Afghanistan: kurzsichtige Vorwurfsorgie.

 

Fingerzeige in alle politischen Richtungen, dazu noch der erhobene Finger: “Experten“ haben vor einer “Kaskade“ der Taliban-Eroberungen gewarnt — seit Juli. *1)

Das ernsteste Problem — die Gefahr für die transatlantischen Beziehungen —  wird bei den wohlfeilen Vorwürfen, die auch an die USA gerichtet werden, übersehen.

1. Experten-Warnungen.

Beginnen wir mit dem erhobenen, warnenden Finger in der ZDF-Analyse: „Experten war .. schon lange klar, dass sich in Afghanistan etwas zusammenbraut: Es habe eine wachsende Beschleunigung der Gebietsverluste gegeben … Spätestens seit Juli war das Muster einer Kaskade zu erkennen.” *1)

Der vom ZDF zitierte Afghanistan-Experte, Prof. Dr. Dr. Hans-Joachim Giessmann, hatte allerdings noch am 21. Juni 2021 ein ermutigendes, wenn auch mit Risiko behaftetes “window of opportunity“ in den Verhandlungen mit den Taliban entdecken wollen. Eine Erfolgschance für Afghanistan durch gemeinsamen Blick in den Abgrund: „the glimpse into a possible abyss reveals a unique opportunity for constructive, focused, and results-oriented negotiations. If they succeed, the timing of the withdrawal of foreign troops will have been right and, in retrospect, the deployment of them in Afghanistan will not have been in vain.“ *2)

Welcher politisch Verantwortliche würde Entscheidungen auf solche “Kaskade“ von Vorhersagen eines Experten stützen?

Als weiterer Experte zum Scheitern in Afghanistan hat sich Prof. Dr. Herfried Münkler geäußert: „Die Botschaft der westlichen Werte (habe) dort kulturell wenig attraktiv gewirkt und (sei) als fremde Ideologie erfahren worden … Dieses Vorhaben sei naiv und ohne wirkliche Kenntnis der Struktur der afghanischen Gesellschaft angegangen worden“. *3)

Sollte Prof. Münkler diese These als Beratungsbeitrag verstehen, so dürfte seine Einlassung von politischen Verantwortungsträgern wohl unter dem Stichwort “Thema verfehlt“ abgelegt werden.

Denn bekanntlich musste die NATO 2001 in Afghanistan eingreifen, um den von dort ausgehenden Terror zu bekämpfen. Wie heute Bundeskanzlerin Merkel in der Pressekonferenz mit Präsident Putin betonte, sollten Afghanistan keine westlichen Werte aufgedrängt werden. Aber ungezählte Frauen und Mädchen hätten sich, so die Kanzlerin, gewiss über die Möglichkeit des Arbeitens und Lernens gefreut. Und die massiven Milliarden-Investitionen in die Infrastruktur des Landes stellten keinen “Werteexport“ (im Sinne Münklers), sondern einen Export von Produktivkapital für die Zukunft dieses Landes dar. Überhaupt: Wenn die NATO in einem Terror-Gastland eingreifen muss, erwartet auch jemand, der dies für „naiv“ hält, gewiss nicht die Methoden des chinesischen Militärs auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ von 1989, sondern Bindung an den Maßstab der Menschenrechte, des Rechtsstaates und der Demokratie.

Dass die vom Westen angestrebte bessere Zukunft Afghanistans nun von Terroristen verspielt werden kann, mag Prof. Münkler mit seiner „wirklichen Kenntnis der Struktur der afghanischen Gesellschaft“ (Münkler) den afghanischen Frauen und Mädchen und allen Afghanen, die vor dem Terror fliehen oder sich ihm unterwerfen müssen, als “naiv“ erklären. Dazu kann er sich über die Vorgänge am Flughafen in Kabul informieren.

2. Politik und Medien.

In der Politik scheint das Fingerzeigen wenigstens zunächst unterhaltsamer. Hier trifft das Bild des Gülle-Mist-Streuers zu, denn die Schuld wird von den “Verantwortlichen“ in alle Richtungen verteilt.*4) Doch das lassen sich die Medien und die Öffentlichkeit nur kurze Zeit bieten.

So fällt den politischen Fingerzeigern schließlich die Lösung ein:

Der Bundesnachrichtendienst (BND) ist schuld. Der BND habe am Freitag, 13. August 2021, im Krisenstab der Bundesregierung zu Afghanistan eine „Übernahme Kabuls durch TLB (Taliban, Anm. d. Red.) vor dem 11.9. eher unwahrscheinlich“ beurteilt. *5) Wer mag BILD wohl das geheime Protokoll der Sitzung des Krisenstabes im Auswärtigen Amt zugespielt haben?

Dem BND wird nicht helfen, dass selbst im Super-Stasi-Überwachungsstaat DDR weder der Aufstand 1953 noch der Mauerfall 1989 vorhergesehen wurde. Da wird auch der Hinweis auf die dürftige BND-Personalausstattung in Afghanistan nicht helfen. Der BND ist der ideale Sündenbock für Kanzlerin, Verteidigungsministerin, Außenminister und weitere; denn der BND, der direkt dem Bundeskanzleramt unterstellt ist, muss den Mund halten …

Wenn AKK, die Verteidigungsministerin, die Schuld auch bei Donald Trump findet, könnte es gefährlich werden. Dann hat AKK jedoch bestimmt nicht mehr ihr derzeitiges Amt.

3. Schaden für den demokratischen Westen: Unabsehbar.

Die USA werden ihren Einfluss in Afghanistan verlieren, vielleicht schaffen Russland, China und Pakistan, dort eine “Stabilität“ zu sichern, vielleicht.

Die USA trennen Ozeane und eine Distanz von rd. 12 Tausend Kilometern von dem Fluchtelend und dem Terror in Afghanistan. Berlin dagegen ist “nur“ 4.8 Tausend km Luftlinie über Land vom Hindukusch entfernt. Daher ist unsere Sicherheit auch heute noch durch einen “failed state“ Afghanistan gefährdet.

Was Deutschland, die EU und die NATO aber am meisten bedroht, ist die Möglichkeit baldigen Scheiterns des “America is back“ – Versprechens von US-Präsident Jo Biden.

Denn die politischen Aussichten der Biden-Administration erscheinen düster. Trotz der als zumindest erratisch erinnerten Außenpolitik des Ex-Präsidenten Trump, hat die Kampagne der Republikaner bereits begonnen.

Der ehemalige US-Vizepräsident Mike Pence: Biden habe den Vertrag Präsident Trumps mit den Taliban gebrochen; eine außenpolitische Erniedrigung sei derzeit zu beobachten, wie sie Amerika seit der Geiselkrise im Iran (1979 – 1981, RS) nicht mehr erlebt habe. *6)

Ex-US-Präsident Trump wirft der Biden-Administration in vernichtenden Worten vor, sie habe das US-Militär aus Afghanistan abgezogen und amerikanische Bürger der Gnade der Taliban überantwortet. Er, Trump, hätte dagegen zuerst die Amerikaner aus dem Land geschafft und danach das Militär abgezogen. *8) Ähnliche Kritik wird auch gegen die Afghanistan-Politik der Bundesregierung erhoben: Wo Trump Recht hat, hat er Recht.

Damit haben die Republikaner die Präsidentschaft Jo Bidens mit einer bitteren Hypothek belastet: amerikanische Bürger und Kooperationspartner der Gnade der Taliban überlassen, eine Erniedrigung historischen Ausmaßes für die USA..

Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk sieht deshalb voraus: Zwar hätten die meisten Amerikaner gewünscht, dass die US-Truppen Afghanistan verließen und heimkämen. Diese Haltung war jedoch nur so lange verbreitet, bis die Amerikaner realisierten, welchen Verlust an Ansehen für die USA die Afghanistanpolitik der Biden-Administration verursachte. Wahrscheinlich werde den “Szenen nationaler Erniedrigung, die im Fernsehen und den Sozialen Medien zu beobachten sind, ein hartes Urteil über Bidens Politik folgen.“ *8)

Eine Rückkehr der Trump-Republikaner an die Macht hätte die absehbar schwersten Folgen für das transatlantische Bündnis. Dies wird bei den derzeit wohlfeilen Vorwürfen an die USA übersehen.

Im deutschen Wahlkampf: Vorwurfsorgie statt Analyse!

*1) Warnungen vor Sturm auf Kabul. Bundesregierung unterschätzte Taliban-Vorstoß von Julia Klaus, Nils Metzger. Datum: 16.08.2021 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-bundesregierung-taliban-warnung-100.html

*2) Germany’s longest military mission ends. What was achieved – and will remain for Afghanistan? As Germany withdraws its forces from Afghanistan after nearly 20 years, what was achieved – and what will remain? BY HANS-JOACHIM GIESSMANN. BLOG POST | 21 Jun 2021; https://berghof-foundation.org/news/germanys-longest-military-mission-ends-afghanistan

*3) Politologe Münkler: Militärischer Werteexport des Westens am Ende. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 19.08.2021. Hinweis RS: Schulbildung Mädchen: 2003 6%, 2017 39 %; Frauen: 5 % in Hochschulen; 22 % in beruflicher Arbeit; 20 % der öffentlich Bediensteten sind Frauen; 27 % der Parlamentarier im Juli 2021 waren Frauen. (Quelle: Weltbank; nach https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963/page 9)).

*4) Three ways this Afghanistan crisis really hurts Biden. Jon Sopel. North America editor. 18.8.2021; https://www.bbc.com/news/world-us-canada-58252174Jon Sopel schreibt: „Biden was „happy to distribute blame in much the same way that a muck spreader disperses manure in all directions. The Afghan leadership weren’t up to it, the Afghan armed forces had no fight in them; Donald Trump had negotiated a bad deal.“ (Hervorhebung RS).

*5) BILD ENTHÜLLT GEHEIMES REGIERUNGS-PROTOKOLL. So dramatisch unterschätzte der Geheimdienst die Taliban! Artikel von: BURKHARD UHLENBROICH, veröffentlicht am 18.08.2021 – 10:49 Uhr; Bild.de

*6) OPINION  COMMENTARY. Mike Pence: Biden Broke Our Deal With the Taliban. It’s a foreign-policy humiliation unlike anything our country has endured since the Iran hostage crisis. By Mike Pence. Aug. 17, 2021; https://www.wsj.com/articles/mike-pence-biden-broke-our-deal-with-the-taliban-11629238764

*7) ‘Lamb being led to slaughter’: Trump slams Biden’s Afghanistan withdrawal. By Mark Moore. August 18, 2021; https://nypost.com/2021/08/18/trump-slams-bidens-afghanistan-withdrawal/. „Former President Donald Trump slammed the Biden administration’s bungling of the Afghanistan evacuation as a ´lamb being led to slaughter` because US troops were withdrawn from the country first, leaving American citizens at the mercy of the Taliban. ´You had to get the people out of there. Can you imagine having your military go home and leaving all those people. That’s called the lamb being led to slaughter`“ Trump said Wednesday on Fox Business.

*8) Yascha Mounk. So Much for a ‘Foreign Policy for the Middle Class’. The Atlantic. 17.8.21; https://www.msn.com/en-us/news/opinion/so-much-for-a-foreign-policy-for-the-middle-class/ar-AANpELf. Y. Mounk: „But though most Americans did indeed support bringing troops home, that was before they realized how badly such a policy would turn out, and they are likely to judge Biden harshly for the scenes of national humiliation now playing on television and social media.“ RS Hinweis: Yascha Mounk ist ein deutsch-amerikanischer Politikwissenschaftler, der als Dozent an der Harvard University in Cambridge/Massachusetts lehrt und forscht.