Alarm! Analphabeten!

Zwar nur auf dem Gebiet Ökonomie, dafür gilt der Alarmruf jedoch fast dem ganzen deutschen Volk. Als „bedrückend“ empfinden Professoren die „schweren Wissensdefizite“, die „großen Täler des Nichtwissens“. *1)

Welche Befunde stützen die Klage über „das Vorherrschen von ökonomischem Analphabetismus“ (*1 GG) und die Forderung, „ein Schulfach Wirtschaft mit ausreichend Lehrstunden fest zu verankern“ (*1 HK)?

Befragungen von GG und HJSCH *1) zeigten Wissensdefizite bei „ökonomischen Fakten, Konzepten und kausalen Zusammenhängen.“

Fakten: „Besonders schwach … in den Bereichen Schulden, Versicherungen und Steuern sowie beim Thema Geldpolitik.“ (Schülerbefragung HJSCH). Schade um das großzügig den Schulen angebotene Lehrmaterial der Deutschen Bundesbank?

Konzepte: Unfähigkeit, Kosten und Nutzen abzuwägen, reale von nominalen Größen, absolute von relativen Werten, brutto von netto zu unterscheiden, das „kleine Wirtschafts-Einmaleins“ zu beherrschen. (*1 RE). Können solch einfache Konzepte nicht von jedem Lehrer, etwa im Sachrechnen oder beim Schreiben von Sachberichten, vermittelt werden?

Kausale Zusammenhänge: Nur gut „die Hälfte“ der von GG repräsentativ Befragten habe die „Frage, welchen Effekt eine Dollar-Aufwertung auf die deutsche Wirtschaft habe“ korrekt beantwortet. *1) Wenn auf so diffus formulierte Frage immerhin „die Hälfte“ die „korrekte“ Antwort gibt, erscheint das Ergebnis eher erfreulich. Wer sich mit den internationalen Wirtschaftsbeziehungen der deutschen Wirtschaft (Waren-, Dienstleistungs-, Kredit-, Zahlungs- und Devisenverkehr, Direktinvestitionen) sowie ihrer Geschäftspolitik näher beschäftigt hat, kann dieser Bewertung vielleicht zustimmen.

Sind die Professoren zu streng mit Schülern und Eltern?

Erinnern wir noch das „brutto-netto“-Durcheinander, mit dem Rudolf Scharping und Angela Merkel in Medien vorgeführt wurden? *2) Kann von Schülern oder Eltern mehr erwartet werden als von Spitzenpolitikern?

Auch wenn es nicht leicht fällt, akzeptieren wir mangels Zugang zu den Unterlagen das „bedrückende“ Ergebnis der Professoren. Die machen dafür zwar die Schulen verantwortlich, sehen aber dennoch in den Schulen die Lösung des Problems. Eine ganz einfache Lösung sogar: „ein Schulfach Wirtschaft mit ausreichend Lehrstunden fest zu verankern“ (*1 HK).

Dem Initiator dieses Vorschlags, Prof. Kaminski (HK), scheint dafür neben der Erwartung, dass die ökonomischen „Wissensdefizite“ behoben werden, als Begründung hinreichend, „das Interesse der Elternschaft und der Schüler nimmt zu.“ *1)

Der Wirtschaftsdidaktiker Schlösser (HJSCH) erwartet, dass einem in seiner Schüler-Befragung erhobenen „alarmierenden Befund“ politisch begegnet werde. Es habe sich gezeigt, „dass Kinder aus reicheren Elternhäuser mehr von Finanzfragen verstehen als die ärmeren Schulkameraden … Gerade jenen Gruppen, die wirtschaftlich aufholen sollten, fehlte es damit an Wissen für den Aufstieg.“ *1)

Der Autor des FAZ-Beitrags, Philip Plickert, verweist auf weitere Studien *1), die gesellschaftlichen Nutzen ökonomischer Bildung belegen: Wirtschaftlich besser gebildete Menschen verhielten sich finanziell verantwortungsbewusst und vermieden eine Überschuldung. Sie sparten für den steigenden Finanzbedarf im hohen Alter. Und als junge Menschen zeichneten sie sich durch stärkere Neigung aus, unternehmerisch selbständig zu werden.

Sind diese gewichtigen Argumente, wirtschaftliche Kenntnisse im Rahmen der vielfältigen Bildungsziele unserer Schulen zu verankern, bisher in Deutschland ignoriert worden? Hat der Wirtschaftsdidaktiker Schlösser (HJSCH) Recht, wenn er als Hauptgrund der ökonomischen Wissensdefizite „Versäumnisse der Schulen“ sieht?

Ist es deshalb notwendig, „ein Schulfach Wirtschaft mit ausreichend Lehrstunden fest zu verankern“ (*1 HK)? Diese spezifische schulpolitische Forderung angesichts eines sicher komplexen Ursachenbündels für ökonomische Wissensmängel und ebenso komplexer ökonomischer Bildungsziele muss eine Reihe von Fragen aufwerfen.

So unterstreicht HJSCH seinen Vorwurf „Versäumnisse der Schulen“ in Deutschland mit dem Hinweis: „In Großbritannien gibt es seit Jahrzehnten ein reguläres Schulfach Ökonomie.“ *1). Wer sich allerdings eingehender mit dem Vereinigten Königreich (UK) beschäftigt hat, könnte diesen Hinweis Schlössers im Lichte der oben referierten Begründungen für bessere ökonomische Bildung als bizarr empfinden: Die Vorsorge für das Alter und die Renten-Politik im UK haben eine Geschichte zwischen Scheitern, Betrug und dem Bemühen, dem Vorbild Deutschland zu folgen. Aufstiegswille ehrgeiziger Menschen aus armen Familien ohne „Beziehungen“ ist mit in Deutschland unvorstellbarer Härte der britischen Klassengesellschaft konfrontiert. Und über die Qualität der Leistungen kleiner und mittelständischer britischer Selbständiger befrage man die Kunden oder verbringe Wochen in dortigen Wohnungen.

Hat Schlösser außerdem, wenn er „ein reguläres Schulfach Ökonomie“ empfiehlt, ein von ihm selbst beschriebenes logisches Problem übersehen? In einem kenntnisreichen Beitrag stellt HJSCH fest: „Die Ursachen von Zielkonflikten liegen im Einsatz der wirtschaftspolitischen Instrumente. Wenn nur ein einziges Instrument zur Erreichung von zwei Zielen eingesetzt wird, kann davon eine negative Wirkung auf eines der beiden Ziele ausgehen.“ *3)

Auf die schulpolitischen Empfehlungen der Professorengruppe übertragen: Ein Instrument („reguläres Schulfach Ökonomie“ HJSCH) wird einem umfangreichen Instrumentenkasten und einem Bündel von Bildungszielen hinzugefügt. Bei bestehender Belastung der Schüler und Lehrer mit Unterricht, Stundenzahl und Fächern ist der Zielkonflikt unvermeidlich.

Dies sei illustriert an der Sekundarstufe I, d.h. vereinfacht der Zeit zwischen der fünften und der zehnten Klasse. Dafür gelten in Nordrhein-Westfalen (NRW) Kernlehrpläne in den folgenden Fächern: Deutsch. Gesellschaftslehre (Erdkunde, Geschichte, Politik/Wirtschaft). Mathematik. Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik). Englisch und 2. Fremdsprache (ab Klasse 6). Kunst. Musik. Religionslehre/Praktische Philosophie. *4)

Noch mehr Fachwissen, insbesondere Ökonomie draufsatteln? Obwohl selbst das Institut für Ökonomische Bildung (IÖB), das Prof. Kaminski (HK) leitet, die sehr allgemein formulierte Vorgabe empfiehlt: „Mündigkeit im Sinne eines selbst bestimmten Handelns in sozialer Verantwortung ist stets das zentrale Bildungsziel.“ *5)

Das IÖB informiert ferner: Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, gelernter Gymnasiallehrer für Germanistik, Politik und Soziologie, empfehle bundesweite Verankerung ökonomischer Bildung. Und Bundespräsident Joachim Gauck, gelernter Pfarrer, wird vom IÖB zitiert: „Zum informierten Bürger gehört eine ökonomische Grundbildung“. Das IÖB sieht in dem Beitrag des Bundespräsidenten zu Recht einen wichtigen Impuls für die schulpolitische Zukunft: Das Staatsoberhaupt müsse „als einer der wenigen Politiker gegenwärtig angesehen werden, der mit großer Klarheit die Notwendigkeit ökonomischer Kompetenzen für die Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur sieht, sondern sie auch fordert.“ *6) Ein zusätzliches Schulfach „Wirtschaft“ haben allerdings weder Gabriel noch Gauck gefordert.

So sinnvoll eine Verbesserung wirtschaftlichen Wissens unserer Schüler und Bürger ist, so „quälend langsam“ *1) bewege sich die Schulpolitik. Das bringen schulpolitische Zielkonflikte mit sich. Besser mühsame, ständige und maßvolle schulpolitische Kompromissarbeit als den Schülern „quälend langsam“ immer größere Stoffmengen aufzubürden.

Und hier stellt sich eine weitere kritische Frage an die hier zitierten „Alarm“-Professoren. Gerade mir, der am Wirtschaftsgymnasium Hildesheim Unterricht in Deutsch, Geschichte und Geographie bei Herrn Dr. Hans Perl hatte. Bereits 1953 schufen Dr. Perl und Dr. Fritz Arlt (Deutsches Industrieinstitut, heute Institut der deutschen Wirtschaft) als „Gründerväter“ die Arbeitsgemeinschaft „Schule und Wirtschaft“. Eine „Brücke zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem“ war damit gebaut, die bis heute sogar bundesweit trägt. *7)

Dass in schulpolitisch verantwortlichen Bundesländern seit mehr als 60 Jahren die „SCHULEWIRTSCHAFT-Netzwerke“ gepflegt werden, führt zur Frage, ob der Professoren-„Alarm“ nicht ein wenig übertrieben ist.

Tatsächlich räumt Prof. Kaminski ein, dass in den meisten Bundesländern Lehrinhalte wie „Politik-Wirtschaft“, „Arbeit, Wirtschaft, Technik“ oder „Wirtschaft und Recht“ oder wie in NRW „Gesellschaftslehre (Erdkunde, Geschichte, Politik/Wirtschaft)“ unterrichtet werden.

Dies bewertet Kaminski etwas herabsetzend als „höchstens Mischfächer“. *1) Wirbt er damit für eine fachliche Engführung, die dem Erfahrungsgegenstand „Wirtschaft/Ökonomie“ gar nicht entspricht?

Möge sich doch Prof. Kaminski einmal mit langjährig erfahrenen und bewährten Einrichtungen für politische Bildung zu einem Erfahrungsaustausch zusammenfinden. Hier, gerade zur Hand, ein Hinweis auf solche Arbeit auf dem Gebiet „Wirtschafts- und Sozialpolitik“ *8). Ziel ist, „Politik und Gesellschaft in Deutschland zu wichtigen Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und ihrer politischen Gestaltung“ zu informieren.

In dieser Bildungsarbeit wird deutlich, wie breit das Themenfeld „Wirtschaft/Ökonomie“ behandelt werden muss, um das Informationsziel für Politik und Gesellschaft zu erreichen. In Arbeitskreisen, Veranstaltungen und Publikationen werden die folgenden Themen bearbeitet: Arbeit, Betrieb, Politik. Dienstleistungen. Innovative Verkehrspolitik. Mittelstand. Nachhaltige Strukturpolitik. Verbraucherpolitik. Arbeit und Qualifizierung. Migration und Integration. Sozialpolitik. Wirtschaftspolitik. Steuerpolitik. Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik und Globalisierung. *8)

Ein solch umfassende Betrachtungsweise des Gebietes „Wirtschaft/Ökonomie“ findet sich auch in der spezialisierten Wirtschaftspresse.

Prof. Schlösser beklagt, dass „das Thema Wirtschaft in der Schule leider oft mit Wirtschaftsinteressen oder Lobbyismus verwechselt“ *1) werde. Als ob das Thema “Wirtschaft“ vom Thema “Interessen“ getrennt werden könnte! Dies möge der Wirtschaftsdidaktiker Schlösser versuchsweise Gewerkschaften oder Unternehmerverbänden vorschlagen …

Zum Schluss: Ist der Alarm der Professoren mit Blick auf den Rang, den Platz und die Rolle des Faches Wirtschaft/Ökonomie in der deutschen Bildungslandschaft und mit Blick auf die politische Förderung nicht etwas unverhältnismäßig?

Entpuppt sich der Alarm der Professoren, der auf Wissensdefizite, Wirtschaftsinteressen oder Lobbyismus zeigt, nicht am Ende als Lobbyismus in eigener Sache?

Sicher eine unbefriedigende Frage am Schluss der Überlegungen. Aber: Können wir die Schulen und den Fächerkanon durch ein Lehrfach Wirtschaft verbessern? Können wir die Lehrer effektiver, die Schüler fleißiger, die Eltern aufmerksamer machen?

Trösten wir uns mit dem Zitat von Bertolt Brecht, durch das Marcel Reich-Ranicki einst den Zuschauern nahelegte, sich ein eigenes Urteil über die im Literarischen Quartett vorgestellten Bücher zu bilden: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen — Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Brechts Epilog endet: „Verehrtes Publikum, los, such Dir selbst den Schluss! Es muss ein guter sein, muss, muss, muss!“ *9)

*1) Wissensdefizite. Ein Volk von Ökonomie-Analphabeten. Forscher schlagen Alarm: Die Mehrheit der Bevölkerung hat große Wissensdefizite über Ökonomie und Finanzen. Mehr Bildung wäre nötig. Doch die Schulpolitik bewegt sich quälend langsam. Von Philip Plickert, 02.05.2016, faz.net.

Diese angesehenen Professoren haben den Alarm ausgelöst: Reiner Eichenberger (RE), Universität Freiburg, Schweiz. Gerd Gigerenzer (GG), Risikoforscher, Psychologe, Direktor, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. GG und eine Forschergruppe stützen ihre Thesen auf eine repräsentative Auswahl von 1300 Personen, denen Fragen gestellt wurden, um die Kenntnis von Ökonomiewissen zu prüfen. Hans Kaminski (HK), Direktor, Institut für Ökonomische Bildung — gemeinnützige GmbH (IÖB), Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Hans Jürgen Schlösser (HJSCH), Didaktik der Wirtschaftslehre, Zentrum für ökonomische Bildung (ZöBiS) Universität Siegen.

*2) Rudolf Scharping: Kandidat mit Brutto-netto-Fauxpas. Von Stephan Klecha. Sonntag, 22.04.2007. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/rudolf-scharping-kandidat-mit-brutto-netto-fauxpas-a-478589.html.

Brutto-Netto-Verwechslung. Merkel überholt Scharping. 17. Mai 2010. http://www.sueddeutsche.de/politik/brutto-netto-verwechslung-merkel-ueberholt-scharping-1.800086

*3) Staat und Wirtschaft. Ziele und Instrumente. Hans-Jürgen Schlösser (HJSCH). 05.07.2007, http://www.bpb.de/izpb/8472/ziele-und-instrumente?p=all.

*4) http://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Schulformen/Gymnasium/Sek-1/ .

*5) Institut für Ökonomische Bildung. IÖB-Standpunkte. 3. Mai 2016 (Loe). Systematische Verkürzungen: Wie das Schulfach Wirtschaft in Baden Württemberg noch verhindert werden soll! http://www.ioeb.de/standpunkte.

*6) IÖB-Standpunkte vom 17. Februar 2015 (Gabriel) und vom 11. April 2014 (Gauck); http://www.ioeb.de/standpunkte.

*7) Zum ehrenden Gedenken an die beiden Gründerväter von „Schule und Wirtschaft“ 50 Jahre danach siehe: 50 Jahre SCHULEWIRTSCHAFT. Tradition. Innovation. Vision. Chronik eines Erfolgsmodells; http://www.schulewirtschaft-bayern.de/files/File/muenchen-land/50-Jahre-Geschichte.pdf, S. 11 ff. 2003.

Ferner:

http://www.schule-wirtschaftthueringen.de/fileadmin/schulewirtschaft/redaktion/pdf/Broschuere2015web.pdf. Hier heißt es zum gegenwärtigen SCHULEWIRTSCHAFT-Stand: Heute arbeiten bundesweit eine Vielzahl von Schul- und Unternehmensvertretern ehrenamtlich und hoch motiviert unter dem Dach des SCHULEWIRTSCHAFT-Netzwerkes daran, den Übergang von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt für die Jugendlichen erfolgreich zu begleiten. Für diese engagierte Arbeit danken wir allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern. SCHULEWIRTSCHAFT bietet Raum für wechselseitige Begegnung auf Augenhöhe. Schule lernt Wirtschaft und Wirtschaft lernt Schule kennen und schätzen. Nur so entsteht ein lebendiger Dialog zum Nutzen der Schülerinnen und Schüler.

*8) Einfinden. Einstimmen. Einsetzen. Jahresbericht 2011. Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 79.

*9) Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan. Epilog.