Die Wahl des Kolumbus.
„Der Europa-Wahlkampf in Deutschland ist konturlos und öde … eine unverbindlich harmonische Veranstaltung … und steht in keinem Verhältnis zu den vielen brennenden Problemen, vor denen die EU steht.“ *1)
Diese Aussage des angesehenen Sozialdemokraten Dieter Spöri wird in den Medien vielfach geteilt. Klagen über mangelnde „Inhalte“ und „Streitkultur“ im Wahlkampf sind nicht selten.
Ein in Wahlkämpfen – vor allem in erfolglosen – erfahrener Politiker wie Dieter Spöri sollte aber auch wissen, dass Wahlkämpfe besonderen Gesetzen folgen.
Machen wir es uns einfach: Die europäischen Bürger bekommen den Wahlkampf, den sie wollen, frei nach William Shakespeare: As you like it.
Die Bürger Europas sind tief besorgt gegenüber einer „binnen- wie außenpolitisch … existentiellen Krise“ (Spöri) der Europäischen Union. In der Ukraine droht Krieg, und den Menschen Europas steckt noch die Finanz- und Wirtschaftskrise in den Knochen.
Verantwortliche Politiker, die in solcher Lage nicht erkennen, dass den Bürgern eher nach Konsens der politisch maßgebenden Kräfte zumute ist als nach Konfrontation, hätten wohl ihren Beruf verfehlt. Bei allem Respekt, Herr Spöri!
Und die europapolitischen Sachfragen, die Herr Spöri benennt, – „nicht bereinigte Eurokrise, Rekordarbeitslosigkeit in Südeuropa, die Frage(n) nach Nahrungsmittelstandards oder unserer Kulturpolitik in der geplanten transatlantischen Freihandelszone (TTIP), den Grundrechten in der totalen Digitalisierung, eine Strategiediskussion über den künftigen Erweiterungskurs, die europäische Strategie in Osteuropa“ – alle diese Probleme erfordern Lösungen im europäischen Konsens. Im „maximalen Konsens“, wie Bundeskanzlerin Merkel es gelegentlich ausdrückte.
Nun mag Unzufriedenheit über den EU-Wahlkampf mit Herrn Spöri geteilt werden. Aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Sowohl Herr Juncker wie Herr Schulz erheben den Anspruch – ja, Anspruch, gestützt auf die Wahl – nach einem Sieg das Amt des Präsidenten der EU-Kommission zu erhalten. Damit soll diesen ehrenwerten, bedeutenden Europäern nicht vorgeworfen werden, dass es ihnen nur um den Posten geht. Das ist sicher bei beiden Herren nicht der Fall.
Nicht wenigen deutschen Bürgern mag die Europawahl 2014 sehr wichtig sein. Aber nicht, weil sie Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident wünschen. Sondern weil sie die Interessen unseres Landes im Europaparlament stärken wollen.
So werden auch Bürger in den anderen EU-Ländern denken. Zum Beispiel in Malta, das für je 70 Tsd. Bürger einen Abgeordneten im EU-Parlament stellt, während Deutschlands Anteil 800 Tsd. Bürgern pro deutschem MdEP entspricht.
Das besondere EU-Wahlrecht wird selbstverständlich akzeptiert. Aber gerade deshalb mögen deutsche Wähler bei der EU-Wahl wünschen, dass die Interessen Deutschlands – v.a. Stabilisierung der Eurozone, solide Staatshaushalte, Reformen für Wettbewerbsfähigkeit und Soziale Marktwirtschaft, Vollendung des EU-Binnenmarktes, erfolgreiche Verhandlung über die transatlantische Freihandelszone – im EU-Parlament gestärkt werden.
Martin Schulz, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, bereist jedoch im Wahlkampf die gesamte EU mit ihren durchaus gegensätzlichen Interessen und wirbt für seine Kandidatur als EU-Kommissionspräsident. Mit Programmaussagen, die diesem Ziel entsprechen, eben „konturlos“, wie Herr Spöri nicht zu Unrecht bemängelt hat.
Da überrascht nicht, dass die klarste Positionierung für die Interessen der deutschen Wirtschaft in Europa – Unternehmen und Arbeitnehmer – durch den liberalen Kandidaten Alexander Graf Lambsdorff vorgetragen wird.
Bürger, die in den gesamteuropäischen Spitzenkandidaturen bei der EU-Wahl einen interessenpolitischen Konstruktionsfehler sehen, werden sich durch die Grüne Franziska „Ska“ Keller bestätigt finden: „Ich bin europäische Spitzenkandidatin und konkurriere mit Herrn Juncker, Herrn Schulz, Herrn Verhofstadt und Herrn Tsipras um die Kommissionspräsidentschaft. Als solche werde ich auch wahrgenommen.“ *2)
Und bei allen diesen „Kandidaturen“ werden Bürger daran denken, dass es eine feste und wohlbegründete „Kleiderordnung“ (Lissabonvertrag) in der EU gibt: „Ernannt“ wird der Präsident der Europäischen Kommission vom Europäischen Rat, den Staats- und Regierungschefs der EU-Länder, wobei das Ergebnis der Europawahl zu berücksichtigen ist. Das Europäische Parlament stimmt der Ernennung zu oder auch nicht (http://ec.europa.eu/commission).
Nun mag dieses Verfahren auf Martin Schulz zulaufen. Dies werden Bürger hoffen, die folgende Aussagen des Kandidaten Martin Schulz begrüßen: *3)
„Ich trete als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokratie an, weil ich Europa reformieren will.
Europa ist in einem schlechten Zustand, es ist deformiert und muss deshalb vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Wenn es also gelingt, dass der neue Kommissionspräsident aus einer öffentlichen Wahl hervorgeht und er seine Legitimation vor allem aus einer Mehrheit im Europaparlament erlangt, dann ist das eine demokratische Zeitenwende in Europa.
Dann bewegen wir uns mehr und mehr in Richtung eines europäischen Parlamentarismus und eines transnationalen Gewaltenteilungsmodells. Damit geht es bei der kommenden Europawahl um nichts weniger, als dass wir die europäische Demokratie neu verhandeln.
Wir sollten diese Reise wagen, denn sie bietet die große Chance, ein neues, ein demokratischeres und deshalb ein besseres Europa zu finden. Natürlich wird dieser neue Prozess nicht ohne Reibung funktionieren, allein deshalb, weil mit ihm eine Neuordnung verbunden ist.“
Ob die europäischen Wähler die Reiselust unseres Spitzenkandidaten Martin Schulz in „ein besseres Europa nicht ohne Reibung“ teilen, wird sich bald zeigen.
Ich jedenfalls teile die Reiselust von Martin Schulz. Denn er denkt dabei an Christoph Kolumbus: Der „hat mich seit meiner Kindheit beeindruckt. Als ich mir vor einigen Jahren bei meinem Amtsantritt als Fraktionsvorsitzender im Europaparlament einige Kunstwerke für mein Büro ausleihen durfte, entschied ich mich auch für das Modell einer Karavelle, mit der Seefahrer vor mehr als 500 Jahren mit unbekanntem Ziel in See stachen. Denn der Weg, den wir mit der europäischen Einigung seit Jahrzehnten beschreiten, erinnert mich an einen Aufbruch mit unbekanntem Ziel.“ *3)
Auch ich denke bei diesem Wort zur Europawahl 2014, das uns Martin Schulz auf den Weg gibt, an Christoph Kolumbus. Im Sinne einer Anekdote von Willy Brandt *4), die uns Hans-Dietrich Genscher überliefert hat:
„Wer war der erste Sozialist? Kolumbus! Er fuhr los, ohne zu wissen wohin. Er kam an und wusste nicht, wo er war. Er kam zurück und wusste nicht, wo er gewesen war. Und das alles mit anderer Leute Geld.“
Europawahl 2014 – die Wahl des Kolumbus?
*1) Der Wahlkampf, der keiner ist//http://www.euractiv.de/people/dieter-spöri// ohne Datum (wohl vor etwa zwei Wochen publiziert; Reihenfolge der Aussagen Spöris leicht geändert, RS).
*2) „Wir müssen nicht in Sack und Asche gehen“. INTERVIEW | TERESA EDER, NOURA MAAN. 27. April 2014, derStandard.at.
*3) Die neue Welt in Europa. Von Martin Schulz. 31. März 2014, Frankfurter Rundschau.
*4) stern-Diskussion mit Genscher und Gabriel. Die unbekannten Seiten von Willy Brandt. 25. Oktober 2013.