Außenpolitik — Demokratiedefizit?

In einem Artikel über die Deutsch-Russischen Beziehungen kritisiert Außenminister Steinmeier „diejenigen, deren außenpolitisches Engagement (sich) in Dauerkommentierung von der Seitenlinie erschöpft“. *1) „Diejenigen“ wollten ihn, Steinmeier, als „Russland-Versteher“ verunglimpfen.

Eine ganz merkwürdige Aussage für den Chef der Diplomaten des Auswärtigen Amtes. Und für einen Spitzenvertreter der Sozialdemokratie, der ältesten demokratischen Partei Deutschlands. Der einzigen Partei Deutschlands, die seit ihrer Gründung 1863 für die Werte der Aufklärung, für Demokratie und Menschenrechte und für das Recht auf herrschaftsfreie politische Debatte einstand.

Steinmeier, der mehr als alle anderen Spitzenpolitiker für seine Dauerpräsenz in den Medien sorgt, urteilt herabsetzend über kritisches außenpolitisches Engagement von Bürgern: „Dauerkommentierung von der Seitenlinie“. Er unterstellt „denjenigen“ dabei wohl das Niveau mancher Zuschauer ländlicher Fußballspiele mit der typischen „Dauerkommentierung von der Seitenlinie“: „Schiedsrichter raus!“ oder nach Drohung mit Platzverweis: „Schiedsrichter, Telefon!“.

Wie ist dieser hässliche Satz Steinmeiers über Kritiker seiner Russlandpolitik erklärbar?

Schließen wir die banale Annahme aus, dass Steinmeier dazu neige, sich über öffentliche Kritik verärgert zu zeigen.

Welche Erklärung bliebe dann auf einem Politikfeld, bei dem Bürgerfragen und -kritik nicht selten eine Diktion entgegenschlägt wie: „Mangel an Sachverstand“, „Experten-Rat einholen“ sowie „Kalkulation“ und „Analyse“ als Grundlage „seriöser“ außenpolitischer „Expertise“. Das alles ist besonders im TV von rigide-gravitätischem Ernst begleitet. Als bewirke das Thema „Außenpolitik“ sofort eine Metamorphose des Sprechers.

Gerade gestern im ARD-TV („Farbe bekennen“) hielt Außenminister Steinmeier es für geboten, sich selbst zu bescheinigen: „Ich habe einen nüchternen Blick.“

Damit könnte sich ein Erklärungsversuch anbieten für Steinmeiers Umgang mit der öffentlichen Debatte über „seine“ Außenpolitik.

Eine berühmte, ehrwürdig alte These besagt, dass sich das Urteilsvermögen der Bürger im wesentlichen auf Lokal- und Steuerpolitik beschränke, weil die Bürger von solchen Politikfeldern unmittelbar betroffen sind. Zu außenpolitischen Fragen jedoch unterlägen Bürger in ihrem Mangel an Sachverstand „wechselhaften Stimmungen“ mit der resultierenden „Gefahr von Überreaktionen, beispielsweise auf die sowjetische Bedrohung“. *2)

Die „öffentliche Meinung sei in Bezug auf Außenpolitik uninformiert, instabil … äußerst unbeständig und eignet sich daher nicht als Grundlage einer guten Außenpolitik.“ *2)

Diese These ist als „Almond-Lippmann Konsensus“ *2) bekannt und geht auf Arbeiten dieser amerikanischen Forscher aus den Jahren 1922 und 1950 zurück. Aus dem „Almond-Lippmann Konsensus“ folgt, dass geringer Einfluss der Öffentlichkeit auf die Außenpolitik der Regierung „kein Schaden sei, sondern vielmehr Voraussetzung guter Diplomatie.“ *2)

Somit erscheint auf dem Gebiet der Außenpolitik ein Demokratiedefizit durchaus vorteilhaft. Wären da nicht Medien und Bürger mit ihrer geballten außenpolitischen Inkompetenz, ihrer gefühlsabhängigen Unbeständigkeit. Deshalb die Dauerpräsenz des Außenministers Steinmeier in den Medien. Um Unantastbarkeit der außenpolitischen Linie im höheren globalen Interesse durchzusetzen. Und deshalb seine Abneigung gegen außenpolitische „Dauerkommentierung von der Seitenlinie“. *1)

Was bleibt den Bürgern an der außenpolitischen „Seitenlinie“? Beugt euch dem „nüchternen Blick“, der unantastbar „seriösen außenpolitischen Expertise“ unseres Außenministers Steinmeier, der uns lehrt: „Frieden braucht Dialog — auch mit Russland.“ *1)

Und keine Ironie bitte, wenn jetzt Außenminister Steinmeier neuerdings die westliche Verteidigungspolitik zur Abrüstung auffordert. Ganz im Sinne des „Erbes von Willy Brandt“. Und auch des Erbes von Hans Jochen Vogel, der Mitte der 1980er Jahre abrüstungspolitische Ziele und Instrumente (z.B. Vereinbarung wechselseitiger Kontrollen und Verifizierung von Abkommen) an der Vorgabe „struktureller Nichtangriffsfähigkeit“ der gegnerischen Blöcke *3) orientiert hatte. Dadurch ließe sich der Frieden bewahren.

Keine ironischen Bemerkungen bitte zu Steinmeiers heutiger abrüstungspolitischer Aufforderung an die NATO. Nachdem Putin seine Streitkräfte massiv aufgerüstet, modernisiert und deren Leistungsfähigkeit bewiesen hat: bisher in Georgien, in der Ostukraine und zur Rettung des syrischen Machthabers Assad, des Massenmörders am eigenen Volk. Das zu Hunderttausenden zu uns flieht. „Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“? Da hat Putin Europa und der Welt gezeigt, was eine Harke ist.

Im Dialog mit BILD hatte Putin Anfang 2016 seine völkerrechtliche Position klargemacht: „Für mich sind nicht Grenzen und Staatsterritorien wichtig, sondern das Schicksal der Menschen.“ *4) Nach dem, was sich Putin an Verbrechen gegen das Völkerrecht in der Ostukraine leistete, eine unverhüllte Drohung gegen die baltischen NATO-Partner Estland und Lettland mit einem Anteil von je etwa 30 Prozent sowie Litauen mit 10 Prozent ethnischen Russen im Land. Dialogpartner Russland auf dem Weg zum Schurkenstaat?

Da soll Abrüstung für Deutschland und die NATO das Gebot der Zeit sein, wenn wir Außenminister Steinmeier folgen? Bleiben wir doch als NATO-Partner bequeme verteidigungspolitische „Trittbrettfahrer“ der USA. Bloß kein kostspieliges militärisches „burden sharing“, kein Ausgleich bei der verteidigungspolitischen Last. Dafür muss jedoch jetzt der außenpolitische „Dialog“ mit den USA zu härterer Gangart wechseln — schon wegen der von grün-links geschürten Kampagne gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP.

Respektvolle Kenntnisnahme sei die Haltung der Bürger zur Außenpolitik: ganz im Sinne des „Almond-Lippmann Konsensus“, keinerlei „Kommentierung von der Seitenlinie“. Verzicht auf herrschaftsfreie Debatte, wenn es um globale Verantwortung, um Außenpolitik geht, da hat die Demokratie Grenzen.

Oder etwa nicht?

*1) Die SPD weiß: Frieden braucht Dialog. Deutsch-russische Beziehungen. Ob Syrien oder die Ukraine: Es gibt Konflikte zwischen den Regierungen in Berlin und Moskau. Aber daraus darf keine Entfremdung zwischen den Völkern werden. Von Frank-Walter Steinmeier. In: Vorwärts August/September 2016, Aktuell, S. 13.

Im Internet unter: http://www.vorwaerts.de/artikel/steinmeier-frieden-braucht-dialog-russland.

Hier sei angemerkt: 140 Jahre gibt es den „Vorwärts“, die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie. Die Jubiläumsausgabe für August/September ist besonders informativ. Gerade durch die Sonderseiten zum Jubiläum 1876 – 2016 mit geschichtlichen Rückblicken und zum heutigen publizistischen Konzept.

*2) Gunther Hellmann unter Mitarbeit von Rainer Baumann und Wolfgang Wagner, Deutsche Außenpolitik. Eine Einführung. 1. Auflage Januar 2006. Wiesbaden 2006. S. 173 f.

*3) DIE ZEIT. Rückkehr zu alten Träumen. Die Sicherheitspolitik der SPD birgt viele Risiken. VON Christoph Bertram. 05. September 1986; http://www.zeit.de/1986/37/rueckkehr-zu-alten-traeumen.

*4) BILD-INTERVIEW MIT DEM RUSSISCHEN PRÄSIDENTEN. Von: NIKOLAUS BLOME, KAI DIEKMANN UND DANIEL BISKUP (FOTOS). 11.01.2016.