erscheinen ihm wohl die Zusammenhänge und Ursachen der analysierten Entwicklung zu komplex.

Für den in Deutschland überwiegend sozialdemokratisch geprägten Zeitraum 1960 bis 1982 nennt uns Musgrave die Maßgröße der „Einkommenselastizität staatlicher Ausgaben“. Sie gibt an, um wieviel Prozent die öffentlichen Ausgaben steigen, wenn sich die jährliche Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) um 1 % erhöht. *6)

Die Ausgabenelastizitäten für Deutschland (+ 1,25 %), für Schweden (+1,35 %) und für die USA (+ 1,13 %) illustrieren für den Untersuchungszeitraum 1960 bis 1982 die sozialdemokratische Vorliebe für mehr Staat, mehr Steuern, auch durch „kalte Progression“, mehr Schulden, mehr „Gemeinwohl“. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück gehört zu den ersten Sozialdemokraten, die sich dieser Tendenz entgegen stemmten. Das hat seine Parteibasis ihm nicht vergessen. Aber sozialliberale Bürger danken ihm.

Ich folge auch heute noch dem Fazit, das Professor Konrad Littmann, unvergessener Forscher, Lehrer, Finanzwissenschaftler an der Universität Hamburg, 1977 formulierte.

Aus Littmanns Sicht ist es „verfehlt, von einer Zwangsläufigkeit der relativen Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit zu sprechen. Ob und gegebenenfalls wie lange sich die Entwicklungen der Vergangenheit in Zukunft fortsetzen werden oder ob die Staatsquote bereits einen maximalen Wert erreicht hat, von dem aus eher rückläufige Prozesse zu erwarten sind, entzieht sich immer noch dem wissenschaftlichen Urteil.“ *7)

Für Littmanns Skepsis gegenüber dem „Wagnerschen Gesetz“ sprechen die Fakten: 1977 hat die deutsche Staatsquote bei etwa 48 % gelegen, 2013 wird sie auf 45.4 % geschätzt. Zwischendurch erreichte sie in den Jahren deutsch-deutschen Zusammenwachsens 54,9 % (1995). *8)

Sozialliberale Bürger oder Ökonomen mögen für die von Littmann angedeuteten „rückläufigen Prozesse“ eintreten, wenn die Staatsqote deutlich über 40 % steigt. Einem drohenden Übergewicht des öffentlichen Sektors gegenüber der Privatwirtschaft und der privaten Zivilgesellschaft sollte rechtzeitig begegnet werden. Die deutschen oder europäischen Maßzahlen zu Staats- und Abgabenquoten würden wohl in den USA als Indikatoren eines Zustandes nahe der „Sklaverei“ empfunden.

Von einer Großen Koalition erwarten die Bürger, dass Deutschland – sein Staat, seine Wirtschaft und seine Gesellschaft – für die Zukunftsaufgaben in Europa und der Welt vorbereitet wird. Durch einen handlungsfähigen, produktiven, nicht unbedingt riesigen Staat, der 1995 bereits mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung beansprucht hat.

Auch wenn Elke Ferner, MdB, eine ebenso ehrenwerte, wie traditionellem Denken verhaftete Sozialdemokratin, die Bemühungen der SPD-Sondierungskommission mit den Worten begleitet: „Ich kriege Pickel im Gesicht, wenn ich Schwarz-Rot höre.“ Dabei kriege ich auch Pickel im Gesicht, aber nicht, weil ich Schwarz-Rot höre.

Sozialliberale Politik-Fans sollten nun die Sondierungsgespräche und die kommende Koalitionsverhandlung genau beobachten. Und die Stimme deutlich erheben, wenn sich der Satz Wolfgang Bosbachs bestätigt, der unsere abgebrühten Seelen beim Illner-Talk so erfreut hat: „Verhandlungen umfassen Sachfragen und Personalfragen. Die wichtigste Sachfrage für den Politiker ist: Wo bleibe ich?“

*1) FRUST-TALK BEI MAYBRIT ILLNER ZUM THEMA GROSSE KOALITION, „Mecker-Beck“ platzt der Kragen, bild.de, 04.10.2013.

*2) Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht, 20.07.2012, Tab. 10, Entwicklung der Staatsquote: Gesamtausgaben (Gebietskörperschaften, v.a. Bund, Länder, Gemeinden, und Sozialversicherung) des Staates in Relation zur jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) in Prozent. Siehe dort zur genauen Abgrenzung im Detail.

*3) Vgl. dazu: Der Behörden-Darwin, 04.06.1958, spiegel.de; Das Gesetz der Bürokratie, 02.01.1959, zeit.de.; Theodor Pütz, Wirtschaftliche Entwicklung und zunehmende Staatstätigkeit, Eröffnungsvortrag, gehalten auf der Tagung der Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft für Oberösterreich in Bad Ischl am 17.9.1959.

*4) Dieter Brümmerhoff, Finanzwissenschaft, 4. Auflage, München, Wien, 1989. 2012 wird der „Anteil der Staatsbediensteten an der Gesamtzahl der Beschäftigten“ für Deutschland mit 13,6 % angegeben. Diese Statistik – sehen wir von der Vergleichbarkeit mit den Angaben zu den „Erwerbstätigen“ ab – legt nahe, dass sich der Anteil der „Erwerbstätigen beim Staat“ gegenüber 1985 deutlich verringert hat. (Quelle: de.statista.com/ nach OECD).

*5) Richard A. Musgrave, Peggy B. Musgrave, Public Finance in Theory and Practice, Fifth Edition, New York … Hamburg … Tokyo, Toronto, 1989. Vgl. S. 96 – 129.

*6) Richard Musgrave, a.a.O., S. 121, Table 8-4: Expenditure Growth in OECD Countries.

*7) Konrad Littmann 1977; zitiert nach: *4) S. 196.

*8) Vgl. *2) Monatsbericht 20.09.2013, Tabelle 19, Staatsquoten im internationalen Vergleich.