Bauchschmerzen.

Der Sonderparteitag der SPD mit 642 Delegierten hat gestern das Mandat für Koalitionsverhandlungen erteilt. 56 Prozent der Delegierten dafür, 44 Prozent dagegen. Zu diesem Ergebnis passt das dort oft gehörte Wort: Bauchschmerzen.

Anscheinend hypochondrische Delegierte, von Bauchschmerzen geplagt, obwohl SPD-Vorsitzender Martin Schulz und führende Sozialdemokraten eindringlich darlegten, was im Sondierungskompromiss mit der CDU/CSU für die Menschen bereits erreicht wurde:

  • Steuerliche Entlastung durch Abbau des Solidaritätszuschlags für niedrige bis mittlere Einkommen;
  • ein sozialer Arbeitsmarkt für bis zu 150 Tausend Langzeitarbeitslose, sinkende Beiträge zur Arbeitslosenversicherung;
  • eine armutsfeste Solidarrente über dem Existenzminimum der Grundsicherung für Menschen mit niedrig entlohntem Arbeitsleben;
  • Maßnahmen gegen Kinderarmut und mehr Kindergeld;
  • Rückkehr zur paritätisch finanzierten Gesetzlichen Krankenversicherung, dadurch sinkende Beiträge für Versicherte;
  • zwei Mrd. Euro zusätzlich für sozialen Wohnungsbau und Begrenzung für Mietaufschläge bei Modernisierung von Wohnungen;
  • Massive Investition in eine „sozialdemokratische Bildungskette“ — KITA, Ganztags-Grundschule, Bafög, bessere Schulen und Universitäten — durch bundesweite Abschaffung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern;
  • erweiterte Verbindlichkeit für klimapolitische Ziele;
  • Friedenspolitik gegen Aufrüstung;
  • Politik für ein „demokratisches, solidarisches und soziales Europa“.

Ohne erkennbare Wirkung appellierte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil „an die Verantwortung für Menschen, die auf uns setzen.“ Denn die lautstarke Mehrheit von Groko-Gegnern und Neuwahl-Anhängern vermisste offenbar “den großen Aufbruch gegen den globalen Neoliberalismus“.

Michael Groschek und Andrea Nahles stellten die Frage: Wie soll den Menschen das „Liegenlassen“ der sozialen Verbesserungen begründet werden? „Was ist denn etwas Großes?“ (Nahles). Andrea Nahles: „Nicht vor Neuwahlen habe ich Angst, aber vor den Fragen der Bürger! Die sehen, das meiste hätten wir machen können. Wollt ihr den Bürgern sagen, ´wir machen Neuwahlen, weil wir nicht 100 % unseres Wahlprogramms umsetzen konnten`? Die Bürger zeigen uns den Vogel!“

Die Juso- und Funktionärsmehrheit zeigte sich wenig beeindruckt. Sie wollte es wohl auf Neuwahlen ankommen lassen. „Lasst uns heute Zwerg sein, um morgen wieder ein Riese sein zu können“, versprach Juso-Chef Kevin Kühnert. Bauchschmerzen bis zum Delirium?

Gegen solche Bauchschmerzen hatte die SPD-Führung zusätzlich verschrieben:

  • sachgrundlos befristete Arbeitsverträge beenden;
  • unterschiedliche Honorare für die Behandlung von privat und gesetzlich Versicherten beseitigen;
  • Härtefall-Regelung beim Familiennachzug von Bürgerkriegs-Flüchtlingen erweitern.

Schließlich wurde das dürftige 56%-Mandat für Koalitionsverhandlungen erteilt. Ein Bild der Zerrissenheit, das sich die Bürger merken werden. Die Bauchschmerzen dauern offenbar an: „Die GroKo-Gegner werden weiterhin unterwegs sein.“ (Thomas Walde, ZDF).

Das Ausmaß der Delegierten-Opposition gegen die Empfehlung des Parteivorstands, mit CDU/CSU über eine Regierungskoalition zu verhandeln, mag überrascht haben. Die im TV zu beobachtenden Mienen und der Beifall auf Reden von GroKo-Gegnern ließen jedoch ein knappes Ergebnis erwarten. Die Delegierten, in den Bezirken der SPD-Organisation gewählt, haben gegen den Regierungskurs des Partei-Vorstands ein starkes Misstrauensvotum erklärt.

Die Mehrheit der Bürger erwartet von der Großen Koalition stabile Regierungsführung in unsicheren Zeiten. Daraus wird wohl nichts, wenn das Misstrauen gegen die GroKo in der SPD-Organisation so stark bleibt. Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Vorsitzender in Hessen, hat schon „entschiedene Fortschritte bei strittigen Themen“ eingefordert. Eine für tragfähige Kompromisse mit CDU/CSU wenig hilfreiche Festlegung, bevor die Koalitionsverhandlung überhaupt gestartet ist.

Die linken GroKo-Gegner erwarten ohnehin etwas ganz anderes: das große linke Zukunftsprojekt, den großen Aufbruch gegen Neoliberalismus statt kleiner Formelkompromisse. So etwa äußerte sich im TV Jessica Rosenthal, stellvertretende Juso-Vorsitzende.

Eine gespaltene SPD: kompromissunfähig in der Regierung, weil konsensunfähig in der eigenen Organisation?

Da bekommen auch viele Bürger Bauchschmerzen. Und obendrein Kopfschmerzen!

*) Die zitierten Aussagen wurden am TV so genau wie möglich mitgeschrieben.