Anständigkeit im Nazi-“Stürmer“?

 

Ein FAZ-Artikel spekuliert über die Motive, die sich hinter der Meldung des Freitodes von Walter Benjamin im antisemitischen Nazi-Blatt „Der Stürmer“ verbergen. *1)

1. Vor der Auseinandersetzung mit besagtem FAZ-Artikel sind die folgenden Fakten kurz zu referieren:

Dr. Walter Benjamin, deutscher Philosoph, geboren 1892, flüchtete vor dem mörderischen Antisemitismus Nazi-Deutschlands. 1940 versuchte er, von Banyuls-sur-Mer (Frankreich) am Ostrand der Pyrenäen nach Spanien und von dort über Portugal mit seinem USA-Visum Amerika zu erreichen. „Die spanischen Behörden ließen den Flüchtenden wegen eines neuen Dekrets nicht einreisen, sondern wollten ihn zurück nach Frankreich schicken, worauf sich Benjamin in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 im Hotel Francia de Portbou das Leben nahm, um seiner Auslieferung zu entgehen.“ *2)

Der FAZ-Artikel behandelt die Meldung des Todes von Walter Benjam in “Der Stürmer“ vom 16. Januar 1941. “Der Stürmer“ ist das widerwärtigste antisemitische Hetzblatt der Nazizeit, ein Massenblatt so ekelerregend, dass die Bezeichnung “Medium politischer Pornografie“ hier genügen muss. *3) Herausgeber des “Stürmer“ von 1923 bis 1945 war Julius Streicher. Der propagierte nicht nur einen auf Vernichtung gerichteten Antisemitismus. Streicher zeigte derartige gegen Juden betriebene Habgier und Abartigkeit, dass selbst Nazis ihn seiner Ämter enthoben hätten, wäre ihm nicht die persönliche Protektion Hitlers sicher gewesen. Der Nürnberger Gerichtshof verurteilte Streicher als “Judenhetzer Nummer eins“ (Urteilsbegründung) am 1. Oktober 1946 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode. *3)

2. Bemerkungen zum FAZ-Beitrag “BENJAMINS TODESNACHRICHT. War es die reine Häme?“ 26.09.2020.

Diese Bemerkungen sind motiviert durch die Tatsache, dass der FAZ-Beitrag genau zur 80. Wiederkehr des Todestags von Walter Benjamin erschienen ist. *1) 

  • Das Schicksal Walter Benjamins endete mit seinem Freitod auf aussichtslos geglaubter Flucht aus Nazi-Deutschland in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940. In Walter Benjamins 80. Todestag sieht die FAZ offenbar den gebotenen Anlass, über die Motive der Meldung von Benjamin Tod ausgerechnet in dem schmutzigsten je erschienen deutschen Presseorgan, dem “Stürmer“, zu spekulieren.
  • Und nicht nur das. Der FAZ-Artikel fragt, ob der Hetz-Artikel des “Stürmer“ vom 16. Januar 1941, zur Zeit noch der Sieges-Höhepunkte im Nazikrieg, vielleicht einen “Einbruch von Anständigkeit“ im “Stürmer“ darstelle. Damit „die Todesmeldung, getarnt durch eine reißerische Überschrift und eine höhnische Nachschrift, das gebildete Bürgertum erreiche?“
  • Die FAZ wirft sogar die Frage auf, ob es im Nazi-Deutschland jener Zeit anständige Menschen gegeben habe, die mit Nazis vor den Aushängen des “Stürmer“ anstanden, um sich an “politischer Pornografie“ zu weiden. Oder gar dieses Blatt abonniert hätten.
  • Ein “getarnter“ (FAZ) Stürmer-Artikel also für anständige Menschen, die „den ´Stürmer`gegen den Strich gelesen haben“. Ein “getarnter“ Stürmer-Artikel für Menschen, die „mit einer an Benjamin gemahnenden Fähigkeit zu Versenkung und Dekodierung die schadenfrohe Verlautbarung auf das Eigentliche zu wenden imstande waren: dass da ein Mensch zu Tode gehetzt worden war“.

Soweit die FAZ am 80. Todestag von Walter Benjamin zum mutmaßlichen “Einbruch von Anständigkeit“ in der Redaktion des “Stürmer“.

Dies mögen Leser des FAZ-“Gedenkartikels“ über Walter Benjamin und den “Stürmer“ glauben oder nicht.

3. Hier schließen wir mit einer Vermutung und einer Empfehlung:

3.1. Zur Vermutung

Der Artikel über den Tod Walter Benjamins im Julius Streicher-Blatt „Der Stürmer“ vom 16. Januar 1941 wollte wohl vor allem aus “reiner Häme“ (Wizisla) vorführen, wie aussichtslos die Flucht aus Nazi-Deutschland wäre. Vielleicht waren führende Nazis alarmiert durch die Flucht in die USA, wo die Empörung über Nazi-Deutschland durch Berichte zahlreicher geflohener, bedeutender Zeitzeugen wuchs. Vielleicht glaubten Nazis im Januar 1941 nach den Blitzkrieg-Erfolgen und vor dem Russland-Feldzug, die USA von einem Kriegseintritt abhalten zu können.

3.2. Empfehlung zur Lektüre

Verschiedene Autoren bemerkten in der Vergangenheit bei der FAZ eine Tendenz, die Täter im Nazireich “verschwinden“ zu lassen oder ihre Taten “zu relativieren.“ Der Zeithistoriker und FAZ-Herausgeber Joachim Fest (1926 -2006) war der Adressat solcher Vermutungen.

Ist der FAZ-Beitrag “BENJAMINS TODESNACHRICHT. War es die reine Häme?“ vom 26.09.2020 ein Anzeichen, dass solche mutmaßliche Tendenz in der jüngeren FAZ-Vergangenheit heute wieder aufleben könnte?

Als Leser des Qualitätsblattes FAZ will man dies nicht glauben. Dennoch wird angesichts der massiven Verbreitung rechten Gedankengutes in Deutschland auf jene Vorbehalte gegenüber der FAZ eingegangen.

Nazi-Täter “verschwinden“

Hitler wird nach dieser Theorie als ein „´hypnotischer Überwältiger` inszeniert, in dessen ´schwarzmagischen Bann` die Täter verschwinden und ihrerseits zu Opfern werden.“

Ein “Prototyp des verschwindenden Täters“ sei Hitlers Chef-Architekt Albert Speer gewesen: „der Hitler-Biograf und Mitherausgeber der ´Frankfurter Allgemeinen Zeitung`, Joachim Fest, (habe) gemeinsam mit Speer die ´Umdeutung` seiner Rolle“ geplant und umgesetzt. *4)

Nazi-Taten werden “relativiert“

Wenn man Nazi-Täter nicht verschwinden lassen kann, so kann man ihre Verbrechen “relativieren“ und “deutsche Schuld mit den Verbrechen anderer verrechnen“. Diesen Vorwurf richtete Marcel Reich-Ranicki an den Mitherausgeber der ´Frankfurter Allgemeinen Zeitung`, Joachim Fest. Fest habe wie einen “Refrain“ immer wieder vorgetragen: „Stalin hat nicht weniger gemordet als Hitler.“ *5)

Joachim Fest habe ferner, so Reich-Ranicki, “eine düstere Rolle im Historikerstreit“ gespielt, der von Thesen des Historikers Ernst Nolte ausgelöst worden sei. 1987 habe Nolte behauptet, „die ´Endlösung der Judenfrage` sei nicht etwa das Werk von Deutschen, vielmehr ´ein Gemeinschaftswerk der europäischen Faschismen und Antisemitismen`“ gewesen. Joachim Fest habe dazu geschwiegen und Reich-Ranicki schließlich ohne Begründung mitgeteilt, „er werde auf keinen Fall von Noltes Anschauungen abrücken.“ *5)

In einer Zeit wachsender rechtsextremer Nazi-Umtriebe in unserem Land drängen sich Fragen auf:

Nazi-Täter verschwinden, ihre Taten werden relativiert oder mit den Verbrechen anderer verrechnet — beginnt solche Geschichtspolitik erneut in Deutschland?

Wenn zum 80. Todestag des Nazi-Opfers Walter Benjamin in der FAZ spekuliert wird, ob in der Nachricht vom Tode Benjamins in dem unsäglichen Nazi-Hetzblatt “Der Stürmer“ ein “Einbruch von Anständigkeit“ gesteckt habe?

*1) BENJAMINS TODESNACHRICHT. War es die reine Häme? VON ERDMUT WIZISLA. AKTUALISIERT AM 26.09.2020; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/walter-benjamins-todesnachricht-im-stuermer-16971233.html?Wizisla ist Leiter des Walter Benjamin-Archivs der Berliner Akademie der Künste.

*2) Siehe: Artikel Walter Benjamin; https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Benjamin. Vgl. auch: Chemin Walter Benjamin. Geschichte einer Flucht über die Pyrenäen. 25.09.2016; https://www.deutschlandfunk.de/chemin-walter-benjamin-geschichte-einer-flucht-ueber-die.1242.de.html?

*3) Siehe Artikel Julius Streicher; https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Streicher. Zum “Stürmer“ vgl. auch: Lebendiges Museum Online; https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung/die-zeitung-der-stuermer.html.

*4) Vom Verschwinden der Täter. Von H.-Georg Lützenkirchen; https://literaturkritik.de/id/8942. NR. 1, JANUAR 2006.

*5) Marcel Reich-Ranicki. Mein Leben. Stuttgart 1999. S. 546 f.