Altmaiers Köder.

Peter Altmaier gilt als glückloser Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Aus Sicht von Unternehmerverbänden und führenden Ökonomen habe Altmaier das Wirtschaftsministerium beschädigt.

Dies ist eine noch milde Formulierung der Kritik über Schönrednerei und Untätigkeit, die Altmaier seit Monaten entgegenschlägt.

Altmaiers Reaktion auf die Kritik kann überraschen: Zur Wirtschaftspolitik sagt er derzeit wenig bis nichts. Auf dem Gebiet industrieller Forschung und Entwicklung hätte er gewiss eine Reihe erfolgreich geförderter Projekte vorzuweisen. Statt dessen greift Altmaier auf Gedanken zurück, die den langjährig erfahrenen Bundesminister als Chef des Bundeskanzleramtes vielleicht während der zweiten großen Koalition von CDU/CSU und SPD (2013 – 2017) umgetrieben haben.

Diese Gedanken hat er der breiten Öffentlichkeit zwar bisher vorenthalten, aber nun will er “das politische System umkrempeln“ *1). Kurz gesagt: Bundestag und Bundesregierung verkleinern, weniger Wahltermine durch zeitlich eng koordinierte Landtags- und Bundestagswahlen.

Anlass dieses Vorstoßes ist für Altmaier das Ergebnis der Landtagswahl vom 27.10.2019 in Thüringen. Ein Ergebnis mit der LINKEN (31,0 %) und der AfD (23,4 %) als den beiden stärksten Kräften im Landtag. Dies sei Ausdruck von Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Parteien der “Mitte“, oder, wie es Altmaier ausdrückt, den “staatstragenden Parteien“: CDU (21.7 %), SPD (8,2 %), FDP (5,0 %), Grüne (5,2 %). *2)

Nach solch “tief greifender Zäsur“ durch die Landtagswahl in Thüringen müsse das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewonnen werden. Wenn “der Anteil der Wähler, die keine staatstragende Partei mehr wählen, sich verdoppelt, die Mitgliederzahl der Parteien sich halbiert und die Abgeordnetenzahl immer weiter steigt“, gehe es “um grundlegende Fragen des Vertrauens und der Akzeptanz“. Dann bedürfe es “grundlegender Politikreformen“, auch “zulasten eigener Besitzstände und Interessen“. *1)

Peter Altmaier hat die folgenden Reformvorschläge öffentlich unterbreitet: *1)

  • Reform des Bundestags: alle vier Jahre 40 Sitze weniger, bis die “angemessene Zahl“ erreicht ist.
  • Bundesregierung: die Zahl der Minister auf 15 festschreiben; die Zahl der Staatssekretäre und Regierungsbeauftragten um ein Drittel reduzieren.
  • Bundestags- und Landtagswahlen: terminlich stärker konzentrieren, damit die Unterbrechung der Regierungsarbeit durch Wahlen verringert wird.
  • Debattenkultur: mehr Bürgerbeteiligung bei der Gesetzgebung, z.B. durch Online-Anhörungen, statt in informellen Gremien, wie z.B. Koalitionsausschüssen, “hinter verschlossenen Türen“ zu entscheiden.

Diese Vorschläge Altmaiers würden wir Staatsbürger begrüßen, hätte er nicht den Bundestagsabgeordneten und den politischen Parteien einen fetten Köder angeboten, damit sie seine “grundlegenden Politikreformen zulasten eigener Besitzstände und Interessen“ unterstützen: Die Wahlperiode im Bund müsse auf fünf Jahre verlängert werden. *1)

Dieses Ansinnen haben uns Bürgern schon Norbert Lammert (CDU) und Thomas Oppermann (SPD) zumuten wollen. *3) Auch in der laufenden Legislaturperiode des Bundestags unterstützen Vertreter aus allen Parteien bis hin zur AfD eine Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre. Eine rühmliche Ausnahme sei hier hervorgehoben: Bernd Riexinger, MdB und Parteivorsitzender der LINKEN, hat dies abgelehnt. *4)

Altmaiers Vorschlag, im Gegenzug für reduzierten politischen “Besitzstand“ — Zahl der Abgeordneten und Zahl der Staatssekretäre — die Wahlperiode des Bundestags auf fünf Jahre zu verlängern, erscheint aus Sicht der wahlberechtigten Bürger als überaus unfairer Deal:

  • Im Jahre 2033, zwölf Jahre nach der Bundestagswahl 2021, würde es im Bund vielleicht (!) 100 Abgeordnete (derzeit 709) und 20 Staatssekretäre (derzeit 67, beamtete und parlamentarische) weniger geben.
  • Für diesen Verlust an “Besitzstand“ von Bundestag und Bundesregierung sollen 62 Millionen Wahlberechtigte in Deutschland statt bis 2033 dreimal, den Bundestag nur zweimal wählen können. Dies ist politische Enteignung des Volkes.
  • Das Recht des Volkes, alle vier Jahre seine politische Führung zu beurteilen, zu wählen oder abzuwählen, würde in der hierzulande so gern kritisierten Demokratie der USA nicht einmal Präsident Trump antasten.

Es wundert allerdings nicht, dass der Vorsitzende der 5 %-FDP, Christian Lindner, flugs nach dem Köder Altmaiers greift und dessen Vorschläge begrüßt. Dies ist ein bleibender Makel in der politischen Bilanz dieses Spitzen-Liberalen.

Bundesregierung und Bundestag sind den 62 Millionen Wahlberechtigten in Deutschlands Demokratie rechenschaftspflichtig und werden von ihnen bezahlt. Dennoch wagen die Politiker, die sich wohl als “politische Klasse“ verstehen, das Wahlrecht des Volkes durch Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre einzuschränken: Gelänge dieser Anschlag, könnte z. B. in 60 Jahren als Wählerin oder Wähler nicht mehr 15 Mal, sondern nur noch 12 Mal gewählt werden.

Wo bleibt der Protest der vom Volk ebenfalls bezahlten Einrichtungen der politischen Bildung, der parteinahen Politischen Stiftungen, die vorgeben, der Demokratieförderung verpflichtet zu sein? Gibt es mahnende Worte des Staatsoberhauptes, dessen zentrales Anliegen es sei, unsere Demokratie zu schützen und zu vertiefen?

Auch kritische Stellungnahmen in den Medien sind eher selten; zwei Beiträge werden hervorgehoben:

  • „Es entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe: Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung werden über Monate hinausgezögert — dann folgt die Erkenntnis, dass die Legislaturperiode an sich zu kurz sei und deshalb auf fünf Jahre verlängert werden müsse”, urteilte der Staats- und Verwaltungsrechtler, Professor Dr. Christoph Degenhart, schon 2014 über die “Besitzstands-Politiker“ (RS) im Deutschen Bundestag. *5)
  • „Weniger wählen bedeutet weniger Demokratie. Wahltage sind Festtage”, kommentierte Heribert Prantl im Dezember 2013, als der damalige Bundestagspräsident Lammert (CDU) in Abstimmung mit der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD für den Bundestag eine Legislatur von fünf Jahren forderte. Aber selbst Prantl zeigte sich offen für ein Tauschgeschäft “Weniger wählen, weniger Demokratie“ gegen “mehr Beteiligung der Bürger an anderer Stelle“. *6)

Nach allen heutigen Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung, Bürgerbefragungen, ihren Repräsentanz-Problemen und ihren oft intransparenten Einfluss-Faktoren (siehe z. B. das Brexit-Referendum von 2016) können politische Tauschgeschäfte zu Lasten des Rechtes auf Wahl nicht mehr akzeptiert werden. Gerade mit Blick auf diese Erfahrungen erscheint Altmaiers Tausch-Angebot an die Bürger fragwürdig, für ein “Mehr an Debattenkultur und ein Mehr an Bürgerbeteiligung“ ein “Weniger wählen durch fünf Jahre Legislatur für den Bundestag“ in Kauf zu nehmen.

Wenn die Abgeordneten im Deutschen Bundestag Altmaiers Köder annehmen, das Grundgesetz ändern und die Wahlperiode von vier Jahren (Artikel 39 GG) auf fünf Jahre strecken, dann werden die “Vertreter des Volkes“ einen Volkszorn erleben, dass er ihnen im Hals stecken bleibt …

der Köder Altmaiers.

*1) DEUTSCHLAND. BUNDESTAG, WAHLEN, KABINETT. Wie Peter Altmaier das politische System umkrempeln will. 07.11.2019; https://www.welt.de/politik/deutschland/article203126100/

*2) Zweitstimmen-Ergebnis der Landtagswahl vom 27.10.2019 in Thüringen für die Parteien, die in den Landtag kommen: LINKE (31,0 %, plus 2,8 Prozentpunkte). AfD (23,4 %, plus 12,8 Prozentpunkte). CDU (21.7 %, minus 12 Prozentpunkte). SPD (8,2 %, minus 4,2 Prozentpunkte), FDP (5,0 %, plus 2,5 Prozentpunkte), Grüne (5,2 %, minus 0,5 Prozentpunkte). 07.11.2019; https://www.spiegel.de/politik/deutschland/landtagswahl-thueringen-2019-alle-ergebnisse-im-ueberblick-a-1282214.html

*3) Im Rahmen dieser Webseite wurde das Thema “politische Enteignung“ der Wahlberechtigten durch Verlängerung der Legislaturperiode für den Bundestag mehrfach aufgegriffen. Diese Beiträge werden hier noch einmal zitiert. Nicht aus Rechthaberei, sondern weil der massive Protest ausbleibt — von Einrichtungen der politischen Bildung, von den der Demokratieförderung verpflichteten parteinahen Politischen Stiftungen, und auch die Massenmedien verhalten sich merkwürdig still. Vgl. Blog – Atlantische Modernität; https://www.reinholdsohns.de: Demokratieabbau — nach der Wahl! 14. September. 2017. Oppermann: Weniger Demokratie! 17. Oktober. 2016. Politische Enteignung … 28. Dezember. 2013.

*4) DEUTSCHLAND. BUNDESTAG. Nach zehn Jahren soll Schluss sein mit der Kanzlerschaft. Alle Parteien im Bundestag wollen Wahlperiode verlängern. Von Tobias Heimbach, Matthias Kamann, Marcel Leubecher. Veröffentlicht am 14.09.2017; www.welt.de/politik/deutschland/article168655296/Nach-zehn-Jahren-soll-Schluss-sein-mit-der-Kanzlerschaft.html

*5) Verlängerung der Wahlperiode: Bundesregierung für ein halbes Jahrzehnt? Von Prof. Dr. Christoph Degenhart. 03.01.2014;  http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/wahlperiode-fuenf-jahre-bundesregierung-lammert/

*6) Mögliche Verlängerung der Legislaturperiode. Wahltage sind Festtage. Die große Koalition möchte die Wahlperiode des Bundestags von vier auf fünf Jahre verlängern. Doch weniger wählen bedeutet weniger Demokratie. Der Plan von Union und SPD wäre nur unter einer Bedingung akzeptabel — wenn die Beteiligung der Bürger an anderer Stelle gestärkt wird. Ein Kommentar von Heribert Prantl. 29. Dezember 2013; https://www.sueddeutsche.de/politik/moegliche-verlaengerung-der-legislaturperiode-wahltage-sind-festtage-1.1852777