Kriegsgefahr statt Weihnachtsfrieden!
„´Wachet auf`, ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne“, so das Kirchenlied zum Advent von 1599. *1) „Wie viele Weckrufe brauchen wir noch?“, warnt in dieser Adventszeit der NATO-Generalsekretär Mark Rutte.
1. Bürgerdialog durch die NATO-Führung.
Mark Rutte will in „Gesprächen von entscheidender Bedeutung“ die Menschen, die in NATO-Ländern vor allem Europas leben, vor der Gefahr durch Putins Russland warnen. In Ruttes Analyse richtet Putin Russlands Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur auf den Krieg gegen die Ukraine aus, sondern bedrohe auch den demokratischen Westen mit Krieg. *2)
Rutte eröffnet dieses Gespräch mit den folgenden wörtlich wiedergegebenen Feststellungen: *2)
- „It’s you I’m talking to. It’s your support I need. It’s your voices and actions that will determine our future security … the security situation does not look good. It’s undoubtedly the worst in my lifetime. And I suspect in yours too.
- From Brussels, it takes one day to drive to Ukraine. One day — That’s how close the Russian bombs are falling. It’s how close the Iranian drones are flying. And not very much further, the North Korean soldiers are fighting.
- Every day, this war causes more devastation and death. Every week, there are over 10.000 killed or wounded on all sides in Ukraine. Over 1 million casualties since February 2022.
- Putin is trying to wipe Ukraine off the map. He is trying to fundamentally change the security architecture that has kept Europe safe for decades. Russia is preparing for long-term confrontation. With Ukraine. And with us.“
Rutte betont, dass die NATO-Länder sich zwar verpflichtet hätten, „das Wachstum von Kapazitäten und Produktion der Verteidigungsindustrie zu steigern — „aber jetzt müssen unsere Verpflichtungen erfüllt — ich wiederhole: erfüllt — werden“. *2)
Rutte bestätigt Untersuchungen, die belegen, dass derzeit Russland und sein Verbündeter China im Ausbau der Industrie für Militärgüter unseren demokratischen Partnerländern voraus sind: „Russia and China are racing ahead. We risk lagging behind. This is very dangerous.“
Denn die NATO-Länder, vor allem in Europa, geben heute weit weniger für ihre Verteidigung aus als zur Zeit des Kalten Krieges. Damals setzten die Europäer weit mehr als 3 % ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) für ihre Verteidigung ein. „Mit solcher Einstellung sei der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen worden.“ *2)
Vor 10 Jahren (nach der russischen Besetzung der ukrainischen Krim und der getarnten Kriegführung im Osten der Ukraine) vereinbarten die NATO-Partner 2 % des BIP für die Landesverteidigung aufzuwenden. Heute sei zu fordern, dass weit mehr als 2 % notwendig sind.
Deshalb richtet Rutte an die Regierungen, die Verteidigungsindustrie und die Bürgerinnen und Bürger der NATO-Länder, vor allem in Europa, den eindringlichsten Appell, der hier nur auszugsweise referiert werden kann: *2)
An die Regierungen: Gebt unseren Industrien die Großaufträge mit langfristigen Verträgen, die sie benötigen, um verstärkt bessere Verteidigungsgüter zu produzieren.
An die Verteidigungsindustrie: Unternehmt das Äußerste, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Die finanziellen Mittel sind vorhanden, wagt daher auch riskante Innovationen, die der Drohung durch massenhaft eingesetzte Drohnen und neue Kriegstaktiken widerstehen. Organisiert zusätzliche Arbeits-Schichten und neue Produktionsverfahren.
Die Bürgerinnen und Bürger der NATO-Länder, vor allem in Europa, bittet Rutte um ihre Unterstützung: *2)
- „Um unsere Freiheit, unseren Wohlstand und unsere Lebensweise zu schützen, ist wirksame Verteidigungspolitik dringend geboten. Für dieses Ziel müssen Ihre Politiker Ihre Stimmen zu hören bekommen!
- Sagen Sie ihnen, dass Sie heutige Opfer akzeptieren, damit wir morgen in Sicherheit leben können!
- Sagen Sie ihnen, dass sie mehr für die Bündnisverteidigung ausgeben müssen, damit wir weiterhin in Frieden leben können!
- Sagen Sie ihnen, dass die Sicherheit des Bündnisses wichtiger als alles andere ist!“
„Die Gegner von Europa und Nordamerika halten sich für hart und uns für weich. Sie überfallen andere Länder, während wir das internationale Völkerrecht und sein Regelwerk aufrecht erhalten. Sie unterdrücken ihre Völker, während wir die Freiheit hoch schätzen. Unsere Gegner sollten sich erinnern, dass es keine stärkere Macht gibt als Demokratien, wenn sie verbündet sind. Wenn sie uns dann angreifen, werden sie auf die heftigste Gegenwehr stoßen.“ *2)
Abschließend zu dieser herausragenden Rede des NATO-Generalsekretärs sei Ruttes zentraler Satz zitiert: Es sei die Zeit gekommen, für Kriegszeiten, die demokratische Länder bedrohen, eine „kriegstüchtige Geisteshaltung“ zu entwickeln: „We can prevent the next big war on NATO territory. And preserve our way of life … It is time to shift to a wartime mindset.“ *2)
2. Deutsche Friedensillusionen gegenüber Putins Russland.
Bisher allerdings scheinen “Weckrufe“, so fundiert sie auch vor Putins Absichten warnen, in Deutschland wenig bewirkt zu haben.
Dem ARD-DeutschlandTREND des Umfrageinstitutes infratest dimap vom 6.12.2024 zufolge *3)
- sind 26 % der Befragten (AfD, BSW, Linke) gegen militärische Unterstützung der Ukraine und für diplomatischen Ausgleich mit Russland.
- Als wichtigste Probleme sehen die Deutschen die Wirtschaft (45 %; + 38 Prozentpunkte im Vergleich zu September 2021), Zuwanderung (23 %) und Frieden/Außenpolitik (18 %).
Ähnliche Haltungen zu Russland sind Äußerungen von SPD-Linken zu entnehmen, die empört den Aufruf von Verteidigungsminister Pistorius zurückgewiesen haben, die Bundeswehr müsse “kriegstüchtig“ werden. Dagegen haben fünf der SPD verbundene Historiker die Ukraine- und Russlandpolitik der SPD-Führung öffentlich kritisiert: *4)
- „Scholz lasse die ´nötige Klarheit und unzweideutige Solidarität vermissen`, wenn es darum gehe, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe.
- ´Wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände.`
- ´Die Einlassungen des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich zu einem ´Einfrieren` des Krieges seien ´fatal`. Denn: ´Die Vorstellung, Risiken würden allein durch Zurückhaltung minimiert, ignoriert die Eskalationsgefahr, die entsteht, wenn Putin keine Grenzen gesetzt werden.`“
Den in der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages so scharf kritisierten Ausdruck “kriegstüchtig“ teilt Boris Pistorius mit Carsten Breuer, dem Generalinspekteur der Bundeswehr. Breuer wirft Putin vor, dieser habe in Europa einen “hybriden“ Zustand geschaffen, „der nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht ganz Krieg“ sei. *5) Die Sicherheitsexpertin Claudia Major, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), urteilt: „Doch immer noch herrsche der Irrglaube, dass der Krieg in der Ukraine nicht auch ganz direkt Deutschland betrifft.“ *5)
Für Generalinspekteur Carsten Breuer und SWP-Sicherheitsexpertin Claudia Major laufe „längst der Countdown für einen offenen Krieg Russlands gegen den Westen.“ Breuer schätzte angesichts des Aufwuchses der russischen Militärproduktion, „die russische Armee (könne) in fünf bis acht Jahren voll kampffähig sein … Putin sieht diesen Krieg als einen Krieg gegen das westliche System. Es geht nicht um die Ukraine … Die freiheitlichen Demokratien seien eine zu große Gefahr für die autokratische Machtpyramide in Russland.“ Mit dem Einsatz einer neuen ballistischen Rakete in der Ukraine drohe Putin weitere Eskalation an: Mit dieser „atomar bestückbaren Waffe (könnten) Ziele in ganz Europa“ erreicht werden.“ *5)
Der deutsche NATO-General Christian Badia hält deutlich höhere Verteidigungsausgaben für notwendig. „Zwei Prozent reichen für Deutschland nicht. Es muss Richtung drei Prozent gehen“, fordert Badia, der in der NATO für die Weiterentwicklung des Bündnisses zuständig ist. *6) „Bei einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund vier Billionen Euro würden drei Prozent aktuell etwa 40 Milliarden Euro mehr im Jahr für Verteidigungsausgaben bedeuten“. *6)
3. Wahlkampagne in Kriegszeiten — deutsche Handlungsunfähigkeit.
Über ein Finanzierungsproblem im Bundeshaushalt von solch` zusätzlicher Größenordnung ist bekanntlich die Ampel-Koalition zerbrochen.
In der Wahlkampagne für die vorgesehene Neuwahl des Deutschen Bundestages am 23. Februar 2025 versucht Bundeskanzler Scholz derzeit, sich gegenüber der CDU/CSU als “Friedenskanzler“ zu profilieren.
NATO-Partner hatten Scholz` Anliegen, mit Präsident Putin zu telefonieren, scharf kritisiert. Denn Putins Isolation durch die westlichen Demokratien werde von Scholz durchbrochen. Überdies erwies sich Scholz` Kontakt zu Putin als völlig erfolglos, wenn nicht schädlich für die Ukraine. Putin ließ Scholz` Telefonwunsch durchaus herabsetzend kommentieren. Das Telefonat war kaum beendet, als brutal verschärfter russischer Raketenbeschuss auf die zivile Infrastruktur der Ukraine einsetzte.
Ferner betont Scholz immer wieder, dass eine Regierung unter seiner Führung nicht erlauben werde, „Ausgaben für Verteidigung und Sozialstaat gegeneinander auszuspielen.“ *7)
Angesichts der von Wehrexperten geforderten Größenordnung zusätzlicher Verteidigungsausgaben (für Deutschland etwa 40 Mrd. €, siehe *6)) erscheint dieses Diktum von Bundeskanzler Scholz zumindest gewagt, wenn nicht gar unverantwortlich.
Es widerspricht nicht nur der Bitte des NATO-Generalsekretärs Rutte um einigen Verzicht zugunsten der Bündnisverteidigung, die Rutte an die Bürgerinnen und Bürger der NATO-Länder vor allem in Europa richtete. *2).
Für Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo, seien Kürzungen im Sozialbereich nicht zu vermeiden. „Kanonen und Butter — das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.“ Der Sozialstaat werde ja nicht abgebaut, sondern weiter finanziert, „aber er wird halt kleiner ausfallen“. *8)
4. Abschließende Hoffnung
Zurück zum adventlichen Lied „´Wachet auf`, ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne“. *1)
Mit Blick auf die “furchtbare Eskalation“ (Scholz-Worte) gegen die Ukraine — durch neue Raketen und nordkoreanische Truppen, die von Putin eingesetzt werden, bleibt eine Hoffnung für die Jahreswende.
Möge die Warnung des NATO-Generalsekretärs Mark Rutte — „wie viele Weckrufe brauchen wir noch?“ — dazu beitragen, dass sich die deutsche Wählerschaft am 23. Februar 2025 für einen Politikwechsel gegenüber der russischen Aggression entscheidet.
Denn die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene “Zeitenwende“ ist für Sachkenner wie Prof. Dr. Moritz Schularick, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) der Universität Kiel, “bislang nur eine Worthülse.“ *9)
*1) Evangelisches Kirchengesangbuch. Ausgabe für die evangelisch-lutherischen Kirchen Niedersachsens. Mit Lektionar. Hannover, Göttingen (um 1956). Lied am Ende des Kirchenjahres. Nr. 121, nach Hans Sachs 1513/Philipp Nicolai 1599.
*2) Speech by NATO Secretary General Mark Rutte at the Concert Noble, Brussels. 12.12.2024; https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_231348.htm.(Hinweis: Mark Rutte, Mitglied der sozial-liberalen „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) ist seit Oktober 2024 gewählter NATO-Generalsekretär. Zuvor führte Rutte von Oktober 2010 bis Juli 2024 die Regierung der Niederlande als Ministerpräsident — eine herausragende Ausnahme in der niederländischen Geschichte. Selten habe ein Regierungschef solch` hohes Ansehen erreicht. Vgl.: This is what our experts say about the departure of Mark Rutte. 10 July 2023; https://www.universiteitleiden.nl/en/news/2023/07/this-is-what-our-experts-say-about-the-departure-of-mark-rutte. (Hervorhebung RS).
*3) ARD-DeutschlandTREND: Wirtschaft als Problemthema Nummer Eins. 06.12.2024; indi@infratest-dimap.de; https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2024/dezember/.
*4) Kanzler-Partei und die Ukraine. Ein Brandbrief, der die SPD aufschrecken müsste. Von Sebastian Huld. 27.03.2024; https://www.n-tv.de/politik/Ein-Brandbrief-der-die-SPD-aufschrecken-muesste-article24834617.html. (S. Huld informiert: „Die Historiker Jan C. Behrends, Gabriele Lingelbach, Dirk Schumann, Heinrich-August Winkler und Martina Winkler sind allesamt Professoren und Professorinnen mit SPD-Parteibuch und großem Renommee.“)
*5) „Maischberger“ | Carsten Breuer: „Putin geht es nicht um die Ukraine“. 27. Nov. 2024; https://www.tonline.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_100539518/-maischberger-carsten-breuer-putin-geht-es-nicht-um-die-ukraine-.html.
*6) Verteidigungsausgaben. Nato-General: „Zwei Prozent reichen für Deutschland nicht“. Von dpa. 11.10.2024; https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/militaer-verteidigung/id_100508020/verteidigungsausgaben-zwei-prozent-des-bip-reichen-fuer-deutschland-nicht-.html (RS Hinweis: Diese Zahl von zusätzlich 40 Mrd. € Staatsausgaben für Verteidigung beim Übergang vom 2 %-Ziel zum 3 %-Ziel der deutschen jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP) ist leicht nachvollziehbar. 2 % von 4000 Mrd € BIP sind 80 Mrd. €, mit einem 3 %-Ziel wären 120 Mrd. € für die Landesverteidigung aufzubringen).
*7) Vergleiche dazu: „Unangemessene Reaktion“: Scholz will Verteidigung und Sozialstaat nicht gegeneinander ausspielen. 05.03.2024; https://www.tagesspiegel.de/politik/unangemessene-reaktion-scholz-will-verteidigung-und-sozialstaat-nicht-gegeneinander-ausspielen-11315074.html. Ferner: Interview mit Jörg Kukies im Handelsblatt. Datum 22.11.2024; https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Interviews/2024/2024-11-22-handelsblatt.html.
*8) „Kanonen und Butter“: Ifo-Chef hält Kürzungen bei Sozialleistungen für unausweichlich. Von: Mark Stoffers. 01.03.2024; https://www.fr.de/wirtschaft/zdf-illner-kuerzungen-bei-sozialleistungen-rente-lang-abgaben-lindner-sozialausgaben-sozialstaat-zr-92850026.html.
*9) Kiel Institute. Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Deutschland rüstet viel zu langsam gegen russische Bedrohung auf. 10.09.2024; https://www.ifwkiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/Media/Images/News_Press_Releases/2024/mi2024-09. (Hervorhebung rs; das Urteil Prof. Schularicks über die „Zeitenwende“ hat besonderes Gewicht, weil im IfW Kiel die Daten zur russischen Kriegsführung gegen die Ukraine und die westliche Hilfe für die Ukraine erhoben und analysiert werden).